„Der Untergang des Hauses Usher“: Die neue binge-würdige Serie von Mike Flanagan bei Netflix – Review

Edgar Allan Poes Erzählungen fesselnd in die Gegenwart verlegt

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 11.10.2023, 19:12 Uhr

Schrei, solange du noch kannst: Für Napoleon Usher (Rahul Kohli) erfüllt sich ein wenig erquickliches Schicksal. – Bild: Netflix
Schrei, solange du noch kannst: Für Napoleon Usher (Rahul Kohli) erfüllt sich ein wenig erquickliches Schicksal.

Der Herbst ist da, Halloween naht, die anstehenden langen, dunklen Abende wollen mit gruseligem Entertainment gefüllt werden. Einer, der da zuverlässig liefert, ist Autor-Produzent Mike Flanagan. Der Mittvierziger aus Massachusetts steht seit etwa zehn Jahren für gut gemachten Grusel, erst im Kino, dann bei Netflix, seit er dort im Jahrestakt bestens binge-bare Horrorserien ablädt. Nicht immer waren die so gut wie „Spuk in Hill House“ oder „Midnight Mass“, aber eine gewisse Grundqualität war stets gegeben. Jetzt hat sich der Mann mit Edgar Allan Poe den Großmeister des US-amerikanischen Gothic Horror vorgenommen und dessen berühmte Kurzgeschichten in die Gegenwart geholt – nicht als Anthologieserie, sondern als bizarr-böse Saga einer Pharma-Familie, eine Art „Succession“ in der Opioid-Krise mit zünftiger Schauer-Schock-Grundierung. Erstaunlich: Es funktioniert.

Der Titel macht dabei erst einmal stutzig. „Der Untergang des Hauses Usher“, eine der berühmtesten Kurzgeschichten Poes, ist im Grunde ja eine überschaubare Angelegenheit: drei Personen, eine davon der Erzähler. Daraus ist kaum ein längerer Spielfilm zu machen, wie soll das als achtteilige Serie gehen? Schnell zeigt sich aber, dass Flanagan etwas anderes im Sinn hat: Die Titelgeschichte dient lediglich als Rahmung für weitere Poe’sche Texte: „Die Maske des roten Todes“, „Der Doppelmord in der Rue Morgue“, „Die schwarze Katze“, „Das verräterische Herz“, „Der Goldkäfer“, „Grube und Pendel“ und das berühmte (erzählende) Gedicht „Der Rabe“ bilden jeweils die Basis für einzelne Episoden, die für sich aber nicht abgeschlossen sind, sondern in eine einheitliche Ensemble-Erzählung integriert werden.

Flanagan verwendet Poes Werke dabei vor allem als Steinbruch. Er lässt seine in der Jetztzeit spielende Geschichte um Poe’sche Themen kreisen, nimmt sich Kernelemente vor und baut daraus etwas Neues. Die den Vorlagen innewohnende schauerliterarische Grundstimmung bleibt erhalten, wird aber durch einen ätzenden Witz ergänzt, der bei Poe-Puristen durchaus für Stirnrunzeln sorgen könnte. Das leichenfleddernde Spiel mit den Stoffvorlagen hat bei Flanagan aber nun mal Tradition, genauso wie seine Arbeit mit der Flanafam, seiner „Familie“ aus Stammschauspieler*innen, die er immer wieder in neuen Rollen besetzt – mal in ganz kleinen Parts, mal in Hauptrollen, ganz so wie in einem handelsüblichen Theaterensemble.

Lebensbeichte im zerbröckelnden Elternhaus: Patriarch Roderick Usher (Bruce Greenwood) reicht dazu einen millionenteuren Cognac. Netflix

So finden sich auch im „Untergang des Hauses Usher“ viele seiner Stammkräfte wieder: Bruce Greenwood („Thirteen Days“) spielt Roderick Usher, den Patriarchen der titelgebenden Familie, der als Chef von Fortunato Pharmaceuticals steinreich wurde, einem Pharma-Konzern, der sein Cash mit Schmerzmitteln à la Oxycontin reinholt – sehr klar lässt diese Usher-Familie an die Sacklers denken, deren unrühmliche Rolle in der US-amerikanischen Opioid-Krise unlängst in den Serien „Dopesick“ und „Painkiller“ beleuchtet wurde. An Rodericks Seite stand sein Leben lang seine Zwillingsschwester Madeline (eisig: Mary McDonnell aus „Battlestar Galactica“). Sie ist neben Roderick die einzige Figur, die der Serie aus der titelgebenden Kurzgeschichte geblieben ist – und wer die Story kennt, weiß natürlich sofort, wie unheimlich es ist, dass sich Madeline so sehr für Neuerungen in der Unsterblichkeitsforschung interessiert …

Gleich zu Beginn der ersten Episode (daher dürfen wir’s verraten) erfahren wir, dass Rodericks Kinder, sechs an der Zahl, in den letzten zwei Wochen allesamt auf drastische Weise ums Leben kamen. Das ist für den so hartherzigen Mann tragisch, dramaturgisch hingegen praktisch, denn so kann in den Episoden 2 bis 7 jeweils detailliert von diesen Todesfällen erzählt werden. Die sechs Sprösslinge sind nach „Succession“-Manier stilecht wohlstandsverwahrlost: Frederick (Henry Thomas, 40 Jahre nach „E.T.“) ist der älteste eheliche Sohn, ein Nichtsnutz, der wie selbstverständlich davon ausgeht, dereinst das Firmenimperium zu erben. Mit seiner Frau Morelle (Crystal Balint aus „The Bletchley Circle: San Francisco“) hat er eine Tochter namens Lenore (Kyliegh Curran aus „Das Geheimnis von Sulphur Springs“), die auf den ersten Blick die einzig Vernünftige des Clans zu sein scheint. Fredericks Schwester Tamerlane (Samantha Sloyan) führt derweil eine eigene Wellness-Firma, wozu sie sich den Fitness-Influencer Bill-T (Matt Biedel) geangelt hat. Abends bestellt sie Sex-Arbeiterinnen zu sich nach Hause, die mit Bill-T Dates „performen“, wozu Tamerlane aus der Distanz masturbiert. Skurril, die Kinks der Reichen …

Die anderen vier Usher-Kinder sind unehelich und werden von Frederick und Tamerlane herablassend „Bastarde“ genannt: Napoleon (Rahul Kohli aus „iZombie“) lebt als bisexueller Gamedesigner durch die Tage, Victorine (T’Nia Miller aus „Years and Years“) entwickelt als Chirurgin, gemeinsam mit ihrer Partnerin Alessandra (Paola Nuñez aus „Resident Evil“), ein „smartes“ Herzgewebe, im Auftrag des väterlichen Konzerns. Camille (gespielt von Flanagans Frau Kate Siegel) arbeitet als rücksichtslose PR-Chefin und Skandal-Ausputzerin für den Konzern – nach Betriebsschluss geht sie dann mit ihrem Assistenten Toby Dammit (Igby Rigney) ins Bett. Der Jüngste, Prospero (Sauriyan Sapkota), will derweil einen superhippen Club eröffnen – so mysteriös wie das „Berghain“!

Schock am Dinnertisch (v. l.): Prospero (Sauriyan Sapkota), Camille (Kate Siegel), Napoleon und Tamerlane Usher (Samantha Sloyan, neben Matt Biedel) erfahren, dass ein Kopfgeld auf sie ausgesetzt wurde. Rechts als Anwalt: Mark „Luke Skywalker“ Hamill Netflix

Die von Anfang an bekannte Tatsache, dass die sechs Nachwuchs-Ushers nacheinander ins Gras beißen werden, sorgt übrigens nicht dafür, dass die Darsteller*innen nach dem Ableben ihrer Figuren nicht mehr vorkommen. Das verhindert eine komplexe Erzählstruktur aus Flashbacks und ständigen Neuperspektivierungen. Weil Vater Usher vor Beginn der Todesserie davon erfährt, dass es einen Spitzel innerhalb der Familie geben soll, der die Strafverfolgungsbehörden mit Insider-Informationen versorgt, gibt es zudem noch ein zusätzliches Mystery-Element in der Serie, was durchaus zu Poe passt, der ja nicht nur die Horrorstory erfand, sondern auch als einer der Väter des Krimis gilt.

Entsprechend sitzt Roderick Usher denn auch in der Rahmenhandlung seinem Jäger gegenüber: Staatsanwalt C. Auguste Dupin (Carl Lumbly aus „Alias“) will ihn seit Jahrzehnten hinter Gitter bringen, jetzt erzählt ihm der Patriarch im verwitternden Haus seiner Kindheit, geplagt von schaurigen Halluzinationen, seine Lebensgeschichte – es ist die Klammer für die restlichen Episoden.

Ein zusätzliches Horrorelement kommt dadurch in den Plot, dass auf einer zweiten Zeitebene (1979) vom Aufstieg der Ushers berichtet wird, von ihrer Arbeit mit dem Pharma-Zampano Rufus Griswold (Michael Trucco) und ihrem ersten Treffen mit einer mysteriösen Lady namens Verna („Rabe“-Kenner horchen auf!). Verna wird 44 Jahre später wieder auftauchen, noch genauso jung wie damals, und den Untergang des Hauses Usher einleiten. Carla Gugino („Watchmen“) spielt sie mit viel Lust an der ständigen Verkleidung. Die „jungen“ Ausgaben von Roderick (Zach Gilford, „Friday Night Lights“), Madeline (Willa Fitzgerald, „Scream“) und Dupin (Malcolm Goodwin, „Reacher“) stehen dagegen etwas im Schatten ihrer älteren Pendants.

Goodwin und Fitzgerald sind zusammen mit McDonnell und Núñez übrigens die einzigen „Neuzugänge“ in der Flanagan-Welt, ergänzt noch um „Castle“-Tochter Molly C. Quinn in einem netten Gastauftritt und niemand Geringerem als „Star Wars“-Legende Mark Hamill, der sich, mit raspelkurzem Haar und Nickelbrille, einen großen Spaß macht als eiskalter Anwalt Arthur Pym, der die Familie gegen die Anfechtungen im Opioid-Verfahren vertritt. Alle anderen Darsteller*innen sind entweder schon in Flanagans Filmen („Oculus“, „Ouija“, „Doctor Sleep“) aufgetaucht oder in seinen Netflix-Serien „Hill House“, „Midnight Mass“, „Spuk in Bly Manor“ und „Gänsehaut um Mitternacht“ – meistens sogar in gleich mehreren dieser Projekte. Wie etwa Annabeth Gish, die hier gastweise als Ushers Mutter Eliza (so hieß auch Poes Mutter) durchs Bild geistert.

Eisige Milliardärin: Madeline Usher (Mary McDonnell) kann ihren Wunsch nach Unsterblichkeit nur schwer begraben. Netflix

Dieser eingespielte Ensemble-„Spirit“ überträgt sich durchaus in den einzelnen Episoden, und während man zu Beginn noch skeptisch ist angesichts der Frage, ob die verschiedenen Tonlagen, Stilformen, Zeitebenen innerhalb der Rückblendenstruktur mit ihrem Genremix (Tierhorror bis Geisterhausspuk) überhaupt aufgehen können, übernimmt schon bald der bekannte Flanagan-Effekt: Das Ganze wird von ihm und seinem Stamm-Kameramann Michael Fimognari so smooth und entertaining erzählt, dass man sich bereitwillig mitreißen lässt. Die achtstündige Lauflänge macht sich selten bemerkbar.

Ob das Ganze aber am Ende auch Poe gerecht wird? Darüber wird gestritten werden – zu Recht. In jedem Fall dürfen Poe-Fans aber beherzt auf Zitate-Schnitzeljagd gehen: Nicht nur verweisen alle Namen im Figurenarsenal auf bekannte Poe-Figuren: Arthur Pym stammt aus Poes gleichnamigem Seefahrerroman, Dupin ist der Detektiv aus „Rue Morgue“, Camille eines der Todesopfer aus derselben Erzählung, Annabel Lee (Rodericks von Katie Parker gespielte erste Frau) gab einem Poe-Gedicht den Titel, auch Tamerlane, Prospero, Napoleon, Toby und Victorine kennt man aus Poes Werken, das RUE in „Rue Morgue“ steht hier für die konzerneigene (Tier-)Versuchsanstalt „Roderick Usher Experimental“, der Konzernname „Fortunato“ spielt auf „Das Fass Amontillado“ an. Sogar Poes literarische Rivalen aus dem echten Leben, Griswold und Longfellow (Robert Longstreet), sind hier als (fiktive) Figuren mit dabei. Und so weiter.

Man kann sich da ein Spiel draus machen – und sich dennoch nicht des Eindrucks erwehren, dass es gar nicht so entscheidend ist, ob die Serie nun auf Poe-Werke Bezug nimmt oder nicht. In dieser Hinsicht kann Flanagan (wie schon bei „Bly Manor“ nach Henry-James-Vorlage) eine gewisse Beliebigkeit kaum verhehlen. Eher dient Poe hier als willkommene Startrampe für eine schön garstige Familiendestruktionsanordnung, der beizuwohnen schnell an Faszination gewinnt. Die dunklen Herbsttage können also gerne kommen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „Der Untergang des Hauses Usher“.

Meine Wertung: 4/​5

Die Serie „Der Untergang des Hauses Usher“ wird am 12. Oktober bei Netflix veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am via tvforen.de

    Bin seit gestern auch dabei; gefällt mir gut. Vor allem der sehr treffende Lemon-Vortrag. ;)
    • am via tvforen.de

      So eine drittklassige Serie wird nie an die Verfilmung von 1960 herankommen.
      • am via tvforen.de

        Habe mir bis jetzt die ersten fünf Folgen angesehen, die mir gut gefallen haben. Interessant und spannend zu sehen wie und auf welche Art es die Familie Usher dahin rafft.
        • am via tvforen.de

          Erst sollte man sich die stimmungsvolle Verfilmung des Stoffes aus dem Jahr 1960 mit Grusel-Ikone Vincent Price und Mark Damon ansehen, die den Titel "Die Verfluchten" (Original: "House of Usher) trägt. Sie orientiert sich stark an den Milieubeschreibungen Poes, nimmt aber einige künstlerische Freiheiten in Anspruch, die den Sehgewohnheiten der Kinogänger entgegenkamen.

          Für Vincent Price bedeutete der gut ausgestattete Schauerfilm den internationalen Durchbruch.


          https://jigsawshorrorcorner.files.wordpress.com/2021/10/house-of-usherr.jpg

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