„Doc“: Frau Doktor und das fehlende Jahrzehnt – Review

Das US-Remake von „Doc – Es liegt in deinen Händen“ lebt vor allem von Molly Parker

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 30.03.2025, 09:30 Uhr

Für sie beginnt das letzte Jahrzehnt noch mal von vorn: Chefärztin Dr. Amy Larsen (Molly Parker) fehlen die Erinnerungen. – Bild: Fox/RTL+
Für sie beginnt das letzte Jahrzehnt noch mal von vorn: Chefärztin Dr. Amy Larsen (Molly Parker) fehlen die Erinnerungen.

Ein Oberarzt verliert nach einem Schuss in den Kopf die Erinnerung an die vergangenen zwölf Jahre. Langsam findet er in seinen Beruf zurück, auch im Privatleben fängt er neu an und stellt völlig andere Weichen. Das ist der Plot der italienischen Serie „Doc – Es liegt in deinen Händen“, die es seit 2020 auf drei Staffeln brachte, in Deutschland aber in entlegenen Pay-TV-Gefilden landete, bei AXN White. Mehr Publikum dürfte wohl der US-amerikanischen Adaption „Doc“ beschieden sein, die nun bei RTL+ an den Start geht. In den USA ist die Fox-Produktion bereits gelaufen – und wir haben schon mal reingesehen.

Für gesteigertes Interesse hatte die italienische Originalserie vor allem durch ihr besonderes Konzept gesorgt: Die übliche Fall-der-Woche-Struktur gängiger Arztserien wird zwar beibehalten, ebenso die selbstverständlich vorausgesetzte „Genialität“ des zentralen Doktors, doch das langsame Sichzurechtfinden des Protagonisten in seinem auf Null gesetzten Leben und die unterschiedlichen Reaktionen seines Umfelds sorgten für übergreifende Plotlinien, die eher dem klassischen Charakterdrama zuneigten.

Obgleich „Doc – Es liegt in deinen Händen“ zumindest teilweise auf realen Begebenheiten beruhte, weicht die (in Kanada gedrehte) US-Version nun beherzt davon ab. Eine direkte Kopie ist „Doc“ jedenfalls nicht. Showrunnerin Barbie Kligman, bekannt als Produzentin von Network-Serien wie „Magnum P.I.“ oder „CSI: New York“, machte aus dem Arzt eine Ärztin, aus dem fatalen Kopfschuss (abgegeben durch den Vater eines jungen Patienten) einen Autounfall, aus der vergessenen Zeitspanne acht statt zwölf Jahre, und das Geschehen verlegte sie von Mailand nach Minneapolis. Auch sonst laufen diverse Dinge anders ab in Plot und Personengefüge, doch der Kniff, um den es geht, bleibt unangetastet: Wie kommt man damit klar, wenn die Entwicklungen der letzten Lebensjahre, privat wie beruflich, plötzlich „fehlen“? Wie macht man dann weiter?

Sehr viel hängt in so einem Szenario ab von der zentralen Figur, und in dieser Hinsicht trifft „Doc“ voll ins Schwarze. Molly Parker, die schon so unterschiedlichen Serien wie „Deadwood“, „House of Cards“ oder „Lost in Space“ beehrte, ist in beiden Realitäten ihrer Figur Dr. Amy Larsen phänomenal: als arrogante, abweisende Chefärztin der Abteilung für Innere Medizin im Westside Hospital, als der wir sie zu Beginn kennenlernen und später in Rückblenden nachgeliefert bekommen, und als sanfte, um Neuanfänge und Lebenskorrekturen bemühte Frau nach ihrem unfreiwilligen Reset.

Klinik-Vorstand Dr. Hamda (Omar Metwally, l.) installiert Dr. Miller (Scott Wolf) als Nachfolger von Amy. Die weiß mehr über Miller, als dem lieb ist. Fox/​RTL+

Der Kollegenkreis wird zu Beginn in groben Zügen umrissen. Sehr viel Originelles findet sich hier nicht, es sind Varianten bekannter Figuren aus Vorgängerserien von „General Hospital“ über „Grey’s Anatomy“ bis „Transplant“ einer kanadischen Arztserie, aus deren Cast in „Doc“ manch einer in Gastrollen auftaucht. So gibt es den jungen Assistenzarzt Dr. Jake Heller (Jon Ecker aus „Queen of the South“ und „Immer für dich da“), stets fesch frisiert und so modelmäßig attraktiv, wie es das Arztserien-Klischeebild nur hergeben kann. Es gibt die junge Ärztin Dr. Sonya Maitra (Anya Banerjee aus „The Blacklist“), die auf Heller steht und Dr. Larsen gar nicht mag. Und es gibt den CMO (Chief Medical Officer) des Krankenhauses, Dr. Michael Hamda, der die Zustände in der Inneren Medizin sowohl gegenüber dem Aufsichtsrat und CEO Max (Darrin Baker aus „Memorial Hospital“) vertreten muss, als auch Dr. Larsen gegenüber loyal sein möchte. Gespielt wird er von Omar Metwally, der schon in „The Affair“ den Arzt Ihres Vertrauens verkörperte.

