„Unbelievable“: Erschütternde True-Crime-Serie, die lange nachwirkt – Review

Netflix-Miniserie mit Toni Collette ragt im Serienjahr 2019 heraus

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 31.12.2019, 10:45 Uhr

„Unbelievable“ – Bild: Netflix
„Unbelievable“

Zum Glück ist niemand auf die Idee gekommen, den Titel dieser Ausnahmeserie für die deutsche Fassung zu übersetzen: Die Doppelbedeutung des Wortes „unbelievable“ wäre dabei nämlich auf der Strecke geblieben. „Unglaublich“ (in der ersten Bedeutung) ist zunächst mal das, was der Protagonistin Marie Adler in diesen acht Episoden widerfährt. Das 18-jährige Mitglied eines Wohnprojekts in Lynnwood, Washington, wird im Jahr 2008 von einem maskierten Mann in ihrer eigenen Wohnung vergewaltigt, bringt dies zur Anzeige und wird anschließend von den ermittelnden Polizisten so lange drangsaliert und eingeschüchtert, bis sie ihre Aussage wieder zurückzieht und zu Protokoll gibt, gelogen zu haben – woraufhin sie nicht nur ihre Freunde, ihre Arbeit und die Wohnung verliert, sondern obendrein noch wegen Falschaussage angeklagt wird. Unglaublich ist dies auch, weil dieser Vorfall ein true crime ist, also auf wahren Begebenheiten basiert und nur ein Beispiel ist von zahlreichen, in denen im Umgang mit sexuellen Gewaltdelikten das weibliche Opfer als „unglaubwürdig“ abgestempelt wird. Das wäre dann die zweite Bedeutung von unbelievable. Für die Opfer, denen wahlweise ein Hang zur Selbstdarstellung oder Rachsucht unterstellt wird, bedeutet dies eine zweite Attacke: nach jener durch den Täter eine weitere durch die Ermittlungsbehörden.

Maries Geschichte hing mit mindestens fünf weiteren Vergewaltigungsfällen zusammen, die sich bis 2011 im vom Staat Washington aus südöstlich jenseits der Rocky Mountains gelegenen Colorado zutrugen und dort lange keinen Zusammenhang erkennen ließen: Die Opfer des Täters waren mal jung, mal alt, mal schlank, mal nicht, mal weiß, mal nicht, doch in allen Fällen hatte der Mann die alleinlebenden Frauen in deren eigenen Wohnungen aufgesucht, während der Tat fotografiert und penibelst darauf geachtet, keine DNA am Tatort zurückzulassen. Zwei Polizistinnen und ihre Teams aus benachbarten Bezirken rund um Denver kamen dem Täter schließlich gemeinsam auf die Schliche; 2011 wurde er in Colorado zu 327,5 Jahren Haft verurteilt.

Über diese Begebenheiten war zunächst 2015 ein Pulitzer-Preis-gekrönter Artikel von T. Christian Miller und Ken Armstrong erschienen („An Unbelievable Story of Rape“), dem ein Jahr später eine Episode der Radiosendung „This American Life“ folgte. Aufbauend auf dieser Grundlagenarbeit haben die Drehbuchautorin Susannah Grant („Erin Brockovich“) sowie die beiden Schriftsteller Ayelet Waldman und Michael Chabon (auch „Star Trek: Picard“) für Netflix nun diese achtteilige Miniserie konzipiert, die bei den Fernsehpreisverleihungen der kommenden Award Season zweifelsohne Stammgast werden dürfte.

Die Detectives Duvall (Merritt Wever, l.) und Rasmussen (Toni Collette).

