„Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“ mit Lauren Lyle verzichtet auf Sozialkunde und Serienmörder – Review

Humor, Spannung und schottisches Flair prägen Krimi nach Bestseller von Val McDermid

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 23.07.2023, 12:36 Uhr

DS Karen Pirie (Lauren Lyle) und ihr Assistent DC Jason Murray (Chris Jenks) ermitteln in einem alten Mordfall. – Bild: ZDF / Ryan Kernaghan
DS Karen Pirie (Lauren Lyle) und ihr Assistent DC Jason Murray (Chris Jenks) ermitteln in einem alten Mordfall.

Der Sozialkundeunterricht und die Witzeparade bleiben im „Tatort“: Sie haben nichts im neuen Dreiteiler aus dem Vereinigten Königreich zu suchen. Ebenso pausieren skurrile Typen aus „Inspector Barnaby“ und Serienmörder zum Beispiel aus „Mindhunter“. Wie bei Agatha Christie lautet die entscheidende Frage: Wer hat es getan? Ein Bestseller von Val McDermid liefert die Vorlage für „Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“. Bei den Briten ist die Verfilmung eingeschlagen, sodass der Sender ITV eine Fortsetzung bestellt hat. Ein Jahr nach der Premiere kann der Auftakt zur Reihe jetzt das deutsche Publikum beeindrucken – in jeweils knapp 90 Minuten am späten Sonntagabend im ZDF. Auf Anweisung wirft Detective Sergeant Karen Pirie einen Blick in die Akten eines Falls, der vor 25 Jahren den schottischen Küstenort St. Andrews aufgeregt hat. Die Ermittlungen zum Tod einer Kellnerin führen zu unerwarteten Konsequenzen.

Rosie stirbt während der Fußball-EM

1996 feiern Fans in einem schottischen Pub eine Übertragung von der Fußball-Europameisterschaft. Rosie Duff (Anna Russel-Martin) bedient die Gäste. Die Kellnerin scherzt etwa mit ihren Brüdern Colin (Daniel Portman, „Game of Thrones“) und Brian (Josh Whitelaw). Wie üblich bewachen die beiden Kerle ihre kleine Schwester. Colin beobachtet wütend, dass ein Student das Mädchen anmacht. Dann verlässt dieser Schwerenöter Ziggy Malkiewicz (Jhon Lumsden) die Kneipe: In guter Stimmung wandert er zusammen mit Alex Gilby (Buom Tihngang) und Weird Mackie (Jack Hesketh) auf eine Party.

Rosie entrinnt der familiären Kontrolle, um insgeheim einen Mann zu treffen. Irgendwo im Städtchen St. Andrews faltet PC Janice Hogg (Gemma McElhinney) den besoffenen Colin zusammen. Anschließend läuft ihr Ziggy vor das Auto. Mit blutigen Händen stammelt er: Rufen Sie einen Krankenwagen – sie stirbt!. Die Polizistin erkennt die leblose Rosie auf dem nahen Friedhof einer Kirchenruine. Janice kann nicht mehr helfen. Sind Ziggy und seine beiden Begleiter am offensichtlichen Mord beteiligt?

Ein Podcast wirbelt Staub auf

Ein Vierteljahrhundert später stört ein Podcast die Ruhe in der schönen Küstenregion: Am 27. Juni 1996 wurde hier die 19-jährige Barkeeperin namens Rosie Duff stranguliert und mit aufgeschnittenem Bauch verblutend im Gras zurückgelassen. Über Internet verlangt Bel Richmond (Rakhee Thakrar,„Sex Education“) Gerechtigkeit. Führungskräfte der regionalen Polizei schmollen wegen der Vorwürfe. Andererseits wittern sie eine Chance, ihr Image als angebliche Feministen zu polieren. CSI Jimmy Lawson (Stuart Bowman, „Versailles“) und DI Simon Lees (Steve John Shepherd, „EastEnders“) planen, oberflächlich zu ermitteln und dafür eine Frau einzusetzen. So erhält DS Karen Pirie (Lauren Lyle, „Outlander“) die Beförderung, die ihr Kollege und zeitweiliger Lover DS Phil Parhatka (Zach Wyatt, „The Witcher: Blood Origin“) erwartet hat.