Der Zeit vor dem Autounfall gewährt die Pilotepisode zunächst nur eine Viertelstunde Laufzeit, die das Beziehungsgeflecht der Figuren kurz skizziert. Wir sehen Dr. Larsen, wie sie eine schwangere junge Frau rüde behandelt und sich dafür von ihren Kollegen routiniert entschuldigen lassen muss; wir erfahren, dass sie seit Monaten eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Dr. Heller hat; dass Dr. Hamda ihr Ex-Mann ist; wir erfahren zudem, dass Dr. Maitra eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie eingeleitet hat; und dass Larsens Kollege Dr. Richard Miller („Party of Five“-Star Scott Wolf in einer durchgehenden Gastrolle) bei einem Patienten ein tödlicher Fehler unterlaufen ist, den Larsen aufzuklären gedenkt.

Dann schickt Hamda die garstige, aber geniale (und nicht nur deshalb an „Dr. House“ erinnernde) Workaholic-Ärztin nach Hause – während der Autofahrt aber passiert das, was schon die erste Szene zeigt: der Unfall, der Dr. Larsen eine partielle retrograde Amnesie einhandelt. Das heißt: Die letzten acht Jahre sind für sie komplett gelöscht. In diesen acht Jahren war allerdings Entscheidendes in ihrem Leben passiert – dramaturgisch gesehen: idealerweise. Denn als Larsen als Patientin erwacht, weiß sie nicht nur nicht, dass inzwischen nicht mehr Barack Obama die USA regiert und ihre beste Freundin jetzt in einer lesbischen Beziehung lebt, sondern auch nicht, dass sie selbst seit Jahren von Dr. Hamda geschieden ist und ihre Tochter Katie (Charlotte Fountain-Jardim) nicht mehr neun Jahre, sondern inzwischen 17 ist und bei ihrem Vater lebt. Noch schlimmer: Katies kleiner Bruder starb sieben Jahre zuvor an einem Herzfehler. Das war der Auslöser für den in Trauer und gegenseitigen Vorwürfen begründeten Kollaps der Familie.

Vor dem Kollegen-Koitus wird gesund genascht: Amy mit Assistenzarzt Dr. Heller (Jon Ecker). Fox/​RTL+

Molly Parker spielt herausragend, was sich daraus ergibt: die plötzliche Notwendigkeit, über all diese Dinge ein zweites Mal (nach-)trauern zu müssen; in Dr. Hamda weiterhin verliebt zu sein, weil sie die Geschehnisse, die in ihrem nun vergessenen Leben zum Liebesverlust führten, gar nicht erlebte; die eigenartige Distanziertheit ihrer Teenie-Tochter nicht zu verstehen, weil sie die Zerwürfnisse, die dazu führten, nicht kennt. Da werden hochspannende, philosophische Diskurse berührt, Fragen nach der menschlichen Natur gestellt: Wie verhält man sich, wenn zentrale Ereignisse, die einen auf diesen oder jenen Weg gesetzt haben, plötzlich „weg“ sind? Ist die Amnesie für Dr. Larsen Fluch oder Segen? Kann man eine derartige zweite Chance, nicht wieder in ein verhärtetes, zynisches, anderen Menschen gegenüber gnadenloses Verhalten zu verfallen, dankbar ergreifen – oder verfällt man doch wieder in alte Muster?