Die Serie, wie aus einem Guss inszeniert von Lisa Cholodenko („The Kids Are All Right“), „Justified“-Produzent Michael Dinner und Susannah Grant höchstselbst, bedient sich prinzipiell gängiger Strukturen und einer typischen Krimi-Ermittlungsdramaturgie: Weite Teile der Serie folgen dem akribischen Vorgehen zweier Kommissarinnen, samt falschen Fährten, frustrierten Fastabbrüchen und herben Rückschlägen. Großartige Actionszenen gibt es dabei keine, auch werden die Vergewaltigungen selbst nicht voyeuristisch inszeniert, allenfalls durch blitzartige Flashbacks herbeizitiert. Zwischen der gläubigen Detective Karen Duvall, mit sanfter Engelsstimme und dem beruhigendsten Wesen der jüngeren Krimigeschichte gespielt von Merrit Wever („Godless“), und der älteren, sarkastischen Detective Grace Rasmussen (Toni Collette, „Taras Welten“, „Little Miss Sunshine“) knirscht es nur anfangs, bald rauft man sich zusammen für das gemeinsame Ziel, den Serienvergewaltiger zu fassen.

Merritt Wever als Detective Karen Duvall.

Mal abgesehen davon, dass hier, ohne dies groß zum Thema zu machen, zwei Frauen als „True Detectives“ operieren, ist es vor allem die zentrale Perspektive, die die Serie vom Gros der üblichen True-Crime-Produktionen unterscheidet: Zwar wird auch hier nach einem Täter gesucht und wird am Ende auch darüber gesprochen, um was für eine Gestalt es sich bei diesem (psychologisch) handeln könnte, doch letztlich ist der Täter für die Erzählung zweitrangig. Er wird von einem Nebendarsteller verkörpert und am Ende einmal symbolisch nackt gemacht, spielt aber eigentlich keine Rolle, denn was „Unbelievable“ viel mehr interessiert als dieser Mann, ist das, was mit seinen Opfern passiert – nach der Tat.

Kaitlyn Dever brilliert als Marie Adler.

Beispielhaft gezeigt wird dies an der eingangs erwähnten Marie Adler (in allen nur erdenklichen Facetten zwischen Renitenz, Ungläubigkeit, Verzweiflung, Resignation und Apathie grandios gespielt von Kaitlyn Dever aus „Booksmart“ und „Justified“). Direkt nach der Tat schon wird sie von immer neuen Polizisten und Ärzten genötigt, noch die schlimmsten Details des Vorfalls zu Protokoll zu geben; sie muss kühl abgewickelte Untersuchungen im Intimbereich über sich ergehen lassen; schließlich bilden Andeutungen einer ehemaligen Pflegemutter über einen vermeintlichen Narzissmus Maries die Saat eines Zweifels, der die ermittelnden Polizisten dazu übergehen lässt, das Opfer als unbelievable hinzustellen. Diesem Zweifel fallen bald auch ihre Lieblingspflegeeltern, die Leiter ihres Wohnheims (darunter Charlie McDermott aus „The Middle“) sowie andere vermeintlich enge Vertrauenspersonen anheim – und schließlich sie selbst.

Toni Collette als Detective Grace Rasmussen.

Ab der zweiten Episode wird Maries Geschichte mit den drei Jahre später stattfindenden Ermittlungen von Duvall und Rasmussen parallelgeführt, ehe beide Plotlinien am Ende der grandiosen vorletzten Folge auf erzählerisch clevere (und sehr bewegende) Weise zusammentreffen. Bewundern muss man die Autoren schon dafür, dass sie trotz des bekannten Ausgangs die Spannung stets hochhalten: Wie in jeder wirklich guten Serie ist nicht das „Was?“ entscheidend, sondern das „Wie?“, und das stimmt hier tatsächlich von Anfang bis Ende. Das gilt für den detaillierten Nachvollzug der polizeilichen Vorgänge, aber auch für klug eingestreute Blicke ins Privatleben beider Ermittlerinnen – so reichen ein paar Szenen mit Rasmussens für den Staatsanwalt arbeitenden Ehemann Steve (Kai Lennox aus „Falling Water“) oder mit Duvalls ebenfalls als Polizist arbeitenden Mann, um sehr effizient Entscheidendes über diese beiden sonst vor allem für ihren Beruf lebenden Frauen zu erfahren.

