Wartete mit spannenden Premieren auf: Das 42. Filmfest München.
Bild: Christopher Diekhaus
Mittlerweile sind Filmfestivals längst nicht mehr ausschließlich Präsentationsorte für frische Kinowerke. Immer öfter tauchen in einem solchen Rahmen auch neue Fernseh- und Streamingproduktionen auf. In München, wo vom 27. Juni bis zum 6. Juli das alljährliche Filmfest (nach der Berlinale das zweitwichtigste der Republik) über die Bühne ging, gibt es dafür eine eigene Reihe namens „Neues Deutsches Fernsehen“.
Was dabei durchaus überraschte: Gleich mehrere der eingeladenen Produktionen verhandeln ein Thema, das im deutschen TV- und Streamingalltag eher selten aufgegriffen wird: psychische Probleme bei jungen Menschen. Nachfolgend bündeln wir ein paar Eindrücke und Einschätzungen von verschiedenen Premieren.
Cast und Macher von „Miss Sophie – Same Procedure as Every Year“ auf der Bühne Christopher Diekhaus
„Miss Sophie – Same Procedure as Every Year“ oder: ein Reinfall mit Ansage
Ein Prequel zum legendären Silvestersketch „Dinner for One“ – brauchte es das wirklich? Oder anders gefragt: War es nicht ganz schön verwegen, einen derart tief in der deutschen Fernsehkultur verankerten Klassiker erzählerisch zu ergänzen? Wer wollte ernsthaft wissen, was es mit den vier imaginären Geburtstagsgästen der betagten Miss Sophie auf sich hat, die Butler James im Laufe des Abends verkörpern muss? Eben dieser Frage geht die hauptsächlich im Jahr 1919 spielende Prime-Video-Serie „Miss Sophie – Same Procedure as Every Year“ nach, die sich mit ihrer Hochglanzaufmachung maximal vom Originalformat abgrenzt.
Die junge Miss Sophie (Alicia von Rittberg) steckt hier einige Jahre, nachdem ihre große Liebe James (Kostja Ullmann) durch eine Intrige aus dem Familiensitz vertrieben wurde, in Geldnöten und beschließt, nach einem zahlungskräftigen Ehemann zu suchen. Zur Wahl stehen der Brite Mr. Winterbottom (Frederick Lau), der Franzose Mr. Pommeroy (Moritz Bleibtreu), der Amerikaner Sir Toby (Jacob Matschenz) und der Preuße Admiral von Schneider (Christoph Schechinger). Doch eigentlich gehört ihr Herz noch immer James, dem Sohn ihres treuen Butlers Mortimer (Ulrich Noethen).
Christopher Diekhaus/Plakat: Prime Video
Die in München gezeigten ersten drei Folgen bestätigen die vorherige Skepsis auf ganzer Linie. Trotz eines lässigen Tonfalls mit „Bridgerton“-Anklängen und spielfreudiger Darsteller entpuppt sich das Ganze als pseudowitzige Nummernrevue, die ohne großen Hintersinn alle möglichen Länderklischees durch den Fleischwolf dreht. Vom Premierenpublikum gab es zu Recht nur verhaltenen Applaus. Auch wenn die restlichen drei Episoden manchen Figuren noch unerwartete Entwicklungen bescheren sollen – an einen Turnaround mag man nur schwer glauben. Genaueres wissen wir, wenn das Prequel rund um Weihnachten 2025 auf Prime Video an den Start geht.
„Neue Geschichten vom Pumuckl“ bleibt grundsympathisch
Dass Kultstoffe mit etwas Fingerspitzengefühl sehr wohl überzeugend neu aufgelegt werden können, stellte 2023 die für RTL+ entstandene Produktion „Neue Geschichten vom Pumuckl“ unter Beweis. Den Geist des Originals wahrend und Hans Clarins ikonische Koboldstimme dank KI wiederbelebend, fand das Sequel zu „Meister Eder und sein Pumuckl“ bei Kritikern und Zuschauern gleichermaßen Anklang.
Charmant präsentieren sich auch die drei in München vorgeführten Folgen der zweiten Staffel. Eine Episode nimmt sich sogar des Themas „Mobbing“ an und wirft die Frage auf, ob sich Menschen nachhaltig verändern können. Das im Saal anwesende Kinderpublikum ließ sich vor allem von den Slapstickeinlagen des kleinen Titelhelden mitreißen. Was bei Charlie Chaplin funktionierte, klappt anno 2025 natürlich auch beim Pumuckl.
Der gut aufgelegte Moderator Tim Gailus vor dem Screening von „Neue Geschichten vom Pumuckl“ Christopher Diekhaus
„Euphorie“ euphorisch gefeiert
Erhöhte Gefahr, ins Klo zu greifen, bestand bei der ebenfalls von RTL+ in Auftrag gegebenen Serie „Euphorie“, die auf dem knapp 13 Jahre alten israelischen Teenagerdrama „Euphoria“ basiert. Bekannt ist hierzulande in erster Linie die US-amerikanische HBO-Adaption gleichen Namens mit Shootingstar Zendaya. Von dieser wollten und mussten sich die deutschen Macher rund um Lennart Pohlig allerdings erzählerisch abgrenzen, da sie lediglich die Rechte an der Originalversion erworben hatten.
In „Euphorie“ kehrt die 16-jährige Mila (Derya Akyol) nach einem längeren Aufenthalt in der Jugendpsychiatrie in ihr altes Leben zurück. Eigentlich möchte sie nur noch mit der geheimnisvollen Ali (Sira-Anna Faal) zusammen sein, die sie während ihrer Zeit in Behandlung kennenlernte. Doch seltsamerweise fehlt von der Mitpatientin zunächst jede Spur. Gefallen findet Mila schließlich auch am drogensüchtigen Jungschauspieler Jannis (Eren M. Güvercin), der ebenso wie sie mit der Welt und seinem Leben überfordert ist.
