2016, Folge 119–133

Aufgrund von fehlenden Programminformationen können doppelte Einträge in der Zeit vor dem 08.11.2012 nicht ausgeschlossen werden.
  • Folge 119
    Mit dem Thema „Kunst als Widerstand“ startet die erste Staffel des „Kulturpalast“ in 2016. Zu Gast ist einer der bekanntesten Gegenwartskünstler der Welt: Ai Wei Wei. Der „Kunsthooligan“ hat es sich auf bewundernswert radikale Weise mit den chinesischen Behörden verscherzt, wohnt jetzt in Berlin und will nicht mehr auf die Dissidenten-Rolle festgelegt werden. Moderatorin Nina Sonnenberg verrät er, was er Neues im Schilde führt. Auch der russische Aktionskünstler Pjotr Pawlenski hat sich seine Rolle als Dissident nicht ausgesucht. Dennoch ist er einer der bekanntesten Köpfe des ästhetischen Widerstands gegen die russische Staatsmacht.
    Seit November sitzt er in Haft. Im „Kulturpalast“ ist der Mann, der einst seinen Hodensack auf den Roten Platz in Moskau nagelte, in einem Interview kurz vor seiner Verhaftung zu sehen. Der Autor Alexander Kühne dagegen würde sich selbst nicht als Widerständler bezeichnen. Trotzdem hat er in der DDR mitten auf dem platten Land eine Festung der ästhetischen Opposition geschaffen. In seinem autobiografisch inspirierten Debütroman „Düsterbusch City Lights“ beschreibt er, wie er einen Club nach Londoner Vorbild gründet, der schnell zum Anziehungspunkt für Punks, Underdogs und schräge Vögel wird.
    Es war weniger die Unterdrückung durch den Staat als die unerbittliche Langeweile, die ihn zum Handeln trieb. Das trifft auch auf das „Wolfpack“ zu, über die jetzt ein Dokumentarfilm erscheint: Sieben Geschwister wurden fast ihre gesamte Kindheit lang von ihrem Vater in einer New Yorker Sozialwohnung eingeschlossen. Ihr einziger Zugang zur Außenwelt: Filme. Schon bald drehte das „Wolfpack“ aufwendig inszenierte Actionfilme in ihrem Wohnzimmer bis sie eines Tages den echten Aufstand wagten und die Isolation durchbrachen. Auf Ai Wei Wei als Gast in der ersten Ausgabe der neuen Staffel folgen in den Sendungen darauf: der „Element of Crime“-Sänger und Erfolgsautor Sven Regener („Herr Lehmann“), Träger der Carl-Zuckmayer-Medaille 2016 für seine Verdienste um die deutsche Sprache, sowie der internationale Kunst-Star Olafur Eliasson, der nichts weniger versucht, als den ganzen Planeten zu retten.
    Auch der Wiener Aktionist Günter Brus, der bei der berüchtigten „Uni-Ferkelei“ nicht mit Körperflüssigkeiten sparte, und die Wiener Facebook-Poetin Stefanie Sargnagel kommen zu Wort. Und natürlich der Mann, der das ganze moderne Kunstschlammassel überhaupt erst angefangen hat: William Shakespeare! 2016 ist er genau 400 Jahre lang nicht tot. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 05.03.20163sat
  • Folge 120
    Noch nie war die deutsche Sprache so beliebt – zumindest in der Popmusik. Zum ersten Mal in der Geschichte der Albumcharts war letztes Jahr die gesamte Liste der Top Ten deutschsprachig. Was ist passiert? Und vor allem: Wie geht es weiter? Schon jetzt zeichnet sich ab: Die deutsche Sprache ist lebendig wie nie. Sie stirbt nicht aus, aber sie verändert sich. Dank Rappern wie Haftbefehl, wissen nicht nur „Chabos“ heutzutage, wer der „Babo“ ist! Und täglich kommen neue Wörter dazu. Moderatorin Nina „Fiva“ Sonnenberg, selbst Slam-Poetin und Rapperin, bespricht den Imagewandel des Deutschen mit Sven Regener, Sänger von „Element of Crime“ und Bestseller-Autor der „Herr Lehmann“-Bücher.
    Sven Regener wurde für seine außerordentlichen Verdienste um die Deutsche Sprache mit der Carl-Zuckmayer-Medaille ausgezeichnet. Zudem treffen wir die Charlotte Bukowski der Gegenwartsliteratur: die Wiener Beisl-Poetin Stefanie Sargnagel. Weisen ihre versoffen klingenden Facebook-Statusmeldungen den Weg in die literarische Zukunft? Oder wo könnte die liegen? (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 12.03.20163sat
  • Folge 121
    Es ist ihr bisher radikalster Film, die Liebesgeschichte einer jungen Frau zu einem Wolf. Nicolette Krebitz, zu Gast im Kulturpalast, führt uns in „Wild“ die Lust am Animalischen vor. Alle Fesseln der Zivilisation einmal von sich werfen? Das innere Tier herauslassen und die eigene triebhafte Seite ausleben? Wer sich danach sehnt, ist hier richtig: Denn diese Woche geht es im Kulturpalast um das „Tier in uns“. Moderatorin Nina „Fiva“ Sonnenberg geht der Frage nach, auf welche Weise Tiere in der Kunst dargestellt werden. Und so viel sei verraten: Wenn ein Tier in einem Kunstwerk auftaucht, dann geht es meist um uns Menschen.