Die Detectives Rasmussen (Toni Collette, l.) und Duvall (Merritt Wever) beißen sich in den Fall fest.

Die Behandlung des jüngsten Opfers Amber (Danielle Macdonald, „Patti Cake$“) durch Detective Duvall wird praktisch spiegelbildlich inszeniert zu dem, was Marie eingangs über sich ergehen lassen musste: Amber trifft allerdings auf Verständnis und sanfte Unterstützung, nicht auf bürokratische Abwicklung und eine Kultur, die im weiblichen Opfer zunächst reflexhaft eine Fälschung vermutet. Die durchaus unterschiedlichen Verhaltensweisen der anderen Opfer (darunter Annaleigh Ashford aus „Masters of Sex“) zeichnen ein komplexes Bild, das selbst die versagenden Polizisten nicht zum tumben Buhmann versimpelt: Detective Parker in Washington etwa (stark: Eric Lange, der zuletzt in „Escape at Dannemora“ positiv auffiel) wirkt durchaus wohlmeinend, es scheint ihm dann vor allem an der nötigen Sensibilität und am nötigen Training zu fehlen; vielleicht will er auch bloß lieber glauben, was ihm am bequemsten zu sein scheint. Als sein Fehler am Ende auffliegt, wirkt seine Zerknirschung, seine Scham, jedenfalls alles andere als aufgesetzt.

Der Cop (Eric Lange als Detective Robert Parker, r.) und das Opfer (Kaitlyn Dever als Marie Adler).

Was man „Unbelievable“ vorhalten könnte, ist ein gewisser überbeflissener Hang zur journalistischen Akribie: In die Dialoge wird viel statistisches Wissen gestopft, was sicher dem Wunsch der Macher geschuldet ist, eine belastbare Anklage der Missstände im Justizapparat vorzulegen, die Aussagen der Polizistinnen, Pflegeeltern und einer Psychologin allerdings mitunter etwas gestelzt wirken lässt. Das fällt besonders deshalb auf, weil sich die Autoren sonst einer vorbildlichen „Show-don’t-Tell“-Dramaturgie bedienen und vieles per Inszenierung klarmachen, was in handelsüblichen Procedurals meist erst zerredet werden muss. Der durchgehend tollen Besetzung ist es jedenfalls hoch anzurechnen, dass sie bis in die letzte Nebenrolle hinein auch bestens mit solchen Erklärtexten klarkommt – von Nick Searcy („Justified“) als ignoranter Cop über Aaron Staton („Mad Men“) als Verdächtiger bis hin zu Tom Amandes („Everwood“) als Anwalt gibt es hier viele kleine darstellerische Kabinettstückchen zu sehen.

Über allem thronen allerdings die drei Hauptdarstellerinnen, die das emotionale Gewicht der Serie mühelos auf ihren Schultern tragen: Für Kaitlyn Dever und Merritt Wever dürfte „Unbelievable“ der (endgültige) Durchbruch sein, Collette erbringt einen weiteren Nachweis ihrer immer wieder bestaunenswerten Könnerschaft. Alle drei sind bei den Golden Globes übrigens als „Beste Darstellerin“ nominiert, genauso wie die Serie selbst. Zu Recht: Sie gehört, neben „Chernobyl“ und „When They See Us“, zu den drei Miniserien, die man 2019 unbedingt gesehen haben sollte.

Dieser Text basiert auf der Sichtung aller acht Episoden der Miniserie „Unbelievable“.

Meine Wertung: 4,5/​5

Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Netflix

Die Serie „Unbelievable“ befindet sich weltweit im Angebot des Streamingdienstes Netflix.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1967) am

    Eine HAMMER Serie mit 3 ganz starken Darstellerinnen!!!!!

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