Was ist im hübschen Eigenheim von Jess (Diane Kruger) geschehen?
Bild: Paramount+
„Perfektion ist eine Illusion.“ Die sechsteilige Miniserie „Little Disasters“, eine Adaption des gleichnamigen Romans von Sarah Vaughan (lieferte auch die Vorlage zu „Anatomie eines Skandals“), beginnt mit diesem Allgemeinplatz. Bezogen ist die Feststellung auf die Hausfrau und Dreifachmutter Jess (Diane Kruger), die auf ihre Freundin Liz (Jo Joyner) als „Familienmanagerin“ lange Zeit wie ein leuchtendes, aber unerreichbares Vorbild erscheint. Stets hat sie für alles einen Plan, und aufopferungsvoll kümmert sie sich um ihre Kinder. Dass es hinter der schönen Fassade aber womöglich etwas anders aussieht, wird Liz bewusst, als sie ganz unerwartet in ihrer Eigenschaft als Ärztin mit der die moderne Medizin skeptisch beäugenden Jess zu tun hat. Deren zehn Monate alte Tochter Betsy landet mit einer schweren Kopfverletzung in der Notaufnahme, angeblich verursacht durch einen Sturz beim Krabbeln. Doch das Ausmaß der Schäden lässt sich so nicht erklären. Von den Anzeichen auf häusliche Gewalt alarmiert, ringt sich Liz dazu durch, das Jugendamt zu informieren – was sowohl die betroffene Familie als auch den Freundeskreis auf eine Zerreißprobe stellt.
„Little Disasters“ hat eine spannende Prämisse, an die man sofort andocken kann: Was würde ich selbst an Liz’ Stelle tun? Sollte man einem Menschen, den man gut kennt, nicht erst einmal die Chance geben, sich besser zu erklären? Ist es wirklich notwendig, gleich die behördliche Maschinerie in Gang zu setzen? Andererseits: Bei einem Fall wie diesem dürfen persönliche Bindungen keine Role spielen. Sind die Verletzung, eine Schädelfraktur, das verzögerte Auftauchen im Krankenhaus und die fahrigen Darstellungen der Mutter nicht höchst verdächtig? Ohne große Umwege stecken wir mittendrin im emotionalen Chaos, das erfreulicherweise schnell über die anfängliche Plattitüde zur Perfektion hinausgeht.
Ärztin Liz (Jo Joyner, l.) muss sich Vorwürfe ihrer Freundin Jess (Diane Kruger) anhören. Paramount+
Im Folgenden entfaltet sich die Handlung auf drei Ebenen. Zum einen ist da die Gegenwart. Eine Sozialarbeiterin (Chizzy Akudolu) nimmt sich der Sache an, während auch die Polizei Jess’ Umfeld durchleuchtet. Das Leben von vier befreundeten Familien wird plötzlich auf den Kopf gestellt. Meinungsverschiedenheiten, schwelende Konflikte treten nun deutlicher zu Tage. Rückblenden wiederum zeigen, wie eben diese Menschen sich in einem Geburtsvorbereitungskurs kennengelernt und seitdem immer mehr Zeit miteinander verbracht haben, wobei bereits ein gemeinsamer Provence-Urlaub Brüche offenbart. Was formal ins Auge sticht: Die eher warmen Farben der Flashbacks stehen im Kontrast zur kühlen, grün- und blaustichigen Gestaltung der Krankenhausszenen in der Jetztzeit. Etwas aus dem Rahmen fallen kurze interviewartige Passagen (ebenfalls in der Gegenwart), bei denen Jess’ Freundinnen Liz, Mel (Emily Taaffe) und Charlotte (Shelley Conn) ihre Gedanken zum Fall direkt in die Kamera sprechen. Ein Inszenierungskniff, der zumindest in den ersten vier für diese Kritik gesichteten Episoden Fragen aufwirft: Mit wem sprechen die Frauen? Und warum? Oder gibt es gar keinen konkreten Anlass? Macht es sich Serienschöpferin und Showrunnerin Ruth Fowler („Rules of the Game“) hier vielleicht etwas zu einfach? Immerhin lassen sich die Figuren und ihr Verhältnis zueinander durch diese Selbstenthüllungsmomente auf bequeme Weise beschreiben.