1996 wird Rosie (Anna Russell-Martin) auf dem Friedhof neben einer Kirchenruine aufgefunden – und PC Janice Hogg (Gemma McElhinney) kann ihr nicht helfen. ZDF /​ Ryan Kerneghan

Grünschnabel hilft junger Chefin

DI Simon Lees begrüßt die junge Mitarbeiterin in der Abteilung für Kapitalverbrechen: Wir haben keine Zeit zu verschwenden. Da platzt es aus Karen heraus: Nein, waren bis jetzt ja nur 26 Jahre. Erst langsam durchschaut sie das Spiel. Ohnehin staunt sie, dass lediglich eine weitere Person zu ihrem Team gehört. Zusammen mit Grünschnabel DC Jason Murray (Chris Jenks) gräbt die Kriminalbeamtin im erkalteten Fall. Das Duo nimmt frühere Verdächtige ins Visier. Ziggy (Alec Newman, „Strike Back“) ist schwul und hat Karriere als Chirurg gemacht. Der Künstler Alex (Ariyon Bakare, „Carnival Row“) will seit den schrecklichen Ereignissen nicht öffentlich auffallen und wird demnächst Vater. Tom (Michael Shaeffer) ist unter seinem Spitznamen Weird bekannt – nach Experimenten mit Drogen ist der heutige Dozent für Geschichte brav geworden.

Alibis aus der Vergangenheit zerbrechen

Die damalige Polizistin Janice (Gail Watson, „River City“) hat Colin Duff (Gerry Lynch) geheiratet. Als Teenager hatte seine Schwester ein Kind geboren, das angeblich nicht überlebte. Damals hatte er den vermeintlichen Vater des Babys verprügelt. Nach Rosies Tod misshandelte er ebenso Ziggy. Die adoptierte Tochter wohnt unter dem Namen Grace Galloway (Bobby Rainsbury) auf einer einsamen Farm. Trotz des beruflichen Erfolges kapituliert Ziggy vor seinen Ängsten. Deshalb will er einige Wahrheiten verraten. Karen und ihr Assistent Jason profitieren nicht von der Offenheit, weil der Arzt von einem Auto überrollt wird. Alibis aus der Vergangenheit zerbrechen. Der Tod klopft bei weiteren Beteiligten an die Tür. Irgendein Dunkelmann versucht, die Untersuchung zu behindern.

DS Karen Pirie (Lauren Lyle) und ihr Kollege DS Phil Parhatka (Zach Wyatt) verbindet nicht alleine der Job. ZDF /​ Ryan Kerneghan

Was gibt es zu meckern?

Es gibt nur wenig zu meckern bei dieser Serie. In Westeuropa ist die brüderliche Kontrolle von Rosie aus der Zeit gefallen – zumal das Mädchen sehr bestimmt aufgetreten ist. Wie der Roman enthält die Fernsehfassung überflüssige Längen, obwohl Drehbuchautorin Emer Kenny die Handlung gestrafft hat. Dennoch entsteht keine Langeweile. Entsprechend den TV-Gewohnheiten steht eine Heldenfigur im Mittelpunkt. Val McDermid beachtet im Bestseller die Ermittlerin Karen Pirie weniger als die Verdächtigen. Sie hat sogar vier Studenten als mögliche Mörder oder Zeugen erfunden. Im Fernsehen sind Alex, Tom und Ziggy übriggeblieben. Für einige Geschmäcker thematisiert das weibliche Kreativteam die Rolle der Frauen zu intensiv. Allerdings verdienen die Probleme durch Gewalt gegen Frauen mehr Beachtung.