    Genauer: um unser dunkles, verleugnetes, von Moral und Zivilisation unbelecktes Inneres. Und das schon seit über 500 Jahren. Der Maler Hieronymus Bosch war es, der die Bestiarien des Mittelalters weiterentwickelt hat zu einer Menagerie des Seelen-Horrors. In seinen Bildern wimmelt es von Mensch-Tier-Zwittern, die für menschliche Sünden und Abgründe stehen. Nun hat sein niederländischer Landsmann, der Schriftsteller Cees Nooteboom, ein Buch über Hieronymus Bosch geschrieben. Er ist durch dessen Bildwelten gewandelt und hat jede Menge erschreckende Kreaturen getroffen. Auch in der Performancekunst eines Jan Fabre oder eines Alain Platel hat das Kreatürliche und Instinkthafte seinen festen Platz.
    Der Belgier Platel ließ sogar echte Hunde in seinen Stücken auftreten. Noch konsequenter in der Auseinandersetzung mit dem Tierischen ist allerdings die Tanzgruppe „Performance for Cats“. Sie performt tatsächlich für Hauskatzen! Jeder Tierbesitzer kann sie buchen. Die Gruppe sagt: „Tiere produzieren nichts, sondern sie sind einfach. Und das ist auch unser Ziel als Performer und Künstler. Wir fühlen uns als Kollegen.“ Ob die Regisseurin Nicolette Krebitz das von dem Wolf in ihrem neuen Kinofilm „Wild“ auch sagen wird? Im April ist Kinostart. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 19.03.20163sat
  • Folge 122
    Klimawandel, Flüchtlingsströme, wachsende Ungerechtigkeit die To-Do-Liste für Weltretter ist lang. Gut, dass wenigstens ein paar Künstler diesen Planeten vor dem Kollaps bewahren wollen. Allen voran: Olafur Eliasson. Der Däne macht nicht nur mit tollen Installationen von sich reden, er engagiert sich auch: 1,6 Milliarden Menschen ohne Licht will er mit einer „Little Sun“ versorgen. Wie, erklärt er Nina Sonnenberg auf ihrem nachhaltigen Sofa. Mit Kunst die Welt retten? – Klar, sagt auch die russische Latex-Gestalt Sascha Frolowa. Sie ist aus einem quietsch-bunten Paralleluniversum der Zukunft in unser zeitgenössisches Jammertal herabgestiegen und bringt uns eine wichtige Message, die sie in ihrem Bubblegum-Pop verpackt: „Kunst ist der einzige Weg, diese Welt zum Besseren zu verändern und sie zu retten.
    Das macht Künstler zu neuen Superhelden!“ Der Alltag der neuen Superhelden ist allerdings mühsam. Der chinesische Künstler „Brother Nut“ hat einen großen Staubsauger entwickelt, mit dem er ganz Peking absaugt. Die Schadstoffe, die er dabei einfängt, presst er zu Ziegelsteinen und zeigt: Jeder Einwohner der Stadt atmet über die Dauer eines Jahres einen solchen Stein ein. Was Künstler alles für Mutter Erde tun, zeigt Nina Sonnenberg in ihrer aktuellen Ausgabe des „Kulturpalast“. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 26.03.20163sat
  • Folge 123
    Er ist jetzt genau 400 Jahre nicht tot: William Shakespeare, der „Grödraz“. Wie kommt es, dass ein Handschuhmachersohn aus einer Zeit, in der Männer Strumpfhosen trugen, noch heute berührt? Dieser Frage geht Nina „Fiva“ Sonnenberg in einer Extra-Ausgabe von „Kulturpalast“ nach. Ihr Gast: der Mann, den man getrost als legitimen Urenkel des wüsten William bezeichnen kann, Schauspiel-Irrwisch Lars Eidinger. Wenn Lars Eidinger „Richard III“ an der Berliner Schaubühne gibt, ist das Reinkommen schwieriger als im legendären Club Berghain. Und als „Hamlet“ gleicht er weniger einem Theaterschauspieler als dem Frontmann einer international tourenden Rockband inklusive Groupies, die behaupten, das Stück schon zehnmal gesehen zu haben.
    Und sogar als „Lady Capulet“ ist er eingesprungen, als die in seiner „Romeo und Julia“-Inszenierung krank war. Nach all den Jahren mit Shakespeare-Stoffen ist er immer noch fasziniert von dem Dichter. Und er ist nicht der einzige: Jeden Tag erscheint – statistisch gesehen – irgendwo auf der Welt ein Buch über den „größten Dramatiker aller Zeiten“. Seine Werke sind die mit Abstand meistgespielten, und nur die Bibel wird häufiger zitiert.
    Shakespeare hat es offenbar geschafft, derart archetypische Charaktere zu schaffen, dass sich jeder, zu allen Zeiten, mit ihnen identifizieren kann. Kevin Spacey behauptet, dass sein fieser Politiker Frank Underwood in der Serie „House of Cards“ ohne „Richard III“ nicht denkbar wäre. Und natürlich ist die Erfolgsserie „Game of Thrones“ ein einziges Shakespeare-Remake: Macht, Magie, Hass, Mord, Sex und ziemlich komplizierte Familienstrukturen. Der unangefochtene Rekordhalter unter den deutschen Shakespeare-Übersetzern, Frank Günther, zeigt im „Kulturpalast“ die Parallelen und Unterschiede zwischen US-Serien und dem Werk Shakespeares auf.
