Das deutsche Fernsehjahr 2021 im Rückblick: Retrofieber, Seriositätsoffensive und Wahl-TV XXL

Das waren die Trends und Ereignisse des TV-Jahres

Glenn Riedmeier
Glenn Riedmeier – 25.12.2021, 09:00 Uhr

Retrofieber: „Wetten, dass..?“, „TV total“ und „Geh aufs Ganze!“ sind zurück

Einer der Trends des Jahres kam geballt im November 2021 auf die Zuschauer zu. Ohne sich aufeinander abgestimmt zu haben, kehrten innerhalb eines Monats gleich drei längst eingestellte TV-Shows zurück. Den Anfang machte am 6. November „Wetten, dass..?“. Eigentlich wollte das ZDF die Sendung bereits im vergangenen Jahr zurückbringen. Anlässlich Thomas Gottschalks 70. Geburtstag sollte die Kultshow mit einem einmaligen Comeback gefeiert werden, doch aufgrund der Hochphase der Corona-Pandemie entschieden sich Gottschalk und das ZDF dafür, die Veranstaltung zu verschieben. Und so kehrte die wohl bekannteste Samstagabendshow des deutschen Fernsehens 40 Jahre nach der ersten Ausgabe zurück. Und es handelte sich nicht etwa um einen Rückblick auf vergangene Zeiten, sondern um ein „Wetten, dass..?“, wie es die Zuschauer kennen – und offenbar schmerzlich vermisst haben. Denn die dreieinhalbstündige Live-Show aus Nürnberg übertraf alle Erwartungen.

Einzigartiges Duett bei „Wetten, dass..?“ von ABBA und Helene Fischer ZDF/​Sascha Baumann

Zu Beginn der Show wurde Gottschalk mit einem nicht enden wollenden Applaus und Standing Ovations gefeiert – und im Anschluss bewies er, dass er nichts verlernt hat und es auch im Alter von 71 Jahren noch draufhat (zur ausführlichen Kritik). Mit Co-Moderatorin Michelle Hunziker, Gästen wie Helene Fischer, Udo Lindenberg, der männlichen Hälfte von ABBA sowie der obligatorischen Baggerwette schaffte es Gottschalk mit der Show seines Lebens zurück in Quotensphären, die in Zeiten von Streaming und eines stark fragmentierten TV-Marktes nicht mehr möglich schienen: 14,46 Millionen Zuschauer fieberten alleine im ZDF mit, was einen haushohen Marktanteil von 45,9 Prozent bedeutete. Und siehe da: Selbst in der werberelevanten, angeblich nicht mehr für lineares Fernsehen zu begeisternden Zielgruppe waren 4,64 Millionen mit dabei. Der Marktanteil lag hier bei unglaublichen 50,1 Prozent – jeder zweite TV-Konsument im Alter von 14 bis 49 Jahren hatte an diesem Abend das ZDF eingeschaltet. Eigentlich war das „Wetten, dass..?“-Revival als einmaliges Event angekündigt, doch angesichts dieser bombastischen Quoten hat das ZDF inzwischen erklärt, über eine Fortsetzung nachzudenken. Thommy wäre bereit dazu.

Die Zuschauer hatten sich noch gar nicht vom Nostalgierausch erholt, als nur zwei Tage später ProSieben überraschend und kurzfristig das Comeback von „TV total“ bestätigte – und das, obwohl derartige Pläne noch im Juli dementiert worden waren. Der prägende Moderator des Formats ist nicht an Bord – zumindest nicht vor der Kamera. Stefan Raab hat Ende 2015 seinen TV-Abschied verkündet und sich daraufhin komplett als Moderator aus dem Fernsehgeschäft zurückgezogen. Sechs Jahre später kehrte „TV total“ nun zurück – mit Sebastian Pufpaff als Moderator und in seiner „Urfassung“, also einmal die Woche, allerdings nicht wie damals am späten Montagabend, sondern auf einem ungewöhnlichen Primetime-Sendeplatz mittwochs um 20:15 Uhr. An Bord sind hingegen wieder das altbekannte „TV total“-Logo, der fahrbare Schreibtisch samt Nippelboard und die Studioband, die Heavytones.

Sebastian Pufpaff ist der neue „TV total“-Moderator ProSieben/​Screenshot

Pufpaff beschränkt sich größtenteils auf das Zeigen und Kommentieren von Ausschnitten aus anderen Sendungen. Nach einer noch vielversprechenden Premierenfolge ließen die weiteren Ausgaben leider inhaltlich nach. Zu erwartbaren Formaten werden größtenteils vorhersehbare Witze gerissen. „TV total“ wirkt in dieser Form anachronistisch. Zudem fährt der zuvor von 3sat bekannte Kabarettist Sebastian Pufpaff sein Humor-Niveau spürbar auf das Level des ProSieben-Stammpublikums runter und ist sich auch nicht für Gags zu schade, für die sich selbst Fips Asmussen im Grab umdrehen würde (Herbst heißt wegen Gendern jetzt Fraubst!). Fast wirkt es so, als wolle man mit Pufpaff „TV total“ noch einmal von vorne durchspielen, anstatt eine zeitgemäße Fortsetzung zu produzieren. Und so wird inzwischen auch wieder ein Preis für einen besonders bemerkenswerten TV-Auftritt verliehen: Aus dem „Raab der Woche“ wurde der „Deutsche Bundesbewegtbildpreis“, den sich der jeweilige Gewinner im Studio abholt. Auf prominente Talk- und Musikgäste, die in späteren Jahren bei Raab ein- und ausgingen, wird hingegen verzichtet.

Aufgewärmtes schmeckt nie so gut wie Frisches, doch bemerkenswerterweise sehen selbst einige Feuilleton-Kritiker – scheinbar ebenfalls im Nostalgie-Fieber – über die zu wünschen übrig lassende Qualität hinweg. Und auch quotentechnisch ist „TV total“ bislang ein Erfolg. Die Premiere sahen 2,86 Millionen Menschen, in der jungen Zielgruppe kamen 27,2 Prozent Marktanteil zustande. Die weiteren Ausgaben pendelten sich bei 1,75 Millionen und 16 Prozent ein – und das mit Inhalten einer Durchschnittsfolge, die früher nach 23 Uhr versendet worden und dort längst nicht auf solche Zahlen gekommen wäre. Vielleicht hätte Raab einfach damals schon um 20:15 Uhr senden sollen …

Der Dritte im Bunde der Rückkehrer heißt Jörg Draeger. Im Sommer zog er als Kandidat bei „Promi Big Brother“ ein und hat bei Sat.1-Chef Daniel Rosemann offenbar bleibenden Eindruck hinterlassen. Denn in der Einzugsshow bewies Draeger in einer kurzen Spielrunde, dass er das Zocken keineswegs verlernt hat. Sat.1 ließ keine Zeit verstreichen und stellte binnen weniger Monate schließlich ein Comeback der Kult-Spielshow „Geh aufs Ganze!“ auf die Beine – 18 Jahre, nachdem die letzte reguläre Ausgabe gelaufen war. Zunächst drei Ausgaben wurden als Eventprogrammierung für der Primetime produziert. Aus einer 30- bis 45-minütigen Vorabendshow wurde eine rund zweistündige Freitagabendshow gebastelt.

Jörg Draeger und der Zonk sind zurückgekehrt. Sat.1/​Frank Hempel

Sat.1 stellte dem vitalen 76-Jährigen einen jüngeren Kollegen zur Seite: „Frühstücksfernsehen“-Moderator Daniel Boschmann fungiert als Co-Moderator, wählt in kleinen Vorrunden die Spieler aus und sagt die Preise an. Ansonsten ist alles recht vertraut: Es wird um Autos, Bargeld, Reisen und Motorräder gezockt. Die Mitspieler müssen sich entweder für einen Umschlag, eine Kiste oder eines von drei Toren entscheiden, wobei Draeger stets versucht, sie mit ausgefeilter Menschenkenntnis von ihrer Entscheidung abzubringen oder ihnen Geld anbietet, um aus dem Spiel auszusteigen. Auch der Zonk als berühmter Trostpreis, von Draeger stets liebevoll „Das schönste Nichts der Welt“ genannt, ist natürlich wieder mit von der Partie – diesmal sogar beweglich und in Lebensgröße. Auch wenn noch an ein paar Stellschrauben gedreht werden muss, damit die Show so richtig rund wird, ist die Neuauflage ein gelungenes Comeback (zur ausführlichen Show-Kritik). Und siehe da: Auch das „Geh aufs Ganze!“-Revival traf den Nerv des Publikums: 2,57 Millionen Zuschauer schalteten ein. In der jungen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen sprangen ebenfalls hervorragende 17,0 Prozent Marktanteil heraus.

Drei Mal Retro, drei Mal ein Erfolg. Was sagt das über die deutsche TV-Landschaft und die Zuschauer aus? Nun, in erster Linie wird in allen drei Fällen belohnt, dass es sich um aufwendige, durchdachte und liebevoll umgesetzte Neuauflagen handelt – mit altbekannten Elementen wie der Übernahme der alten Titelmelodien und Wiedererkennungswert der Studiokulisse. Denn der Nostalgiefaktor funktioniert nur dann, wenn sich die Zuschauer auch darin wiederfinden und nicht durch Modernisierungsmaßnahmen vergrault werden – wie etwa bei den lieblosen Billig-Neuauflagen der Gameshows auf RTLplus vor einigen Jahren. Dass es sich insbesondere bei „Wetten, dass..?“ und bei „Geh aufs Ganze!“ um gelungene Revivals handelt, liegt nicht zuletzt an den prägenden Moderatoren Thomas Gottschalk und Jörg Draeger, die den Shows ihren Stempel dermaßen aufgedrückt haben, dass sie mit anderen Gastgebern nicht mehr vorstellbar erscheinen.

Andererseits ist es für die TV-Branche ein Armutszeugnis, dass es in den vergangenen Jahren – mit Ausnahme von „The Masked Singer“ – nicht gelang, mit neuen Shows ein ähnliches Lagerfeuer wie früher zu entfachen. Es fehlte an innovativen Ideen und Moderatoren, die nicht glattgebügelt und austauschbar sind. Das Publikum sehnt sich nach „echten Typen“, wie es Gottschalk und Draeger eben sind. Gleichwohl zeigt es, wie sehr (auch junge!) Zuschauer am Ende Gewohnheitstiere sind und sofort wieder einschalten, sobald Altbekanntes und Vertrautes zu sehen ist – während sie inzwischen kaum noch bereit sind, neuen Formaten und neuen Moderatoren eine Chance geben. Hätte etwa Sebastian Pufpaff auf ProSieben nicht „TV total“ erhalten, sondern eine neue, eigene Personality-Show – es hätte wohl nur ein Bruchteil der Zuschauer eingeschaltet. Üblicherweise scheuen sich Programmmacher davor, alte Formate aufzuwärmen – schlichtweg, weil sie lieber neue, eigene Akzente setzen wollen, anstatt auf Inhalte ihrer Vorgänger zurückzugreifen. Generell bleibt die Frage, wie lange die „Retro-Welle“ noch geritten werden kann, bis das Interesse wieder nachlässt. Doch in einer Zeit, in der inzwischen fast zwei Jahre lang ein Corona-Ausnahmezustand herrscht, kamen die Shows offenbar gerade recht, damit die Menschen zumindest für ein paar Stunden zurück in eine vermeintlich heile Nostalgiewelt flüchten können.

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