Gesellschaftskritik und Unterhaltung

Trotzdem ist „Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“ nicht mit einem Kurs an der Volkshochschule zu verwechseln. Anders als in etlichen Produktionen aus Deutschland fehlt der Ton eines Oberlehrers. Selten erreicht ein hiesiger Krimi solch ein hohes Niveau. Aus vielen guten Gründen hält der Erfolg von „Tatort“ und „Wilsberg“ an. Doch anders als diese Dauerbrenner spielt „Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“ in der internationalen Oberliga. Geschmackssache? Kein Widerspruch!

Geschickt hat Regisseurin Gareth Bryn Missstände bei der Polizei bereits in „Line of Duty“ aufgegriffen. Gemeinsam mit Emer Kenny für das Drehbuch und den weiteren Kolleginnen und Kollegen beleuchtet sie nun Sexismus gegenüber erfolgreichen Frauen. Zudem lässt sich Rosie nicht in die endlose Reihe machtloser TV-Opfer mit miesem Ruf pressen. Sie ist weder mit Alice Monroe aus „The Fall“ noch mit Dora Lange aus „True Detective“ zu vergleichen. Sie hat einen Charakter und ein Leben, erklärt Emer Kenny in The Guardian. Ich glaube nicht, dass es darum geht, tote Frauen zur Unterhaltung zu beobachten, kritisiert sie übliche Inszenierungen und erinnert an reale Verbrechen: Als ich das schrieb, drehten sich die Nachrichten nur um Sarah Everard.

Mit dieser schrecklichen Nachricht haben DS Karen Pirie (Lauren Lyle) und DS Phil Parhatka (Zach Wyatt) nicht gerechnet. ZDF /​ ITV

Kreativteam verzichtet auf Serientäter und billige Effekte

„Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“ bewegt die Zuschauerinnen und Zuschauer ohne billige Effekte. Gleichwohl endet jede Folge mit eindrucksvollen Bildern und packenden Worten. Zumindest die erste Staffel verzichtet auf einen Serienmörder – welche Erholung nach all den wahnsinnigen Killern im TV-Programm! Der originelle Vorspann weckt hohe Erwartungen. Stephanie Taylor ergänzt mitreißende Musik in den Episoden.

Humor und Spannung vermitteln traumatische Erfahrungen

Humor erleichtert den Zugang zu den düsteren Ereignissen. Indes versteht nicht jede Zuschauerin oder jeder Zuschauer versteckten Spott. Ich habe keine Ahnung, wie das geht, spekuliert Karen über Gründe für ihren Karriereschub. Tu einfach so, als ob, antwortet eine Freundin, das machen Alle. Vergnügen bereiten Karens Kabbeleien mit ihrem Assistenten Jason oder mit ihrem besonderen Freund Phil. Tolles Timing und eingehender Rhythmus verstärken die Spannung. Bemerkenswert, dass die Übersicht zwischen zwei Zeitebenen und zusätzlichen Rückblenden erhalten bleibt. Nicht zuletzt dank schauspielerischer Talente haften die Figuren im Gedächtnis. Sogar das traumatische Umfeld der Opfer von Gewalt ist zu begreifen.

Ermittlerin weckt mehr Interesse als ein Drahtzieher

Wir erleben eine geerdete Ermittlerin, die dem Männer-Club Paroli bietet. Die Serie funktioniert ohne britische Spleens. Mit nicht mal 30 Jahren hat Karen vielleicht die Gelegenheit gefehlt, Neurosen oder in ihrer Branche beliebte Süchte zu entwickeln. Mal abwarten, was in den Fortsetzungen geschehen wird. Wer vermisst solche Gimmicks, wenn einem die Landschaft der Region Fife den Atem raubt? Die Konflikte und Geheimnisse wecken mehr Interesse als ein möglicher Drahtzieher.

Verfolgen wir wichtige Themen in moderner und ungewohnter Form

ITV hat den Krimi nicht neu erfunden. Mit sogenannten „starken Frauen“ prahlt jeder Sender. Zum Beispiel in „Vigil – Tod auf hoher See“ hat eine Berufskollegin von Karen einen Einsatz auf einem U-Boot gemeistert. Übrigens haben Lauren Lyle, Chris Jenks und Daniel Portman in diesem Thriller mitgewirkt. Probleme wie Sexismus finden immer wieder den Weg auf die Bildschirme. „Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“ behandelt den Stoff in moderner und ungewohnter Form. Hoffentlich teilt das ZDF-Publikum die Begeisterung der Briten.

Dieser Text beruht auf der Sichtung des gesamten Dreiteilers von „Karen Pirie – Echo einer Mordnacht“.

Meine Wertung: 4/​5

Das ZDF zeigt die erste Episode „Der Fall Rosie Duff“ am 23. Juli um 22:15 Uhr – auf dem Stammplatz für internationale Krimis am späten Sonntagabend. Eine Woche später folgt um die gleiche Uhrzeit die Fortsetzung der Geschichte: „Das große Lügen“. Am 6. August beendet „Späte Sühne“ die erste Staffel. Nach der jeweiligen Ausstrahlung stehen die Folgen für 30 Tage in der ZDFmediathek bereit. Zusätzlich bietet MagentaTV alle Episoden ab dem 1. August an.

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am via tvforen.de

    Man musste sich schon konzentrieren bei den vielen Rückblenden - für meinen Geschmack etwas zu viel - aber die dritte Folge mit der Auflösung war dann doch wieder befriedigend. Insgesamt kein Totalausfall, auch wenn es wesentlich bessere BritCrime-Serien gibt (z.B. Grace, Dalgliesh, MacDonald & Dodd und viele mehr).

    Der Lonewolf Pete
    • (geb. 1966) am

      Dieser Dreiteiler gehört zum Besten an Krimikost, das ich in den letzten 10 Jahren gesehen habe. Und ich bin ein Krimi-Junkie.
      Das ist meiner Meinung nach Agantha-Christie-Kriminiveau ohne skurille Typen. Einfach großartig gespielt und unterhaltsam geschrieben.
      Ich habe alle drei Teile in 24 Stunden gesehen, weil ich die Geschichte und ihre Inszenierung so spannend und interessant fand.
      Ich finde generell bei den Briten, häufig bei den Nordeuropäern und immer wieder auch bei den Franzosen und Spanieren hochklassige Krimiserien in einer Anzahl, die mir schon lange keine Zeit mehr für Tatort, Wilsberg und andere deutsche Krimireihen lässt. Wenn doch, dann die norddeutschen Produktionen, die an der Küste oder auf Inseln spielen. Ich bin ein großer Fan der deutschen Meere, insbesondere der Nordsee.
      Was mir inzwischen besonders gut gefällt sind die Miniserien oder Mehrteiler. Dabei wird, wie auch hier bei diesem Dreiteiler, eine Geschichte mit genug Raum für die Entwicklung der Story und der Charaktere abschließend in wenigen Folgen erzählt. Das hat mir schon bei Kommissarin Lund, Die Brücke, One Lane Bridge  oder Broadchurch gut gefallen.
      Dauerserien sind mir inzwischen meistens zu langweilig und zu stereotyp. die klassischen 90-Minüter von ARD und ZDF zu kurz erzählt und leider auch schablonenhaft.
      Das ist keine Kritik an Menschen, die die Krimis der öffentlichen Sender gerne sehen. Das ist nur meine Meinung und mein Empfinden.
      • am via tvforen.de

        War ganz ordentlich, das Genre wurde nicht neu erfunden, die Rollen waren gut besetzt und glaubhaft gespielt.
        • am

          Klingt vielversprechend. Ich freue mich schon darauf und bin gespannt, ob diese Serie meiner bisherigen Britkrimi-Lieblingsserie, "Heißer Verdacht/Prime Suspect" mit Jane Tennison (Helen Mirren) als Heldin das Wasser reichen kann.

          PS: Na toll, die wunschliste-"Vorankündigung" der Serie erschien just am Tag der Ausstrahlung und somit habe ich die 1. Folge schon verpasst :-( aber für sowas gibt es ja die Mediathek, hurra. :-))

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