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Das durchaus komplexe Beziehungsgeflecht, das „Little Disasters“ mit jeder neuen Folge ein Stück mehr offenlegt, ist vor allem deshalb interessant, weil es das in Filmen und Serien selbst heute oft noch sehr undifferenziert besprochene Thema Mutterschaft vertieft. Kinder sind das schönste Geschenk, heißt es zurecht. Gleichzeitig vergisst man aber häufig, dass eine Schwangerschaft, eine Geburt und das Elternsein, gerade bei Frauen, mit Ängsten und großem Erwartungsdruck verbunden sein können. In einer Welt, in der tausend angeblich supertolle Tipps für Mütter nur einen Klick weit entfernt sind, in der jede kindliche Entwicklungsphase aufgedröselt und vermessen wird, ist Verunsicherung ein ständiger Begleiter. Nicht zuletzt befördern die sozialen Medien einen potenziell ungesunden Vergleichs- und Beobachtungswettbewerb.
In den Fokus rückt die Miniserie auch das in der Gesellschaft nach wie vor teils tabuisierte Phänomen der Postpartalen Depression. Gemeint ist damit nicht der umgangssprachliche Baby Blues, sondern eine schwere, länger anhaltende depressive Erkrankung, die 10 bis 15 Prozent aller Frauen nach einer Geburt entwickeln. Jess mag bislang als unermüdliche Löwenmama wahrgenommen worden sein, mag in ihrem schicken Einfamilienhaus alles in bester Ordnung gehalten haben. Mit dem dritten Kind ist sie allerdings offenbar an einen gefährlichen Punkt der Überforderung gelangt. Heimlich, still. unbemerkt von ihrem beruflich stark eingespannten Ehemann Ed (JJ Feild) und ihrem Freundeskreis hat sie gelitten – und inzwischen nicht mehr die Kraft, wie eine Maschine zu funktionieren. Unschärfen im Bild, eine übersteigerte Geräuschkulisse und überfallartige Halluzinationen lassen erahnen, wie es um ihren Halt steht. Dass man emotional immer wieder gepackt wird, ist vor allem Diane Kruger zu verdanken.
Das scheinbar perfekte Leben von Ed (JJ Feild) und Jess (Diane Kruger) bekommt Risse.Paramount+
Vom deutschen Feuilleton wurde die gebürtige Niedersächsin oft nicht richtig ernst genommen. In „Little Disasters“ zeigt sie als am Pranger stehende Mutter, die ihren Kindern plötzlich nur noch unter Aufsicht begegnen darf, jedoch eine aufwühlende, zunehmend eindringlicher werdende, dabei aber nie effekthascherische Performance. Besonders mit Liz-Darstellerin Jo Joyner liefert sie sich einige unter die Haut gehende Wortgefechte. Noch dazu schaffen es Kruger und die kreativ Verantwortlichen, Jess nie plump in eine Ecke zu stellen. Möglicherweise hat ihre Figur große Schuld auf sich geladen. Aber auch in den Szenen, in denen sie, wie am Ende der vierten Folge, völlig irrational agiert, kann man Verständnis und Mitgefühl aufbringen.
Deutlich plumper gerät die Zeichnung von Charlotte, einer erfolgreichen Karrierefrau, deren zweiter Kinderwunsch sich auch nach mehreren künstlichen Befruchtungen nicht erfüllt hat. Trotz dieses schmerzhaften Hintergrunds wirkt Jess’ Freundin auf der Gegenwartsebene in erster Linie wie eine böse Intrigantin. Dieser Schwachpunkt und einige plakative dramaturgische Schlenker werden der mit einer Whodunit-Struktur arbeitenden Romanverfilmung allerdings nicht zum Verhängnis. Nach vier Folgen überwiegt das Interesse am Fortgang dieses geschickt zwischen psychologischem Thriller und Drama changierenden Stoffes.
Meine Wertung: 3,5/5
Alle sechs Folgen der Miniserie „Little Disasters“ sind ab Donnerstag, dem 11. Dezember auf Paramount+ verfügbar.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.