    Weitere Themen in dieser Ausgabe von „Kulturpalast“: „Drunken Shakespeare“ was passiert, wenn man Macbeth mit fünf Whisky intus spielt. „Globe to Globe“ wie die Truppe des „Globe Theatres“ versucht, ihren Hamlet in allen 196 Ländern der Welt zu spielen. Und: Die Wiener Beisl-Poetin Stefanie Sargnagel verrät ihre Lieblingsschimpfwörter aus dem Oeuvre des Meisters – ganz vorne: der „bangbüchsige, milchherzige, memmischwinkelzügige Sohn und Erbe einer Hundsbastardhure!“ (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 02.04.20163sat
  • Folge 124
    Die Techno-Veteranen von Modeselektor und Apparat sind zu Gast im „Kulturpalast“. Mit der gemeinsamen Band Moderat haben sie gerade die poppigste Platte ihrer Karriere rausgebracht. Klassische Songstrukturen, romantische Refrains, glockenheller Gesang – all das gibt es auf der neuen Platte „Moderat III“. Die Berliner Star-Elektroniker über ihren Weg aus den verschwitzten Technobunkern auf die Frühstücksterrasse des Pop. Aber was ist das eigentlich noch mal genau, „Pop“? Dickbebrillte Pop-Theoretiker setzen den Beginn des „Pop“ irgendwo zwischen dem frühen Mittelalter und 1964 an.
    Wenn man nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner sucht, dann verbinden die meisten mit dem glitzernden Begriff „Pop“ eine ästhetische Haltung: ein Feiern der Oberfläche, des Styles und der Pose, ein schrilles Aufbegehren gegen den grauen Alltag. Eine „Verneinung des Bestehenden zugunsten der Umstehenden“ wie Diederich Diederichsen sagt. Das Gegenteil von Pop: Alte Leute, authentische Rocker, schlechte Laune, Schlabberpullover und das Leben, so wie es wirklich ist.
    Selbst im Feminismus ist der Pop inzwischen nicht mehr wegzudenken: Viele Mitstreiterinnen der 3. Welle umarmen die Popkultur, wollen nicht nur Zustände kritisieren, sondern auch feiern, was positiv ist! Die Britin Laurie Penny gilt als Ikone des Pop-Feminismus und verbindet lässig ihre intelligente Gesellschaftskritik mit Humor und Unterhaltung. Gerade hat sie – nach zwei erfolgreichen Sachbüchern – ihren ersten Prosaband herausgebracht und ist damit auf Lesereise.
    Auch in der bildenden Kunst war die „Pop-Art“ ja so etwas wie eine Gegenbewegung zu der immer kryptischer und humorloser werdenden abstrakten Kunst der 50er Jahre. Plötzlich hielten klare Farben, aufgeblasene Formen und Symbole der Populärkultur – wie Comics oder Colaflaschen – Einzug in die Galerien. Und sie blieb dort: Der Künstler Olaf Breuning, der im Juni eine große Retrospektive in Düsseldorf eröffnet, nimmt Elemente der Konsumkultur, jagt sie durch den Beschleuniger und spuckt so wundersame Dinge aus.
    Die Grenze zwischen hoher Kunst und schrillem Kitsch übermalt er in bester Popart-Manier. Und selbst das lange als Schlappschwanz- und Schnöselliteratur gegeißelte Genre der „Popliteratur“ der 90er Jahre ist zurückgekehrt: Radikaler Gegenwartsbezug, stetes Kreisen um das eigene Erleben, umgangssprachliche Texte und der mit allen Mitteln geführter Kampf gegen den schlimmsten Feind der Jugend – die Langeweile – das sind Elemente, die sich heute wie selbstverständlich in den Texten von Ronja von Rönne finden. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 04.06.20163sat
  • Folge 125
    2016 ist das Jahr der Virtuellen Realität. Auch wenn schon öfter der gute alte „Cyberspace“ erobert werden sollte, jetzt ist mit VR-Brillen die entsprechende Technik auf dem Markt. Im Kulturpalast zeigt Nina Sonnenberg Kunst in der künstlichen Welt und Künstler, die dabei sind unsere nächste Realität zu erfinden. Die philosophischen und ethischen Fragen, die sich dabei auftun, sind groß. Was passiert zum Beispiel mit unserer Psyche, wenn wir zunehmend virtuell unterwegs sind? Löst sich unser „Selbst“ auf, weil wir die Grenze zur Außenwelt nicht mehr klar ziehen können? Auf dem analogen, grünen Sofa im Kulturpalast begrüßt Nina Sonnenberg den VR-Nauten Thorsten Wiedemann und die VR-Schamanin Sara Lisa Vogl.
    Thorsten Wiedemann hat 48 Stunden am Stück mit VR-Brille in einer computergenerierten Umgebung verbracht. Das sei bisher Weltrekord, sagt er. Bis auf eine ausgewachsene Panikattacke lief alles ganz gut. Sara Lisa Vogl hat die VR-Umgebung für ihn designt und nebenher darauf geachtet, dass er das Essen nicht vergisst. Und auch die Frage, wie man in der VR die Toilette benutzt, wird natürlich im Kulturpalast geklärt! Virtuelle Realität scheint eine praktische Sache, wenn es um Besichtigungen von noch nicht gebauten Wohnungen geht oder um die Bekämpfung von Höhenangst.
    Aber schon beim Phänomen des „immersiven Journalismus“ zeigt sich, wie komplex die Fragen sind, die mit VR einhergehen. Mit der neuen Technik lässt sich ein Bombenanschlag in Syrien erleben als wäre man mittendrin. Aufruf zum Voyeurismus? Oder die Chance, sich objektiv selbst ein Bild vor Ort zu machen? Die Amerikanerin Nonny de la Peña gilt als Begründerin des „immersive Journalism“.
