„Homecoming“: Julia Roberts’ brillanter Paranoia-Thriller – Review
„Mr. Robot“-Schöpfer inszeniert hervorragenden Cast in Leinwandqualität
Rezension von Gian-Philip Andreas – 24.02.2019, 09:00 Uhr
Zu „Homecoming“ kann man mehrere erstaunliche Geschichten erzählen: darüber etwa, dass Julia Roberts hier ihre erste Serienhauptrolle spielt, oder darüber, dass die Serie auf einem narrativen Podcast basiert: Was früher mal Radio-Hörspiel genannt wurde, ist on demand längst wieder ein ernstzunehmendes Genre. Man könnte darüber sprechen, dass das halbstündige Serienformat, wie es hier gewinnbringend benutzt wird, im Drama-Segment immer größere Bedeutung gewinnt. Oder auch darüber, dass Sam Esmail, der Mann hinter „Mr. Robot“, hier auch jenseits seiner eigenen Erfolgsserie aufs Schönste demonstrieren darf, wie man kinematografisches Inszenieren fürs serielle Erzählen nutzbar macht. All diese Dinge kamen im vergangenen November, als Amazon Video die zehn Episoden abrufbar machte, zusammen und schickten „Homecoming“ als eine der originellsten Serien 2018 über die Ziellinie vieler Kritikerbestenlisten. Drei Golden-Globe-Nominierungen gab’s obendrein.
Aber gehen wir zurück zu Julia Roberts. Die ewige „Pretty Woman“, die sich trotz ihres Oscars für „Erin Brockovich“ praktisch ihre ganze bisherige Karriere lang gegen den Vorwurf wehren musste, sie sei zu schön oder zu leichtgewichtig für große Charakterrollen, ist mittlerweile auch schon über fünfzig und muss sich nicht mehr darum scheren, zur eigenen Fan-Pflege regelmäßig in seichten RomComs aufzutreten. Weil Hollywood immer weniger komplexe Storys und gute Rollen zu verteilen hat, weil das Segment des „mittelteuren“ Dramas jenseits der Franchise-Blockbuster fast gänzlich weggebrochen ist, hat sie sich nun erstmals auf eine Serie eingelassen. Und die verlangt ihr gleich eine Art Doppelrolle ab, denn „Homecoming“ spielt auf zwei Zeitebenen, in denen Roberts’ Figur Heidi Bergman komplett unterschiedliche Leben führt: das einer aufgeräumten, leicht zwangsneurotischen therapeutischen Fachbearbeiterin im brandneuen „Homecoming Transitional Support Center“ (HTSC) irgendwo in den Sümpfen bei Tampa, Florida, und das einer leicht heruntergerockten Kellnerin in einem Diner am Hafen einer unbenannten Stadt. Was dazwischen passiert ist, warum sich die Kellnerin-Heidi knapp vier Jahre später an ihr früheres Leben nicht erinnern kann, das ist das Mysterium dieser Serie. Es wird zur Halbzeit der zehn Folgen (die mit insgesamt fünf Stunden Laufzeit den Umfang einer Mini-Serie aufweisen) wie beiläufig eine große Enthüllung eingestreut, die zwar wesentliche Fragen aufklärt, aber neue aufwirft.
„Homecoming“ geht über das beliebte (zuletzt etwa in „Westworld“ oder „Better Call Saul“ benutzte) Prinzip der zwei Zeitebenen noch hinaus: Die Szenen aus der Jetztzeit der Serie, im Jahr 2022, werden im sehr selten benutzten quadratischen „Instagram“-Bildformat (1:1) eingekastelt. Im Unterschied zu gängigen Bildformaten ruft es verlässlich ein Gefühl von Klaustrophobie und Eingesperrtsein hervor. Irgendetwas stimmt nicht, denkt man. Die Flashback-Szenen mit der Therapeuten-Heidi (im Jahr 2018) hingegen schwingen aus im gängigen Widescreen; so wechselt jede Folge zwischen beiden Bildformaten hin und her, ehe es später zwei sehr bemerkenswerte (und äußerst wirkungsvolle) Momente gibt, in denen sich die Verhältnisse (auch im Wortsinn) jeweils ändern. Die formale Besonderheit erweist sich spätestens damit als mehr als ein bloßes technologisches Gimmick.
Über die meisten Soldaten im HTSC erfährt man wenig, im Mittelpunkt steht nur einer von ihnen: Walter Cruz (Stephan James, der im Kino gerade mit der James-Baldwin-Verfilmung „If Beale Street Could Talk“ reüssiert). Ihn, einen sympathischen, gut aussehenden, intelligenten jungen Mann, der im Einsatz Schreckliches erlebte, bittet Heidi immer wieder zum Gespräch: Sie erfährt Anekdoten von ihm, Geheimnisse aus dem früheren Leben, Details über Armeekollegen. Anfangs denkt man noch: Warum das alles in dieser Detailliertheit? Am Ende der Staffel ist man klüger. Die Vertrautheit, die sich zwischen Walter und Heidi einstellt, setzt – das wird rasch deutlich – jene Ereignisse in Gang, die auf das hinauslaufen, was auf der zweiten Zeitebene zu sehen ist.
In den quadratformatigen Szenen aus 2022 erfahren wir, dass Heidi nun bei ihrer Mutter Ellen lebt (Sissy Spacek, zurück aus „Castle Rock“) – und dass ein gewisser Thomas Carrasco (aus „Boardwalk Empire“: Shea Whigham), ein Bürokrat aus dem Verteidigungsministerium, einer Beschwerde gegen das „Homecoming“-Programm nachgeht. Er stößt auf Heidi – und dann auf Hinweise, die Schlimmes vermuten lassen.
Die Bedeutung des mysteriösen Blattes, das Shrier Carrasco einmal übergibt, wird bis zur letzten Folge nicht erläutert. Es könnte ein Ausgangspunkt der (bereits bestellten) zweiten Staffel von „Homecoming“ werden. Ansonsten nämlich erzählt die erste Staffel eine weitgehend abgeschlossene Handlung. Und so clever wie geduldig diese sich einem fast antiklimaktischen Finale nähert, so wenig ist der Plot selbst (den die Autoren Micah Bloomberg und Eli Horowitz ihrem eigenen Podcast nachgestalteten) das, was hier das wirklich Besondere ausmacht.
Hinzu kommt ein ausschließlich aus externer Musik bestehender Soundtrack, in dem Themen aus klassischen Thriller-Soundtracks („Dressed to Kill“, „Amityville Horror“, „Der Marathon-Mann“, „Vertigo – Aus dem Reich der Toten“, „Carrie“, „Die Unbestechlichen“, „Klute“, „Duell“, „Die Klapperschlange“ und viele mehr) mit Händel, Puccini und Ligeti sowie Indie-Rock von Eels oder Iron & Wine gemischt werden: Auch diese Tonspur trägt maßgeblich dazu bei, dass „Homecoming“ atmosphärisch ausstrahlt wie ein clever in neue Form gebrachter Wiedergänger aus der Hochzeit der Paranoia-Thriller. Keine Ahnung, wie die zweite Staffel aussehen wird – aber ich freu mich drauf!
Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „Homecoming“.
Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder:
Die zehnteilige Auftaktstaffel von „Homecoming“ wurde bei Amazons Prime Video am 22. Februar 2019 in deutscher Synchronfassung veröffentlicht und ist exklusiv dort abrufbar.
Über den Autor
Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) - gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).
Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation