„Carnival Row“: Der Inspektor und die Fee in Amazons flattriger Fantasy-Serie – Review

Neue Serie verfehlt trotz genialer Inszenierung das Ziel

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 30.08.2019, 18:25 Uhr

Orlando Bloom und Cara Delevingne in „Carnival Row“ – Bild: Amazon/Prime Video
Orlando Bloom und Cara Delevingne in „Carnival Row“

In einer Zeit, in der kaum noch ein großbudgetierter Film und auch kaum noch eine aufwendig produzierte Serie ohne bekannte Vorlage auskommt – als Roman- oder Comicverfilmung oder als Remake bereits existierender Filme und Serien -, verdient eine Produktion, die das Wagnis auf sich nimmt, aus sich selbst heraus eine völlig neue Fantasywelt aufzubauen, allein schon für diese Chuzpe einiges an Respekt. „Carnival Row“ ist eine solche Produktion. Der US-amerikanische, überwiegend mit britischen Darstellern besetzte und in Prag gedrehte Achtteiler, der jetzt auf Prime Video im Originalton abrufbar ist, entstand aus einem spec script, einem von Autor Travis Beacham ohne Auftrag selbst verfassten Filmdrehbuch, das es 2005 in die berühmte Hollywood Black List geschafft hatte, also zu den begehrtesten noch unverfilmten Scripts gehörte und dann über zehn Jahre lang in der development hell schmorte: Regisseure und Co-Autoren (darunter niemand Geringerer als Fantasy-Papst Guillermo del Toro) kamen und gingen, doch zustande kam das Projekt nicht. Am Ende stemmte Beacham, der mit del Toro einst „Pacific Rim“ schrieb und als Autor des „Kampf der Titanen“-Remakes weitere Fantasy-Vorerfahrung besitzt, „Carnival Row“ selbst, als Serie für Amazon, in Kollaboration mit Routinier René Echevarria („Deep Space Nine“, „Dark Angel“).

Das Ergebnis überzeugt visuell, wartet mit guten Darstellern auf und setzt ganz auf den unwahrscheinlichen Genremix aus Noir-Krimi, Steampunk-Fantasy, Politdrama und (quasi-)viktorianischem Sittenbild, das Beachams Drehbuch einst zu so einer heißen Nummer gemacht hatte. Der politische Subtext – es geht um Kriegsflüchtlinge und eine Gesellschaft, die diese nicht willkommen heißt – ist seit 2005 sicher noch deutlich brisanter geworden, sowohl in Europa, dessen Staaten in höchst unterschiedlichem Ausmaß bereit sind, Geflüchtete zu integrieren, als auch in den USA, wo unter Präsident Trump eine Mauer an der Grenze zu Mexiko gebaut wird und illegal Einreisende in Käfige gesperrt werden. Doch so interessant das klingt und bei allem genannten Respekt für das Wagnis einer originalen Erzählung: Über die bloße Setzung der Flüchtlingsthematik als Analogie zur realen Welt kommt „Carnival Row“ zumindest in den ersten Episoden kaum hinaus. Und auch der Rest entpuppt sich schnell als bloße Neukombination bekannter Genre-Elemente.

Die Mythologie, die dem world-building von „Carnival Row“ zugrunde liegt, ist zu komplex, um sie hier vollumfänglich referieren zu können; zudem wird sie nur sukzessive offengelegt, meist nur in Andeutungen der Protagonisten, die zunächst gezielt im Unklaren bleiben. Was man aber wissen muss: Dem Beginn der Erzählung ging, sieben Jahre zuvor, ein großer Krieg voran, in der der einst idyllische, von lauter unterschiedlichen Fabelwesen (genannt: Faes, also Feen, Faune oder Kentauren) bewohnte Kontinent Tirnanoc von konkurrierenden menschlichen Armeen in kolonisierender Absicht erobert und verheert worden ist. Als sich die Truppen der „Republic of the Burgue“ zurückzogen, wurde etwa das Feenland Anoun von der grausamen „Pact“-Armee überrannt. Die Konsequenz war eine Flüchtlingswelle in die Burgue-Republik, deren Hauptstadt Burgue wie London zur früh-viktorianischen Zeit der Industrialisierung aussieht, nicht nur wegen des von vielen Brücken überbauten, Themse-artigen Stroms, der die Stadt durchzieht, auch wegen der Kuppel der Balefire Hall – des Parlaments -, die so schön im Abendlicht glänzt wie St. Paul’s Cathedral.

Klar, wie die Kamera über die digital entworfene Modellstadt schwenkt, das erinnert nicht von ungefähr an den berühmten Vorspann von „Game of Thrones“. Doch wer in „Carnival Row“ eine Art neues GoT erwartet (Amazon dürfte das erhoffen), wird sich schnell ernüchtert sehen: An die epischen Ausmaße des HBO-Megahits, die sich damals schon ganz zu Beginn zeigten, reicht Beachams Entwurf nicht heran. Das Setting, das zu weiten Teilen in Burgue und dort oft nachts in der titelgebenden Carnival Row, einer Slum-Gasse voll verarmter Arbeiter und Prostituierter, wirkt eher klaustrophobisch. Es regnet fast so häufig wie in „Blade Runner“. Und auch erzählerisch spannt sich das Szenario, trotz beträchtlicher Figurenfülle, längst nicht so weit.

Auf Krawall gebürstet: Cara Delevingne als Vignette Stonemoss

Als Protagonistin gelangt eingangs die Fee Vignette Stonemoss nach Burgue, mit viel Wut und Trauer in den verhärteten Zügen gespielt von Cara Delevingne („Margos Spuren“, „Valerian – Die Stadt der tausend Planeten“), deren bemerkenswerte Augenbrauen noch nie so gut zu einer Rolle passten wie zu dem taffen, androgynen Flatterwesen, das sie hier verkörpert. Als Geflüchtete und Überlebende des Krieges sowie einer Schiffskatastrophe landet sie bald als Dienstmädchen im Haushalt der aristokratischen Geschwister Spurnrose. Dort entfaltet sich eine Art Sittengemälde mit Spuren von Jane Austen und „Downton Abbey“, das als Setting vor allem dafür genutzt wird, die Klassen- und Rassenkonflikte zu beleuchten. Für Imogen Spurnrose (gut: Tamzin Merchant aus „Salem“) ist es selbstverständlich, dass die Faes in ihrer Umgebung nur als Diener und mindere Handwerker auftauchen, allenfalls in Gesindekammern oder Slumvierteln zu erdulden sind. Als gegenüber ihres Anwesens plötzlich ein reicher, edel gewandeter, gebildeter Faun namens Agreus Astrayon (David Gyasi, „Containment“) einzieht, ist sie empört. Unterschwellig aber ist sie von dem Fremden fasziniert, und als ihr wehleidiger Bruder Ezra (Andrew Gower aus „Outlander“) relativ zu Beginn der Serie zugibt, das Erbvermögen aufgebraucht zu haben, kann man sich ungefähr ausrechnen, wohin es Imogen bald ziehen dürfte. Als Ezra Vignette vergewaltigen will, flieht die Geflüchtete zu ihrer Ex-Geliebten Tourmaline (Karla Crome aus „Misfits“), die sich in der Carnival Row prostituiert und Vignette mit einer klandestinen Rebellengruppe bekannt macht, die direkt aus einem Dickens-Roman entsprungen zu sein scheint.

Schuldknechtschaft wegen der Reisekosten: Vignette soll als Hausmädchen neben einer Fauen-Frau arbeiten.

Jenseits dieses zentralen Handlungsstrangs, in der die Klassen- und Rassenunterschiede von den Zuschauern den Entsprechungen in der realen Welt zugeordnet werden können, ohne dass es (Stand jetzt) zu einer tieferen Auseinandersetzung damit käme, gibt es noch einen zweiten Hauptplot mit zunächst recht wenigen Berührungspunkten. Inspektor Rycroft Philostrate, von allen nur „Philo“ genannt, ist darin einer offenbar rassistisch motivierten Mordserie an Faes auf der Spur, der gesuchte Ripper wird „Unseelie Jack“ genannt. In der Rolle des Philo spricht Orlando Bloom, dessen Kinokarriere nach den Erfolgsreihen „Der Herr der Ringe“ und „Fluch der Karibik“ ein wenig im Niemandsland gelandet ist, in seiner ersten Serienhauptrolle im tiefsten Stimmregister, um einen überzeugenden Hardboiled-Ermittler von Humphrey Bogarts oder wenigstens Bruce Willis’ Gnaden abzugeben. Ein großer Teil der ersten beiden Episoden besteht daraus, dass man Bloom mit schickem Hut und verbissenen Gesichtszügen entschlossene Schrittes durch irgendwelche Menschenmengen (dabei immer auf der Tonspur: Pferdegetrappel) und dann in irgendwelche Amtsstuben, Gefängniszellen oder Bordellräume laufen sieht. Weil der gesuchte Schurke (Gastauftritt von „Broadchurch“-Mörder Matthew Gravelle) schon in der Pilotepisode gefasst wird, danach aber eine weitere Fae brutal hingerichtet wird, ist klar, dass dies nicht schon das Ende, sondern erst der Anfang der Geschichte ist – zu der auch Vignette gehört, mit der Philo aus Kriegszeiten bekannt ist. Philo scheint jede Menge Ballast aus Kriegszeiten mit sich herumzuschleppen. Zumindest wird dies ständig raunend angedeutet.