    Sie baut mit Hilfe von realem Nachrichtenmaterial eine künstliche Umgebung, die nicht wenige Zuschauer tränenüberströmt zurücklässt. Die Emotionen sind gewollt, denn wer berührt ist, will eher etwas verändern oder mit Spenden helfen. Aber ist das noch Journalismus? Oder schon Psycho-Propaganda für eine gute Sache? Künstler sind naturgemäß unter den ersten, die die Möglichkeiten der Virtual Reality ausprobieren. Wollte nicht schon Wagner mit seiner totalitären Idee des „Gesamtkunstwerks“ das Subjekt überwältigen? Auch ganz ohne digitale Technik haben Künstler „virtuelle Realitäten“ geschaffen.
    Meister dieses Fachs ist das Theaterkollektiv SIGNA mit seinen immersiven Performances. Der Zuschauer sitzt nicht, sondern wandert stundenlang durch verschiedene Räume und interagiert mit den Performern. Auch hier werden die Grenzen von Rezipient und Kunstwerk bis zur Unkenntlichkeit verwischt – wie aktuell in dem alptraumhaften Stück „Wir Hunde“ bei den Wiener Festwochen. Nur den eigenen Körper darf man bei dieser analogen Form der „Virtuellen Realität“ noch behalten. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 11.06.20163sat
  • Folge 126
    Vor 500 Jahren schrieb Thomas Morus „Utopia“. In einer gewalttätigen Epoche an der Schwelle zur Neuzeit erträumte er eine ideale Welt. Haben wir heute noch die Kraft zu solchen Träumen? Zu Gast im „Kulturpalast“: Theatergott Claus Peymann, der weiter an die Kunst als Traumfabrik zum Hervorbringen von Utopien glaubt. Genau wie die Ausstellungsmacher von „Planet B 100 Ideen für eine neue Welt“ im NRW-Forum in Düsseldorf. Dort dient eine aus recycelten Materialien zusammengezimmerte Rakete des Künstlerkollektivs „Labour Fou“ als Labor: Von hier aus brechen internationale Künstler, Designer, Architekten und Wissenschaftler zur Erforschung des 22. Jahrhunderts auf und entwerfen einen Plan B. Vom „Food Hacking“ bis zum quietschgelben „Quatschmobil“: Einem Auto, das nur fährt, solange man bereit ist, zu kommunizieren.
    Das Gespräch dient als Treibstoff. Das Credo der Ausstellungsmacher stammt von dem amerikanischen Informatiker Alan C. Kay: „Die Zukunft kann man am besten voraussagen, wenn man sie selbst gestaltet“. Ähnlich muss das auch der Schöpfer von Star Trek, Gene Roddenberry, gesehen haben: Die Serie um die USS Enterprise nannte er eine „soziale Philosophie“, die auf populäre Weise die humanen Bedingungen des Menschseins diskutiert.
    In dem Science-Fiction-Klassiker beschrieb er eine utopische Welt voller Respekt für alle Kulturen und Lebensformen. Ein Statement gegen Diskriminierung, Sklaverei und Rassismus, ein Plädoyer zur Überwindung von Krieg, Armut und tyrannisch-totalitären Systemen. 50 Jahre gibt es Star Trek nun schon und Gründe genug, weiter an einer besseren Welt zu basteln.
    Passend zum Jubiläum erscheint das Buch des Philosophen Klaus Vieweg „Die Philosophie in Star Trek“. Darin legt er das Gedankengerüst von Kant und Hegel in diesem Blockbuster frei. Ist die Kunst also der Ort, um eine bessere Gesellschaft schon mal Probe zu wohnen, wie es in „Star Trek“ die Crew der USS Enterprise tut? Unbedingt, sagt Claus Peymann, auch wenn seine utopischen Träume im Laufe der Zeit bescheidener geworden sind. Für den kurzen Augenblick im Theater, in dem alle im Raum für das Gute, für die Menschlichkeit mitfiebern, macht er Theater. Das sei der erste Schritt in die Utopie. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 18.06.20163sat
  • Folge 127
    Visionen vom Weltuntergang faszinieren die Menschheit seit eh und je ob in Kino, Literatur oder Theater. Doch selbst die Apokalypse scheint nicht mehr das, was sie mal war … Zu Gast im Kulturpalast ist Herbert Fritsch, Experte für genialen Quatsch und Sinnverschleuderung. Als Regisseur hat er soeben den irrsten Text zur Apokalypse die Offenbarung des Johannes bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen auf die Bühne gebracht. Fliegende Reiter, Heuschreckenschwärme, Plagen – so schön schrecklich wie in der Bibel wurde das Ende der Welt nie wieder herbeigesehnt.
    Die Offenbarung des Johannes ist der saft- und kraftvollste Text zum Weltenende, sozusagen der Klassiker der apokalyptischen Fantasie. Aber auch ein Blick auf die deutsche Gegenwartsliteratur macht klar: Weltenende, derzeit überall. In Nis-Momme Stockmanns „Der Fuchs“ wird Norddeutschland von einer gewaltigen Flut überrascht. Thomas von Steinäckers „Die Verteidigung des Paradieses“ spielt in einem verwüsteten und verseuchten Deutschland, in dem Mutanten umherstreifen. Und auch in Heinz Helles „Eigentlich müssten wir tanzen“ ist die Welt entvölkert.
    Die Frage, was den Menschen in seinem Wesen ausmacht, wird hier vom Ende her gedacht. Aber nicht nur in Deutschland ist der Blick düster: Auch Lia Rodrigues , eine der bedeutendsten Choreographinnen Südamerikas, widmet sich dem Weltuntergang. Ihr aktuelles Stück „For the sky not to fall“, mit dem sie gerade durch Deutschland tourt, baut auf einer Weissagung der Yanomami-Indianer auf: Danach wird uns eines Tages der Himmel auf den Kopf fallen.
    Diese Prophezeiung ist – angesichts des Klimawandels und der Zerstörung des Regenwalds – vielleicht gar nicht so weit von der Realität entfernt. Ein sehr realer Ort, an dem man der Apokalypse gefährlich nah kommt, ist die menschenleere ukrainische Geisterstadt Prypjat, die seit dem Reaktorunglück vom Tschernobyl verstrahlte Sperrzone ist. Genau dorthin ist das französische Parcour-Kollektiv „Hit the road“ illegal gereist und hat beeindruckend beängstigende Fotos mitgebracht. Beim Betrachten dieser realen Endzeit-Bilder wird klar, dass es die Apokalypse – so wie es sie noch in der Bibel gab – nicht mehr gibt.
    Während in der Offenbarung des Johannes das irdische Jammertal ein für alle mal hinweggefegt wird, um danach das göttliche Reich in all seiner Herrlichkeit auferstehen zu lassen, ist die wahre Katastrophe unser Zeit: Dass dieses Schlamassel mit dem die Menschheit sich selbst zerstört, einfach immer und immer weiter geht. Ein goldenes Zeitalter scheint nicht in Sicht. Höchstens im neuen X-men im Kino, da hat der Kampf gegen die Apokalypse gerade erst begonnen. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 25.06.20163sat
  • Folge 128
    „Wenn einer keine Angst hat, dann hat er keine Phantasie“, hat schon Erich Kästner gesagt. Und für manche Künstler ist eine tief sitzende Angst sogar der Urgrund ihres Schaffens. Horrorfilme, wie zuletzt „Die Nachtmahr“ sind aber immer auch Hinweis darauf, wovor sich eine Gesellschaft am meisten fürchtet. Zu Gast im „Kulturpalast“ ist diesmal Ersan Mondtag, gefeierter Shootingstar der Theaterszene und bekennender Liebhaber von Horrorfilmen. Seit zwei Jahren beschäftigt sich Ersan Mondtag in seinen Arbeiten mit Ängsten, die an uns nagen: vor Veränderung, vor Verlust, vor dem Fremden. Mit seinem Stück „Tyrannis“ vom Schauspiel Kassel war er vor kurzem zum Berliner Theatertreffen eingeladen.
    Über zwei Stunden schaut man ohne dass ein Wort gesprochen wird einer Familie bei ihrem ritualisierten Leben zu. Bis die Familie an ihren eigenen Ängsten zerbricht. Eine Horrorvision. Auch der Schweizer Theatermacher Milo Rau ist schon immer dahin gegangen, wo es weh tut. Ob es um den Massenmörder Anders Breivik ging, das Ehepaar Ceausescu, den Völkermord in Ruanda oder den blutige Bürgerkrieg im Kongo – immer hat sich Milo Rau harte Themen gesucht. Jetzt konfrontiert er uns mit der tiefsten Angst, die Eltern haben können: Sein aktuelles Stück handelt von dem belgischen Kindermörder Marc Dutroux.
    Der zweifache Vater Milo Rau lässt Kinder zwischen 8 und 13 Jahren Szenen aus dessen Leben nachspielen. Die Premiere in Brüssel wurde von der Presse als das große Ereignis des Kunstenfestivals frenetisch gefeiert: „Theater in seiner konfrontierendsten, pursten und beunruhigendsten Form“, schrieb eine holländische Tageszeitung. Nun tourt die Inszenierung durch Deutschland. Kunst war schon immer eine kluge Strategie, um uns mit unseren innersten Ängsten zu konfrontieren. Und zwar nicht, in dem sie uns die Ängste nimmt, sondern indem sie Unsicherheiten zulässt.
    Genau darauf kommt es William Kentridge an. Der große südafrikanische Künstler, dem derzeit eine Retrospektive im Martin-Gropius-Bau und ein Schwerpunkt beim Festival Foreign Affairs gewidmet ist, nennt „Unsicherheit“ sein Leitmotiv. Und Angst ist für Kentridge ein Schaffensmotor. Denn selbst wenn sich die Angst in Schlaflosigkeit und Unglück manifestiert, gehört sie für ihn zu dem Prozess dazu, der ihn am Ende zu seinen einzigartigen Bildern bringt. „Das Tollste an der Angst“, sagt Schauspieler Edgar Selge, „ist ja die Existentialität, auf die sie einen zurückwirft.“ (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 02.07.20163sat
  • Folge 129
    Die Briten sind gespalten, in Deutschland gibt es wieder eine rechte Bewegung. In Osteuropa werden die Zäune immer höher und die Demokratien immer löchriger. was sagen die Künstler dazu? Die neue Staffel startet mit einem Europa-Special und zeigt, wie viele Künstler plötzlich ihre Liebe zur EU entdecken. Die Mächtigen kritisieren -das konnten Künstler ja schon immer gut. Aber dass sich jetzt so viele FÜR etwas aussprechen, das ist neu. Der Anarcho-Künstler Bill Drummond, der mit der Band „KLF“ reich wurde, um dann 1 Million Pfund in einem Kamin zu verbrennen, beklagt den Brexit mit einer schaurigen Trauermusik: Er lässt eine Roma-Straßenband die „Ode an die Freude“ in einer Unterführung anstimmen.
    Die Rapperin und Poetin Kate Tempest rauft sich die Haare angesichts des Brexits, der großteils von alten, weißen, dummen Männern herbeigeführt wurde. Im Kulturpalast-Interview klagt sie: „Ich hätte nicht gedacht, dass so etwas zu meinen Lebzeiten noch passieren würde. Ich dachte, wir entwickeln uns weiter: weg von Teilung, Fragmentierung und Angst vor dem Fremden.
    Ich hatte Unrecht.“ Gleichzeitig hofft sie aber auf die einende Kraft der Kunst. So wie einst Gustav Mahler. In seiner 7. Sinfonie klingen – laut Leonard Bernstein – alle kommenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts in Europa an. Das 1908 uraufgeführte Werk endet aber in einem jubelnden Finale. Jetzt hat sich der belgische Choreograf Alain Platel die 7. Sinfonie und die Biographie Malers vorgenommen. Platel sieht Parallellen zwischen der heutigen Situation in Europa und der Umbruchstimmung zu Zeiten Mahlers, als die Nationen Europas in den Ersten Weltkrieg drifteten.
    Eine Warnung? „Nicht schlafen“, nennt Platel sein Mahler-Stück. Aber auch er lässt es halbwegs optimistisch enden. „Es gibt keinen Weg zurück in die Isolation“ sagt er angesichts des heute wieder taumelnden Europas, „dazu sind wir alle viel zu sehr vernetzt“. Der Maler Norbert Bisky, zu Gast auf dem Sofa des Kulturpalasts, ist sich da nicht ganz so sicher. Er findet, dass sich die meisten gar nicht bewusst sind, in was für einem „kostbaren Raum“ sie hier leben.
    Deshalb lässt er auch vermehrt politische Motive in seine quietschbunten Bilder einfließen. Der in der DDR aufgewachsene Bisky sagt, er habe in seinem Leben schon genug Grenzen gesehen. Außerdem in der Sendung: Die „Hausbesuche Europa“, ein Länder übergreifendes Projekt des Theaterkollektivs „Rimini Protokoll“, das ausschließlich in Privatwohnungen stattfindet. Sowie der Film „Europe, she loves“ – ein Film über vier Paare an den Rändern Europas, die ihre Liebe in schwierigen ökonomischen Verhältnissen zu bewahren versuchen. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 01.10.20163sat
  • Folge 130
    Ein Angsttraum wird wahr, der uns Menschen schon oft Schweißperlen auf die Stirn getrieben hat: Die Maschinen erwachen! In allen Lebensbereichen auch in der Kunst. Maschinen und Algorithmen ersetzen Berufe. Ulrich Eberl zeigt in dem Buch „Smarte Maschinen“, was die alles können: uns durch die Gegend chauffieren, Krankheiten genauer diagnostizieren als Ärzte – aber auch Menschen töten, wenn sie das für richtig halten. Das Revolutionäre ist, dass Maschinen nicht mehr nur Programme ausführen, sondern aus Fehlern lernen, auf Unerwartetes reagieren und selbst entscheiden, was zu tun ist.
    Schaffen wir Menschen uns ab? „Nein!“ möchte man rufen: „Wir Menschen sind ja kreativ! Der Roboter, der ein Kunstwerk erschaffen kann, muss erst noch erfunden werden!“ Stimmt nicht: Schon jetzt zeichnen Roboter realistischer, genauer und viel schneller als Kunsthochschulabsolventen. Dieses Jahr erschuf ein Computer mithilfe eines 3D-Druckers ein typisches Rembrandt-Gemälde. Ja, Algorithmen können heute sogar nagelneue Bach-Kantaten wie am Fließband ausspucken.
    Noch sind sie nicht so begnadet wie das Original, aber die Technologie steht ja auch erst am Anfang. Als 2015 die Gruppe „Gob Squad“ die Oper „My Square Lady“ aufgeführt hat, lud sie dazu den Roboter Myon ein und brachte ihm das Dirigieren und sogar das Singen bei. Zumindest halbwegs. „Am Ende war der Roboter“, so Johanna Freiburg von Gob Squad, „mehr ein Weg, zu fragen, was uns als Mensch ausmacht. Wir sehen den Roboter, und reflektieren uns selbst.“ So ergeht es häufig Künstlern, die sich mit Maschinen auseinandersetzen: Am Ende erzählen sie meistens doch etwas über den Menschen.
    Regisseur Ulrich Rasche hat in seiner aktuellen „Räuber“-Inszenierung am Münchner Residenztheater gigantische, drehbare Laufbänder auf die Bühne bauen lassen. Er spannt Schillers Figuren in das Räderwerk eines gewaltigen Maschinentheaters ein, um „die Seele bei ihren geheimsten Operationen zu ertappen“, wie Schiller in seiner Vorrede zu „Die Räuber“ schrieb.
    Als Gast auf dem Kulturpalast-Sofa begrüßt Nina Sonneberg die Schlips tragenden Technoheroen von „Brandt Brauer Frick“, die mit „Gianni“ an der Deutschen Oper Berlin gerade ihre erste Oper sowie auch ein neues Album herausbringen. Sie nehmen die Maschinenmusik und tragen sie zurück ins Analoge und Menschliche: Ihre Songs haben elektronische Strukturen werden aber auf akustischen Orchesterinstrumenten intoniert. Mensch und Maschinen scheinen – zumindest in der Musik von Brandt Brauer Frick – versöhnt. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 08.10.20163sat
  • Folge 131
    Wieso bekam der Massenmörder Charles Manson so viele Heiratsanträge? Und warum begeistern die Rapper von „Außerkontrolle“ weniger mit Musik als vielmehr mit ihrem kriminellen Background? Der „Kulturpalast“ widmet sich dem Thema „Verbrechen“ und fragt, warum dieses oft so fasziniert? Zu Gast ist die Schriftstellerin und Juristin Juli Zeh, die sich immer wieder mit den Abgründen des menschlichen Handels beschäftigt hat. Keine gute Geschichte ohne ein anständiges Verbrechen. Ob Kains Kapitalverbrechen an seinem Bruder, der Raub der Helena im antiken Griechenland oder die Mordserie Macbeths bei Shakespeare – Verbrechen sind aus der Kunst nicht wegzudenken.
    Der gewaltsame Regelbruch, das gezielte, rücksichtslose Überschreiten der zivilisatorischen Vereinbarung verstört und fasziniert zugleich. Und irgendwie scheinen auch Verbrecher selbst anziehend zu wirken. Weiße Mittelschichtjugendliche tragen Hosen im Knast-Look und geben sich alle Mühe, als Ghetto-erfahrene „Original Gangster“ rüberzukommen. Für einen Gangster-Rapper gibt es kaum etwas Geschäftsschädigenderes als die öffentliche Anschuldigung, man sei ja gar nicht so böse … Im Wettbewerb darum, wer der böseste Bube ist, sind die vermummten Rapper von „Außerkontrolle“ ganz vorne: „Echte Verbrecher!“, „Hol die Black & Decker Flex aus dem Keller“, „Wir graben uns einen Tunnel direkt zu den Schließfächern“.
    Die Musiker verpassen keine Gelegenheit, auf ihr kriminelles Vorleben als Mitglieder der Berliner „Gullideckelbande“ hinzuweisen, die verschiedene schwere Einbrüche auf ihrem Konto hat und damit bis in das Pantheon des Verbrechens gelangte: In die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY … ungelöst“.
    Aber woran liegt es eigentlich, dass wir Kriminelle so faszinierend finden? Der amerikanische Massenmörder Charles Manson war ein ungepflegter Waldschrat von nicht mal 1,60 cm Größe und doch zog er andere so in seinen Bann, dass sie bereit waren, die brutalsten Morde zu verüben. Die junge Autorin Emma Cline (27) hat sich für ihren gefeierten Debut-Roman von Manson und seinen Jüngerinnen inspirieren lassen. „The Girls“ erzählt von einem wohlstandsverwahrlostes Mädchen, das in den Sog einer Manson-artigen Psychosekte gerät. Von radikaler Freiheit zur mörderischen Tat scheint es nur ein kleiner Schritt.
    Dostojewskij lässt grüßen. Der hat mit seinem Roman „Schuld und Sühne“ (besser übersetzt: „Verbrechen und Strafe“) das größte Werk der Weltliteratur über die Theorie des Verbrechens geschaffen. Sein Raskolnikov tötet eine Pfandleiherin, nur um zu beweisen, dass er es kann. Ein Verbrechen aus Überheblichkeit, in dem Glauben, dass man wie ein Napoleon über den Kategorien von Gesetz und Schuld stehe. Nun hat der polnische Krawallregisseur Jan Klata „Verbrechen und Strafe“ am Schauspiel Bochum inszeniert.
    Jana Schulz spielt den Raskolnikov – als Irren in einer irrsinnigen Welt. Kann es sein, dass es vielleicht ein grundlegendes Missverständnis gibt, wenn man über Verbrecher und ihre Taten spricht? Juli Zeh ist dem in ihrem aktuellen Roman „Unterleuten“ auf der Spur und sagt: „ Wir machen es uns oft leicht und denken: Es gibt gute Menschen und böse Menschen, oder es gibt normale und verrückte. Die bösen oder die verrückten, das sind dann die Verbrecher. In Wahrheit wollen aber die wenigsten Menschen etwas Böses, und trotzdem passieren ständig schreckliche Dinge auf der Welt.“ Schlummert da etwa ein kleiner Verbrecher in uns allen? (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 15.10.20163sat
  • Folge 132
    Immer schneller, immer besser. Der Schlachtruf der Moderne hat uns weit gebracht. Aber er hat uns und unseren Planeten auch nah an den Burnout geführt. Zeit auf die Bremse zu treten? Der „Kulturpalast“ legt das Smartphone beiseite und feiert zusammen mit zahlreichen Künstlern von Wim Wenders bis Christoph Marthaler ein Fest der Entschleunigung. Denn: Langsamer ist das neue Mehr! Zahlreiche Bestseller und Neuerscheinungen belegen, wie weit verbreitet der Wunsch nach Entschleunigung ist. Den haben auch die Künstler vernommen und versuchen auf vielfältige Art, uns aus unserem beschleunigten Alltag herauszuholen: Wim Wenders’ neuer Film „Die schönen Tage von Aranjuez“ ist ein Gespräch zwischen einer Frau und einem Mann in einem Garten.
    Punkt. Anderthalb Stunden lang. Aber dafür in 3D gedreht. Reduktion in seiner aufwändigsten Form. Nur noch zu toppen von Anders Webergs „Ambiancé“. Der schwedische Regisseur hat sich vorgenommen, den längsten Film der Welt zu drehen: 720 Stunden soll er dauern. Kinostart ist im Jahr 2020. Einen ersten Eindruck kann man aber jetzt schon erhaschen: in einem kurzen Trailer, der ebenfalls Rekordlänge hat: 7 Stunden und 20 Minuten, in denen, so viel sei schon verraten, so gut wie nichts passiert.
    Im Theater ist das natürlich nichts Neues: Denken wir nur an die zeitlosen Abende von Christoph Marthaler. Und auch der Nachwuchs stemmt sich der Stress-gesellschaft entgegen: Der Schweizer Regisseur Thom Lutz, der dieses Jahr erstmals zum Theatertreffen eingeladen war, lässt sich in seiner aktuellen Inszenierung von Max Frischs „Der Mensch erscheint im Holozän“ am Deutschen Theater viel Zeit. Und doch kommt keine Sekunde Langeweile auf. Beschleunigung ist, mit dem Soziologen Hartmut Rosa gesprochen, „Mengenzuwachs pro Zeiteinheit“.
    Insofern muss man die Flut an Entschleunigungsbüchern, Downshifting-Fibeln und Karriereverweigerungs-Bestsellern, die gerade auf dem Büchermarkt brandet, an sich schon als ein Beschleunigungsphänomen betrachten. Wir haben uns eines dieser Bücher herausgepickt: „Im Club der Zeitmillionäre“ von Greta Taubert. Die junge Leipziger Autorin hat Menschen besucht, die in Zeit schwimmen und bei ihnen viel Inspiration gefunden. Karriereverweigerung ist auch das Geschäftsfeld, in dem das Berliner „Haus Bartleby“ Erfolge feiert.
    Mit ihrem Manifest „Sag alles ab“ haben sie eine Anleitung zum lebenslangen Generalstreik verfasst. Und in ihrem „Kapitalismus-Tribunal“ stellen sie den Kapitalismus, den immer heißer drehenden Motor der Beschleunigungsgesellschaft, vor Gericht. Die erste Phase dieses Prozesses fand dieses Jahr auf der Bühne des brut in Wien statt und wurde gerade für den österreichischen Theaterpreis „Nestroy“ nominiert. Anselm Lenz vom Haus Bartleby erklärt als Gast auf dem Kulturpalast-Sofa, warum man über den Kapitalismus reden muss wenn man von Entschleunigung sprechen will. (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 22.10.20163sat
  • Folge 133
    Heute ziehen wir blank im Kulturpalast: Es geht um den „Körper“. Um den perfekten, jungen, muskelbepackten, haarlosen und duftenden Körper. Und um den echten, der leider alles andere ist … Nina Fiva Sonnenberg präsentiert Künstler, deren Werkzeug und künstlerisches Medium der menschliche Körper ist. Allen voran die große Vermesserin des Körpers und bedeutendste deutsche Choreografin: Sasha Waltz. Die gerade zur künftigen Co-Intendantin des Berliner Staatsballetts berufene und vieldiskutierte Sasha Waltz hat mit ihrem Stück „Körper“ Tanzgeschichte geschrieben: Seit 16 Jahren tourt es erfolgreich um die Welt, nun ist das Werk seit Langem erstmals wieder in Berlin zu sehen.
    Ein Bild daraus hat sich ins kollektive kulturelle Gedächtnis gebrannt: Fast nackte Tänzerinnen und Tänzer kleben an einer senkrechten Glasscheibe, wie menschliche Proben auf dem Objektträger eines Mikroskops. Darin offenbart sich der Kern des modernen Verständnis vom Körper: Er ist Objekt. Wir „sind“ keine Körper, sondern wir „haben“ einen Körper.
    Er ist etwas, mit dem wir interagieren. Wir pflegen oder vernachlässigen ihn, wir kämpfen mit ihm, disziplinieren und manipulieren ihn, damit er nicht „streikt“ oder uns den „Dienst versagt“. In jedem Fall aber löst sich der Körper von unserem Ich: Wir werden gleichsam entkörperlicht. Wir müssen nicht mehr stark sein, um noch wie zu Zeiten der Industrialisierung schwere Arbeit zu verrichten, der Körper ist längst ein rein symbolisches Kapital: Eine Visitenkarte für unseren Charakter, eine Ressource für Selfies, die wir mit Operationen, Tattoos und Fotoshop perfektionieren.
    Wir tragen unsere Haut zu Markte. In unübertroffener Radikalität hat das der Performancekünstler Ulay zum Ausdruck gebracht. Er ließ sich 1972 ein Tattoo auf den Unterarm stechen und anschließend das Stück Haut von einem Chirurgen herausschneiden, um es dann als Kunstwerk an die Wand zu hängen. Das Werk ist jetzt in einer großen Ulay-Retrospektive in der Frankfurter Schirn zu betrachten.
    Ebenso dort zu sehen: Die radikalen Körper-Performances, die ihn und seine damalige Partnerin Marina Abramovic berühmt gemacht haben. Sie ohrfeigten sich gegenseitig, rannten mit voller Wucht ineinander, richteten einen gespannten Bogen auf sich – Die Verletzung gehörte dazu, der Tod war als Möglichkeit im Raum. Die radikale Körperkunst der 70er lässt sich lesen als ein letztes heroisches Aufbäumen gegen die Entkörperlichung in der Spätmoderne: Echtes Blut! Echte Tränen! Gleichzeitig aber auch als das Gegenteil: Der Ausverkauf und Vermarktung der letzten Bastion des Individuums: Der körperlichen Unversehrtheit.
    Heute, wo wir den Körper nahezu verloren haben, ist er allgegenwärtig. Allerdings nicht als realer Körper, wie ihn noch Abramovic und Ulay zum Thema machten, sondern als perfektioniertes, unerreichbares Abbild. Nacktheit ist kein Tabu mehr, das Tabu heute ist die Nicht-Perfektion: Als die junge New Yorker Künstlerin Petra Collins ein Foto von ihrer Bikinizone auf Instagram postete – inklusive Schamhaar, das hinter dem Bikini hervorlugte – gab es einen Skandal.
    Collins Instagramaccount wurde gesperrt. Dieses Tabu thematisiert auch der Elektro-Avantgardist Matthew Herbert mit seinem neuen Album „A Nude – The Perfect Body“. Musik, die ausschließlich aus Körpergeräuschen besteht, vom Schnarchen bis zum Sex. Vom Schlucken bis zum Gegenteil davon. Matthew Herbert erinnert uns daran, was ein Körper – jenseits der perfekten Abbildung – wirklich ist. Mit Charles Baudelaire gesprochen: „Herr, gib mir die Kraft und den Mut, mein Herz und meinen Körper ohne Ekel zu betrachten!“ (Text: 3sat)
    Deutsche TV-PremiereSa 29.10.20163sat

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