Tolle Jungschauspieler, wahrhaftige Emotionen, ein guter Blick für die dargestellten psychischen Leiden, wechselnde Erzählerinnenstimmen und unkonventionelle Inszenierungskniffe wie eine direkte Ansprache des Publikums und eine Animationssequenz, die die Gefühle einer Borderline-Patientin greifbar machen soll – wider Erwarten entpuppte sich „Euphorie“ als eines der Highlights der Fernsehsektion auf dem Filmfest München. Kein Wunder, dass nach dem Screening bei einer Umfrage, wer nach den drei gezeigten Folgen weiterschauen würde, gefühlt alle Hände im Saal nach oben schnellten. Ab Herbst 2025 besteht dazu die Möglichkeit!
Hauptdarstellerin Derya Akyol (Mitte) und die kreativen Köpfe von „Euphorie“ Christopher Diekhaus
„Stabil“ und „Schattenseite“ – Teenage Angst im Auftrag der ARD
Thematisch nah bei „Euphorie“ ist die ARD-Serie „Stabil“. Deren Hauptsetting: eine Jugendpsychiatrie, in der die von großen Schuldgefühlen geplagte Protagonistin Greta (Luna Mwezi) nach einem Selbstmordversuch unterkommt. Auch hier sorgen eindringliche und vor allem authentisch wirkende Darstellerleistungen für eine ungeahnte emotionale Kraft. Wenngleich „Euphorie“ etwas tiefschürfender und mutiger daherkommt, muss man konstatieren: Selten transportierte eine ARD-Produktion junge Befindlichkeiten, Ängste und Nöte so mitreißend wie hier. Angedachter Start: Herbst 2025.
Für das Erste produziert wurde auch die Miniserie „Schattenseite“, die die Teenagerin Nola (Samirah Breuer) von Berlin in eine Kleinstadt irgendwo in Brandenburg führt. In der neuen Schule freundet sie sich rasch mit Corvin (Florian Geißelmann) an. Doch dann erschüttern pikante Enthüllungen – Chats, Nacktfotos und Videos – die Welt der Jugendlichen. Ausgerechnet Corvin steht schnell in Verdacht, die mysteriöse Website Schattenseite zu betreiben und seine Mitschüler auf perfide Weise zu erpressen. Wer seine dunklen Geheimnisse für sich behalten will, muss unschöne Wahrheiten über eine andere Person verraten.
Spätestens diese Young-Adult-Geschichte unterstreicht: Fähige deutsche Nachwuchsschauspieler gibt es zuhauf, man muss halt nur den Mut haben, sie zu besetzen. Auch hier bestechen die Darsteller durch die Bank mit Natürlichkeit. Verglichen mit „Euphorie“ und „Stabil“ geht „Schattenseite“ etwas weniger unter die Haut, ist dafür aber druckvoll inszeniert. So, wie man es von „4 Blocks“-Regisseur Özgür Yildirim kennt. Inhaltliche Ähnlichkeiten hat der ARD-Thriller, eine Adaption des gleichnamigen Bestsellers von Social-Media-Star Jonas Ems, übrigens mit der britischen Horrorserie „Red Rose“, die bei Netflix verfügbar ist.
Kaum Erhellendes gab es nach dem „Brick“-Screening zu hören Christopher Diekhaus
Another „Brick“ in the Wall
Fernseh- und Streamingfilme zählten in diesem Jahr einmal mehr ebenso zum Filmfestportfolio. Mit Spannung erwartet wurde insbesondere das Netflix-Original „Brick“ mit Matthias Schweighöfer und seiner Lebensgefährtin Ruby O. Fee in den Hauptrollen. Der in der Corona-Zeit aus eigenen Erfahrungen des Regisseurs Philip Koch geborene Mystery-Thriller lockt mit einer spaßigen High-Concept-Prämisse: Das seit einem Schicksalsschlag in einer Krise steckende Pärchen Olivia und Tim kann eines Morgens seine Wohnung nicht mehr verlassen, da eine über Nacht aufgetauchte schwarze Wand den Weg nach draußen versperrt. Beim Versuch, sich aus dem Gefängnis zu befreien, trifft das entfremdete Duo auf andere Besucher und Bewohner des Hauses.
Christopher Diekhaus/Plakat: Netflix
„Brick“ erfindet das Genre keineswegs neu und kommt mit einer Auflösung ohne großen Wow-Effekt um die Ecke. Schweighöfer und Fee transportieren jedoch, oft gefilmt in extrem nahen, die klaustrophobische Stimmung betonenden Einstellungen, glaubhaft die Panik und die Wut ihrer Figuren. Etwas schade: Beim Q&A im Anschluss an die Weltpremiere fehlte das gewisse Etwas. Ungeschickt gestellte Fragen des Moderators trafen auf einsilbige Antworten der Darsteller. Außer Frederick Lau, der mehrfach das Wort ergriff und frei von der Leber sprach, schien der anwesende Cast froh zu sein, als er die Bühne wieder verlassen konnte. Selbst Schweighöfers Appell, in Deutschland mehr Genrefilme wie „Brick“ zu wagen, fühlte sich merkwürdig leidenschaftslos an. Da hatte der am 10. Juli bei Netflix startende Film dann doch etwas mehr zu bieten.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.
"der Amerikaner Sir Toby" - spätestens da weiß man, dass das ganze nur schief gegangen sein kann.
Martina (geb. 1978) am
Genau das war auch mein Gedanke! Un warum sollte ein Franzose als Mr Pommeroy angesprochen werden, statt Monsieur? Miss Sophie kommt immerhin aus höheren Kreisen. 😉