Ermittelt im Gestrüpp der ungezähmten Wildnis: Special Agent Kyle Turner (Eric Bana) in einer unwegsamen Ecke des Yosemite-Nationalparks
Bild: Netflix
Für diesen Netflix-Sechsteiler sollte man so viele Zoll wie möglich in seiner Bildschirmdiagonale haben – nicht etwa, weil der Plot so vielschichtig wäre, sondern weil der Schauplatz so atemberaubend ist. Das Mystery-Thrillerdrama „Untamed“ spielt im ostkalifornischen Yosemite-Nationalpark, zwischen prächtigen Gipfeln, wilden Wäldern und reißenden Wasserfällen. Dazu gibt’s Eric Bana hoch zu Ross und mit Lily Santiago eine wunderbare Neuentdeckung. Die Handlung des Whodunnit-Krimis kann allerdings nicht ganz mithalten.
Für die Einstiegsszene braucht es eine gewisse Schwindelfreiheit: Da kraxeln zwei Männer die berühmt-berüchtigte, annähernd senkrecht emporragende Steilwand des El Capitan hinauf. Die Flanken des Granitfelsens sind weltweit beliebt bei Kletterern und eine der größten Sehenswürdigkeiten im Yosemite-Nationalpark. Fast am Gipfel angekommen, fällt ihnen urplötzlich eine Leiche ins Seil. Beinahe reißt sie die Tote in den Abgrund – ein harter Schock. Wurde das Teenagermädchen mit dem eintätowierten goldenen X am Handgelenk von jemandem hinabgestoßen oder ist sie freiwillig gesprungen? War sie womöglich schon vorher tot oder starb sie erst beim Aufprall auf einen der Felsvorsprünge? Am Bein findet sich eine Schussverletzung.
Der schweißtreibende Prolog am El Capitan ist ein vielversprechender Auftakt für diese neue Miniserie, mit der Netflix erkennbar im Revier von Qualitätskrimi-Mehrteilern wie „Mare of Easttown“ oder „True Detective“ wildern möchte. Schauplatz ist keine Großstadt, sondern eines der beliebtesten Erholungsareale der USA: der über 3.000 Quadratkilometer große Yosemite-Park am Westrand der Sierra Nevada. Das Regieteam um Thomas Bezucha (der an der famosen letzten „Fargo“-Staffel beteiligt war) und den wildniserfahrenen Kameramann Michael McDonough („Winter’s Bone“) lässt immer wieder Drohnen über das hier idyllische, dort schroffe Gelände sausen: Alles sieht so malerisch aus, dass man geneigt wäre, sofort einen Wanderurlaub in Yosemite zu buchen, wenn nicht, ja, wenn im Verlauf der sechs Folgen nicht ständig neue Leichen aus dem Areal gekarrt werden müssten.
Die beste Figur der Serie: Naya Vasquez (Lily Santiago) kam aus Los Angeles nach Yosemite. Netflix
Das Vater-Tochter-Autorengespann Mark L. Smith und Elle Smith wissen jedenfalls, wie Qualitätskrimis heutzutage ausgestattet sein müssen: Das Leben der (grundsätzlich psychisch schwer angeschlagenen) Ermittler muss mit dem aufzuklärenden Fall eng zusammenhängen, es muss (um die dramatische Fallhöhe so groß wie nur möglich zu ziehen) um das Wohl von kleinen Kindern gehen, Trauer muss eine große Rolle spielen, dazu gescheiterte Beziehungen und kleine (ganz kleine) Momente der Hoffnung. All das ist dementsprechend drin in „Untamed“ – und dafür, dass es sich um eine ganz neu erfundene Geschichte handelt, also nicht auf einer Vorlage beruht, gebührt der Produktion im Zeitalter des Markenmelkens ganz grundsätzlich Respekt. Vater Smith bringt zudem eine gewisse Expertise in Sachen US-amerikanischer Wildnis mit: Als Co-Autor schickte er einst Leonardo DiCaprio in „The Revenant“ in die Trapper-Hölle, neulich erst sorgte er mit der Western-Miniserie „American Primeval“ für düsteres Kriegsgemetzel in Utah. Ganz so heftig wird es diesmal aber nicht.
Als Chefermittler im erwähnten Todesfall fungiert Kyle Turner, ein Bundesagent des sogenannten ISB. Der Investigative Service Branch ist für die Aufklärung von Verbrechen in den (dem US-Innenministerium unterstellten) Nationalparks zuständig – auf die jüngst von der Trump-Regierung verordneten rabiaten Kürzungen im Bereich der Nationalparkpflege geht die Serie aber nicht ein. Der attraktiv ergraute Eric Bana („Dirty John“, „München“) spielt den Special Agent zu Beginn fast übertrieben unnahbar und arrogant, vor allem gegenüber den Rangern, den eigentlichen Ordnungshütern im Park. Die werden in der Serie verkörpert vom alteingesessenen Milch (William Smillie aus „Dark Matter“), dem indigenen Jay (Raoul Max Trujillo, „Apocalypto“) und vor allem einem jungen Neuzugang: Naya Vasquez (Lily Santiago) ist mit ihrem vierjährigen Sohn frisch aus Los Angeles nach Yosemite gekommen, ihre Cop-Karriere beim LAPD hat sie gegen den Ranger-Job eingetauscht. Warum, wird erst später klar. Darstellerin Santiago mag Sci-Fi-Allesguckern aus der mäßigen Zeitreise-Serie „La Brea“ bekannt sein, „Untamed“ aber wird hoffentlich ihr Durchbruch werden: Schauspielerisch ist sie das Highlight der Serie. Stellvertretend für uns blicken ihre Augen auf die für sie und uns noch unbekannten Abläufe und Vorgänge im Park. Vasquez’ Panik, ihre Wut, ihre Gewieftheit, ihr sarkastischer Witz und ihre Zärtlichkeit bilden das Zentrum der Geschichte und es ist dem Autorenduo hoch anzurechnen, dass sie zwischen ihr und Agent Turner keine billige Liebesgeschichte anzetteln.
Dennoch nähern sich die Rangerin und der Agent, die bald zusammenarbeiten müssen, als Veteran-und-Rookie-Duo, schon sehr bald an: Der unwirsche Unsympath wird immer nahbarer auf der gemeinsamen Suche nach Hinweisen auf das mysteriöse Schicksal der (noch) unbekannten Toten. Vasquez muss mit Turner zu Pferde durch den Park reiten, um auch an jene Orte zu kommen, die kein Touristenjeep jemals erreichen würde: zum illegalen Camp einer Aussteigersekte, in stillgelegte Goldminen oder zu den temporären Lagern des Wildhüters Shane Maguire (dubios wie so oft: Wilson Bethel aus „Hart of Dixie“ und „Generation Kill“). Bald kommen auch noch fiese Verbrecher ins Spiel, während Vasquez fast einem Bären in die Tatzen läuft. Später klemmt sie einmal sogar in einer mit Wasser volllaufenden Bergspalte fest: keine Sequenz für Klaustrophobiker!
Der Agent und sein Mentor: Chef-Ranger Paul Souter (Sam Neill, l.) verströmt väterliche Zuverlässigkeit. Netflix
Während der Ermittlungen wird deutlich, dass die Suche nach den Hintergründen des Todesfalls lediglich den Hintergrund abgibt für das Drama, um das es eigentlich geht: Kyle Turner nämlich ist ein Mann im Auflösungsprozess. Ein tragisches Ereignis, das wir nicht verraten dürfen, obwohl es meilenweit gegen den Wind erschnüffelbar ist, hat ihn aus der Bahn geworfen und seine Ehe ruiniert. Ex-Gattin Jill (Rosemarie DeWitt aus „Rachels Hochzeit“) lebt inzwischen mit einem braven Zahnarzt zusammen (Josh Randall aus „Deckname Quarry“ in unterfordernder Rolle) zusammen, kann sich von Kyle aber dennoch nicht vollständig lösen. Kyle lebt derweil in einer provisorischen Hütte vor sich hin und spricht dem Alkohol zu. Die beständig geleerten Bourbonflaschen deuten auf ein schwerwiegendes Problem hin, das sich an Gesicht und Körper des makellos fitten Mittfünfzigers Bana freilich in keiner Weise ablesen lässt.
Wie es das Plot-Schicksal will, haben die persönliche Tragödie und ihre drastischen Folgeereignisse auch mit dem aktuell zu lösenden Fall zu tun. Eine aufdringliche Versicherungsfrau tritt auf den Plan (Nicola Correia-Damude aus „Shadowhunters“), sedimentierte Schuldschichten brechen auf, und in der letzten Episode haut uns das Skript gleich zwei große Twists um die Ohren, deren Überraschungspotenzial sich allerdings in Grenzen hält angesichts der geringen Anzahl von Verdächtigen, die über die sechs Episoden hinweg kennengelernt werden konnten.