Philo (Orlando Bloom) unterwegs durch die Carnival Row – im Hintergrund eine Pferdekutsche, rechts Rassistische Poster gegen die als Critch bezeichneten Flüchtlinge.

Als wäre all dies nicht schon genug, gibt’s als Beilage noch die Geschichte der Politikerfamilie Breakspear. Vater Absalom (Jared Harris, von „Mad Men“ über „The Terror“ bis jüngst „Chernobyl“ omnipräsent im Seriengeschäft) ist Kanzler der Republik und einer weiteren Flüchtlingsaufnahme zugeneigt, während die nationalistische Opposition rechtspopulistische Töne spuckt und die Faes abschieben will. Absaloms Sohn Jonah (Arty Froushan) treibt sich im Rotlichtbezirk herum, hat mit Feenprostituierten buchstäblich erhebenden Sex (Randnotiz: „Carnival Row“ kann es im Vergleich mit den frühen GoT-Staffeln eher in Sachen blutiger Gewalt denn expliziter Erotik aufnehmen – dafür gestattet Amazon das ausgiebig genutzte F-Wort) und wird dann entführt. Stecken die Politrivalen des Vaters dahinter? Was weiß dessen ebenso attraktive wie littlefingerig-intrigante Gattin Piety (Indira Varma aus GoT), die mit einer gruseligen Kräuterhexe (Alice Krige aus „Stephen Kings Schlafwandler“) zwielichtige Spiele treibt? Und welche Rolle spielt der skurrile Runyan Millworthy, der mit kleinen Kobolden ein Wandertheater betreibt – Darsteller Simon McBurney, Koryphäe des britischen Independent-Theaters und bekannt als Kauz vom Dienst aus unzähligen Kinofilmen, hinterlässt fast den prägnantesten Eindruck im Figurengewirr.

Man sieht schon: Es ist Stoff genug da für eine spannende Fantasyerzählung, fast zu viel, als dass sich die reichlich disparaten Story-Elemente innerhalb der acht Episoden elegant zusammenfügen, geschweige denn zu einem überzeugenden Ende bringen ließen (allerdings hat Amazon bereits die zweite Staffel in Auftrag gegeben). Optisch gibt das ordentlich was her, und der fantasyerfahrene Regisseur und Effektespezialist Thor Freudenthal („Percy Jackson – Im Bann des Zyklopen“) macht im Zusammenspiel mit den Ausstattern sein Möglichstes daraus: Im retro-futuristischen Steampunk-Style zischt und dampft es überall, Arbeiter mit Mad-Max-Sonnenbrillen schrauben an Monorails herum, über die Oldtimer-Waggons durch die Stadt rattern; Philo absolviert eine nächtliche Verfolgungsjagd, die den Film-Noir-Vorbildern alle Ehre macht; und ab der zweiten Episode gibt es einen wirklich schicken Vorspann zu bestaunen, in dem Eadward Muybridges chronofotografische Experimente aus dem 19. Jahrhundert zitiert werden und „True Blood“-Komponist Nathan Barr die Kirchenorgel dröhnen lässt.

Philo in seinem Revier.

Bei aller Detailverliebtheit wirkt die Sache trotzdem nicht rund. Der Aufmarsch fabelhafter Wesen von den winzigen Kobolden über Kentauren und Greife, gruselige (Wer-)Wolfskrieger, elegant behörnte Faune und flatterige Feen (deren Flügelschläge wie eine Libelle auf Helikopter-Acid klingen) bis hin zum gemütlich grunzenden Bären, den Absalom als Haustier hält, sollte eigentlich für deutlich mehr Vergnügen sorgen, als die ersten Folgen tatsächlich bereiten. Auch die himmelschreiend beknackten Figurennamen, die alle so klingen, als habe jemand die Namen aus Harry-Potter-Büchern im Zufallsgenerator neu zusammengewürfelt, deuten auf ein willkommenes Maß an Augenzwinkern hin. Doch das Gegenteil ist leider der Fall, „Carnival Row“ nimmt sich selbst sehr, sehr ernst – was im Fantasygenre bekanntlich immer eine Gefahr darstellt. Denn wo, wie hier, gewichtige zeitgenössische Themen auf knuffig albernes Koboldgedöns und horrorhafte Schattenmonster treffen, ist die Abrutschmöglichkeit ins Lächerliche, ins Trashige gar, immer gegeben. Es braucht dann von Autoren- wie Regieseite ein feines Gespür im Zusammenführen all dieser Elemente, und in den ersten Folgen von „Carnival Row“ ist das nicht durchgängig zu beobachten.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Carnival Row“.

Meine Wertung: 3/​5


Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Prime Video


Prime Video hat am 30. August 2019 weltweit die erste Staffel von „Carnival Row“ in englischer Sprachfassung veröffentlicht. Die deutsche Synchronfassung wird am 22. November nachgeliefert.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen