Das deutsche Fernsehjahr 2021 im Rückblick: Retrofieber, Seriositätsoffensive und Wahl-TV XXL

Das waren die Trends und Ereignisse des TV-Jahres

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 25.12.2021, 09:00 Uhr

ProSieben und RTL starten Seriositätsoffensive

ProSieben/​Benedikt Müller

Wie üblich schickten die Privatsender pünktlich zur neuen TV-Saison im Herbst zahlreiche neue Formate an den Start, in der Hoffnung, bei den Zuschauern damit zu punkten. In diesem Jahr gab es allerdings einen besonderen Trend zu beobachten: RTL und ProSieben haben sich parallel auf die Fahne geschrieben, ihr Programm und Senderverständnis neu auszurichten. Informativer, relevanter und familienfreundlicher wollte man werden. Die Bilanz fällt bislang eher durchwachsen aus.

Als großer Personal-Coup von ProSieben galt die Abwerbung von Linda Zervakis von der ARD. Zwei Tage nach ihrem Abschied als „Tagesschau“-Sprecherin wurde bekannt, dass die Journalistin zu ProSieben wechseln wird, um dort gemeinsam mit Matthias Opdenhövel ein neues Journal zu präsentieren. „Zervakis & Opdenhövel. Live.“ lautet der Name der Sendung, die seit dem 13. September wöchentlich zwei Stunden lang live ausgestrahlt wird – zunächst kämpfte man am Montagabend um 20:15 Uhr händeringend um jeden einzelnen Zuschauer. Bereits bei der Premierenausgabe war nicht mal ein Neugier-Effekt zu vernehmen: Mit nur 470.000 Zuschauern und einem desaströsen Marktanteil von 4,6 Prozent in der jungen Zielgruppe legte die Sendung einen veritablen Fehlstart hin. In den darauffolgenden Wochen ging das Trauerspiel weiter und #ZOL verlor immer weiter an Boden. ProSieben griff daraufhin zu einem Trick und zeigt die Sendung seit Mitte November fortan mittwochs um 21:15 Uhr im Anschluss an die „TV total“-Neuauflage. Doch auch dieser Plan funktioniert nicht und nach der quotenträchtigen Comedyshow nehmen drei Viertel der Zuschauer Reißaus.

Talkrunde bei „Zervakis & Opdenhövel. Live.“ ProSieben/​Screenshot

Für ProSieben ist das zweifelsohne ein Desaster. „Zervakis & Opdenhövel. Live.“ stellt ein Prestigeprojekt dar, mit dem der Münchner Sender seinen eingeschlagenen Weg, „Unterhaltung mit Haltung“ zu bieten, betonen will. Inhaltlich hat die Sendung durchaus ihren Reiz, wie Kollege Ralf Döbele in seiner Kritik zur Premierenfolge beschrieb, doch sie ist offenbar einfach nicht massentauglich. Trotz der verheerenden Zahlen hat ProSieben versprochen, die Sendung im Programm zu behalten und einen langen Atem zu beweisen – ausdrücklich über das Jahr 2021 hinaus in der Primetime. Es brauche Zeit, um ein solches Format zu entwickeln. Ein löbliches und insgesamt in der aktuellen TV-Branche viel zu selten angewandtes Credo. Doch man muss den Tatsachen ins Auge sehen: Mit „Zervakis & Opdenhövel. Live.“ sendet ProSieben derzeit völlig am Geschmack seiner Zielgruppe vorbei, die offenbar abends keine Lust auf ernste Themen wie Diskriminierung, Rassismus oder Abtreibung hat. Völlig überschätzt hat der Sender offenbar auch die Strahlkraft und Starpower der Namen Zervakis und Opdenhövel. Nur weil Linda Zervakis eine beliebte „Tagesschau“-Sprecherin war und Matthias Opdenhövel als Moderator von „The Masked Singer“ Topquoten einfährt, bedeutet dies allem Anschein nach nicht, dass sie mit einer eigenen Personalityshow Zuschauermagneten sind.

Jan Hofer moderiert „RTL Direkt“ TVNOW/​Jörg Carstensen

Eine ähnliche Erfahrung wie ProSieben musste RTL machen: Unter großer medialer Aufmerksamkeit wurde die Verpflichtung des früheren „Tagesschau“-Chefsprechers Jan Hofer verkündet. Quasi als Galionsfigur sollte er dabei helfen, die Marke RTL „positiv neu aufzuladen“. In Verbindung mit der Einführung eines neuen Logos wollte die Kölner Sendergruppe RTL Deutschland in ein neues Zeitalter starten. Es stellte sich heraus: Nicht nur das neue Logo, das trotz unzähliger Farbkombinationen erschreckend kalt wirkt, kam bei den Zuschauern überhaupt nicht gut an. Seit dem 16. August ist montags bis donnerstags um 22:15 Uhr in direkter Konkurrenz zu den ARD–„Tagesthemen“ das 20-minütige Nachrichtenmagazin „RTL Direkt“ zu sehen.

Der Auftakt blieb mit 1,87 Millionen Zuschauern und knapp über zehn Prozent Marktanteil in der Zielgruppe blass – und schon am zweiten Tag sackte die Sendung auf 5,4 Prozent ab. Im Vorfeld kündigte man an, dass „RTL Direkt“ eine noch nie dagewesene Form eines Nachrichtenmagazins sein werde. In der Tat hat man sich für 20 Minuten Sendezeit viel vorgenommen: Mit Kurz-Nachrichtenblock, Studiogast, Beiträgen eines Reporterteams, Fragen von Zuschauern und einem satirischen Abschluss wirkte die Sendung ziemlich überladen – zudem entpuppte sich Jan Hofer nicht als geborener Interviewer (zur ausführlichen Kritik der ersten Sendung).

Erster Talkgast bei „RTL Direkt“ war Annalena Baerbock RTL/​Screenshot

Doch im Gegensatz zu ProSieben gibt es für RTL inzwischen einen Lichtblick: Mittlerweile hat man etwas am Format gefeilt, der unpassende Satireteil wurde gestrichen und Pinar Atalay feierte als weiteres ehemaliges ARD-Nachrichtengesicht ihren Einstand als Moderatorin von „RTL Direkt“. Die Einschaltquoten sind gestiegen, da der Sender immer öfter den Trick anwendet, eine quotenträchtige 20.15-Uhr-Sendung wie „Das Sommerhaus der Stars“ oder „Wer wird Millionär?“ mit „RTL Direkt“ zu unterbrechen.

„RTL Direkt“ ist beileibe nicht die einzige Bemühung des Senders, seinem Programm einen seriöseren Anstrich zu verpassen. Doch die Änderungen kamen bei den Zuschauern bislang überhaupt nicht gut an: „Das Supertalent“ steuert nach dem Rauswurf von Dieter Bohlen gerade seinem endgültigen Untergang entgegen, die Zukunft von „Schwiegertochter gesucht“ ist nach der quotenschwachen Staffel unsicher, „Die Bachelorette“ schwächelte ebenfalls und „Take Me Out“ ist seit dem Abschied von Ralf Schmitz nur noch ein Schatten seiner selbst. Selbst „Das Sommerhaus der Stars“ ist mit seiner jüngsten Staffel meilenwert von einstigen Quotensphären entfernt geblieben.

ProSieben machte zum Start in die TV-Saison ebenfalls eine bemerkenswerte Schwächephase durch. Hier waren es vor allem zahlreiche gefloppte Neustarts, die dem Münchner Sender mit nur 7,5 Prozent den schwächsten Monatsmarktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen seit mehr als 20 Jahren einbrachten. Neben „Zervakis & Opdenhövel. Live.“ und den „ProSieben-Bundestagswahl-Shows“ zogen auch der Reality-Flop „How Fake Is Your Love?“ und die untergegangene Promi-Reihe „Die Job-Touristen: Wir lernen jetzt was Richtiges“ den Schnitt runter. Zudem ging auch das Trashformat „Beauty & The Nerd“ mit der zweiten Staffel baden und für „Late Night Berlin“ mit Klaas Heufer-Umlauf lief es ebenfalls so schlecht wie nie zuvor. Für Linderung sorgten im Oktober „The Masked Singer“ und im November „TV total“ sowie „Joko & Klaas gegen ProSieben“, doch sämtliche Innovationen müssen als gescheitert betrachtet werden.

ProSieben/​Screenshot

Dass es dennoch funktionieren kann, auf Privatsendern ernste, gesellschaftspolitische Themen zu behandeln, zeigen zwei Gegenbeispiele, die beide Eventcharakter besaßen: Sehr kurzfristig nahm ProSieben die Reportage „Rechts. Deutsch. Radikal.“ von Thilo Mischke ins Programm und räumte dafür die Primetime frei. Noch beeindruckender war die siebenstündige Doku „#nichtselbstverständlich“ über den Pflegenotstand in Deutschland, die im Rahmen von „Joko & Klaas Live“ gezeigt wurde und die ProSieben ohne Vorankündigung sieben Stunden werbefrei zur Primetime ausstrahlte und dafür mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet wurde.

zurückweiter

weitere Meldungen