Doch wie gesagt: Um den Fall geht es nur sekundär, obwohl die Serie den Gepflogenheiten herkömmlicher Whodunnit-Krimis durchaus folgt. „Untamed“ will ein Charakterdrama von tragischem Ausmaß sein. Die Serie will von Schuld erzählen, von Tod und Trauer und noch dazu dem indigenen Umgang damit (die Miwok nannten die ersten Bewohner der Gegend: Yosemi’te). Dafür aber ist das Gerüst der Story am Ende zu klapprig: Weder das persönliche Drama von Kyle und Jill noch die davon abgeleitete Tragödie des jungen Todesopfers präsentieren sich am Ende so vielschichtig, wie es die Autoren gerne hätten. Auf dem Weg zur Auflösung setzen sie noch dazu viel zu oft auf Last-Second-Rettungsaktionen. Spätestens jene in der Schlussepisode, mitten in der Nacht, irgendwo im Nirgendwo des riesigen Areals, überstrapaziert jede Glaubwürdigkeit.
Ein herrlicher Arbeitsplatz – wenn nur die Leichen nicht wären! Turner und Vasquez reiten durch Yosemite. Netflix
Enttäuschend ist auch, dass viele der Figuren so nachlässig behandelt werden. Alex Castillo („Rabbit Hole“) zum Beispiel spielt eine Hotelangestellte, mit der Kyle eine Affäre hat: Sie hat im Grunde eine Szene und spielt dann keine Rolle mehr. JD Pardo („Revolution“) wird als Vasquez’ stalkender Ex-Partner (und Vater ihres Kindes) erst mit Wucht aufgebaut, um später dann innerhalb einer Sekunde als Figur zu implodieren. Ähnlich profillos geistern auch die anderen Ranger durch den Plot. Am problematischsten ist das sicher im Fall von Chef-Ranger Paul Souter, gespielt immerhin vom neuseeländischen Leinwand-Veteranen Sam Neill („Jurassic Park“, „Wo die wilden Menschen jagen“). Der muss fünf Episoden lang, in eher kurzen Szenen, Kyles väterlichen Mentor spielen, um dann in der sechsten Folge jäh ins Lenkrad der Handlung zu greifen: Da quietschen die Plot-Scharniere vernehmlich, und Neill hat nachvollziehbare Mühe, das Ganze via Erklärmonolog plausibel zu machen.
Trotz dieser Vorbehalte ist „Untamed“ des Ansehens wert. Grund dafür ist vor allem das ungewöhnliche Setting, das auf größtmöglichen Bildschirmen absolut imponiert. Gedreht wurde in Yosemite selbst, aber auch viel in und um Vancouver und sogar in Australien, der Heimat des Hauptdarstellers: Erstaunlicherweise fügen sich diese unterschiedlichen Bildquellen bestens ineinander. „Untamed“ sieht absolut fantastisch aus. Förderlich ist zudem, dass es nie langweilig wird – tatsächlich handelt es sich hier um einen dieser raren Fälle, in denen es für das Große und Ganze mutmaßlich förderlich gewesen wäre, hätte es ein paar mehr Episoden gegeben, für zusätzliche Figuren oder ein tieferes Ausloten der bisherigen.
Aber geht vielleicht in Zukunft noch mehr? Wie immer ist es nach so stark mit dem persönlichen Leben des Ermittlers verwobenen Miniserien eigentlich nur schwer vorstellbar, dass das Ganze in weiteren Staffeln auf andere Fälle ausgeweitet werden könnte. In diesem Fall aber wäre ein neuer Yosemite-Fall mit der nicht vorbelasteten Vasquez als Protagonistin ein durchaus gangbarer Weg.
Dieser Text basiert auf der Sichtung aller sechs Episoden der Miniserie „Untamed“.
Meine Wertung: 3,5/5
Die Miniserie „Untamed“ wurde am 17. Juli mit allen Episoden bei Netflix veröffentlicht.
Über den Autor
Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) - gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).
Eric Bana, der vom Aussehen her perfekt in die schöne Landschaft passt. Im Ernst, die Bilder sind wirklich sehr schön, sie bieten eine Abwechslung zu den sonstigen Großstädten. Ich bin sehr gespannt. Ich werde die Kritik erst nach der Sichtung in Ruhe durchlesen, damit ich die Serie ganz unvoreingenommen genießen kann.