Durchaus faszinierend ist es also, Molly Parker beim Ausloten dieser Themen zuzusehen. Leider werden die Figuren um sie herum, in den fünf gesehenen Episoden zumindest, deutlich weniger komplex beleuchtet. Dr. Heller zum Beispiel bleibt stets der freundliche Beau, der darum fürchtet, die Affäre mit Larsen nicht fortsetzen zu können. Worauf das Dreieck zwischen ihm, Larsen und ihrem inzwischen wiederverheirateten Ex-Mann hinausläuft, dürften nicht nur Soap-Opera-Gucker sofort erahnen. Dr. Maitra ist verwirrt, weil sich Larsen ihr gegenüber nicht mehr abweisend, sondern sogar freundschaftlich verhält: Was macht sie nun mit der Dienstaufsichtsbeschwerde? Sträflich fade geschrieben ist zudem Dr. Gina Walker (Amirah Vann aus „A Jazzman’s Blues“), Larsens Neurologin und zugleich beste Freundin, die am besten weiß, was mit Larsen in der letzten Dekade losgewesen war und dennoch nur in einer öden Kommentier- und Erklärfunktion eingesetzt wird. Hoffentlich wissen die Autoren mit ihr in Zukunft mehr anzufangen. Auch die Handlungsfäden um den jungen Neuzugang der Station, Dr. TJ Coleman (Patrick Walker aus „Eine Frage der Chemie“), der Larsen beruflich verehrt, und die anderen Ärzte aus der zweiten Reihe sind bislang kaum der Rede wert.

Ist ihrer einstigen Chefin gegenüber immer noch skeptisch: Dr. Sonya Maitra (Anya Banerjee). Fox/​RTL+

Währenddessen (noch mit Kopfverband im Krankenbett liegend) will Larsen keine Zeit verlieren und am liebsten direkt als Chefärztin weitermachen. Doch Dr. Hamda rät zur Geduld und hat erst einmal den heimlich inkriminierten Dr. Miller in dieser Funktion installiert, der einiges Interesse daran hat, dass die Amnesie bei Dr. Larsen möglichst chronisch bleibt – weil eben nur Larsen sein Fehlverhalten enttarnen könnte. Das ist ein etwas schwachbrüstiges Krimi-Element, das sich da durch die Folgen zieht, und Scott Wolf hat Mühe, seiner antagonistisch gedachten Figur interessante Aspekte abzuringen.

Weil Larsen ihr medizinisches Fachwissen und ihre Expertise im Großen und Ganzen nicht verloren hat, darf sie, weil sie sich ohnehin ständig in die Fälle einmischt, recht bald wieder medizinisch tätig werden – allerdings muss sie sich, gleichsam als Praktikantin, hintanstellen und erst einmal das Staatsexamen (oder wie es in den USA heißt: the boards) neu bestehen. Mutmaßlich wird diese Hürde später in der Staffel auch genommen.

Wie es danach weitergeht, bleibt natürlich die große Frage, denn wie schon im italienischen Original zu besichtigen, trägt das ursprüngliche Konzept keineswegs auf Dauer. Irgendwann wird Dr. Larsen wieder angekommen sein im Beruf und ihre wichtigsten privaten Dinge sortiert haben. Dann wird vieles darauf ankommen, ob auch das Kerngeschäft einer jeden Arztserie, ihre wöchentlich wechselnden medizinischen Fälle, mithalten kann mit der zentralen Figur. Und gerade die präsentieren sich in den ersten Folgen nicht sehr vorteilhaft. Obwohl prominente Gastdarsteller dabei sind (von der immer tollen Rebecca Liddiard aus „Alias Grace“ über Samantha Soule aus „Godless“ bis Patrick Kwok-Choon aus „Star Trek: Discovery“), wirken die Cases of the Week wie von der Stange gezogen: Leberprobleme, Lupus, Alzheimer, Knochenmarktransplantationen, man kennt das alles zur Genüge, und vom unbekannten Symptom über die unerwartete Instant-Verschlechterung bis hin zu Dr. Larsens genialem Sherlock-Holmes-Lösungsmoment samt rettender Therapie kann jeder Ärzteserien- oder Ärzte-Soap-Fan die entsprechenden Plot Points wie beim Bingo abhaken, ohne dass sich auch nur eine einzige überraschende Wendung ereignen würde.

Kurzum: Bislang lebt „Doc“ sehr stark von der zugrunde liegenden Amnesie-Idee und dem emotional glaubwürdigen Schauspiel Molly Parkers. Darüber hinaus aber hat die Serie (noch) keinerlei mehrdimensionale Figuren und eher uninteressante medizinische Fälle zu bieten. Das könnte ihr schon in der (bereits bestellten) zweiten Staffel zum Problem werden.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten fünf Episoden von „Doc“.

Meine Wertung: 3/​5

Die zehnteilige Auftaktstaffel der Serie „Doc“ hat ihre Deutschlandpremiere am 31. März im Premiumbereich des Streamingdiensts RTL+. In den USA wurde beim Sender FOX bereits eine 22-teilige zweite Staffel bestellt.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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