„Zeit der Geheimnisse“: Top besetzte Weihnachts-Edelsoap lockt ganz neue Netflix-Zielgruppen an – Review

Der deutsche Dreiteiler mit Christiane Paul und Corinna Harfouch in übervoller Familiengeschichte

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 20.11.2019, 10:08 Uhr

„Zeit der Geheimnisse“ – Bild: Netflix
„Zeit der Geheimnisse“

Wer glaubte, deutschsprachige Netflix-Serien müssten sich mit ihren rätselhaften Zeitreisen („Dark“), nerdigen Drogendealern („How to Sell Drugs Online [Fast]“) oder rebellischen Schülern („Wir sind die Welle“) grundsätzlich an jüngere Zielgruppen richten, der hat noch keinen Blick auf die neue Miniserie „Zeit der Geheimnisse“ geworfen – denn die ist so etwas wie der letztlich unvermeidliche Eintritt des seligen Schwiegermutterfernsehens in die Welt der Streamingplattformen. Wobei „Miniserie“ schon ein großes Wort ist für die drei ca. 35-minütigen Episoden, die zusammengenommen so etwas ergeben wie einen typischen, freilich qualitativ hochwertig produzierten TV-Film im voradventlichen Herzkino-Modus. In diese Richtung weist auch schon der Titel.

Dass Netflix versucht, neue Zuschauerinnen ins gemütlich auf nicht allzu hohen Wellen wogende Binge-Boot zu holen, ist verständlich. Die Generation 45+ hält sich zum Stillen ihres Entertainmenthungers noch überwiegend ans vorgegebene Programm des linearen Fernsehens, und sie endlich ebenfalls „herüberzulocken“ in die Algorithmenwelt der Streamer, ist eine zentrale Herausforderung von Netflix und Co. Und wenn sie das mit Produktionen tun, die die Messlatten deutscher Fernsehdramen schon qua ihrer Top-Besetzung locker überspringen: Warum nicht?

Größere Vorwürfe kann man „Zeit der Geheimnisse“ nicht machen, sofern man das Ganze als knapp zweistündigen, zielgruppenbewusst entwickelten Film betrachtet, der nur mittels zweier mitteltemperierter Cliffhanger in drei kurze Episoden unterteilt wurde. Autorin Katharina Eyssen („Heute bin ich blond“), auch Showrunner, konzipierte das Drehbuch in Anlehnung an eine spanische Vorlage der Katalanin Pau Freixas. Anders als im (noch nicht fertigproduzierten) Original geht es in „Zeit der Geheimnisse“ nicht um vier, sondern lediglich um zwei Schwestern, außerdem um ihre Mutter, deren Mutter und ein bisschen noch um deren Mutter – und nur am Rande um die Männer in ihrem Leben. Verhandelt werden, verteilt über drei Zeitebenen, die jeweils an Weihnachten spielen, die üblichen kleinen wie größeren Kränkungen und Eifersüchteleien, die sich in den diversen denkbar gegensätzlich angelegten Tochter-Mutter- und Tochter-Großmutter-Beziehungen so ansammeln. Es gibt ein bis zwei jener aufzudeckenden „Geheimnisse“, auf die der Titel anspielt, und am Rande noch Berührungspunkte mit der deutschen Geschichte – von den Weltkriegen über den RAF-Terrorismus bis ins wiedervereinigte Land. Zentraler (und einziger) Spielort ist ein wunderschönes, reetgedecktes Haus an einem nicht näher genannten Nordseestrand (gedreht wurde in Dänemark und Ungarn), um das beständig die Weihnachtswinde wehen, auf dass das Dünengras wild wogt und die Gischt pittoresk anbraust gegen das Schicksal.

Enkelin Vivi (Svenja Jung) vor dem heimlichen Protagonisten, dem Haus.

Regisseurin Samira Radsi („Anduni – Fremde Heimat“, „Die Protokollantin“) verschränkt die visuellen Stimmungssequenzen gekonnt mit manchmal überraschend rasanten Dialoggefechten, doch das größte Plus der Produktion ist zweifelsohne die Besetzung. Mit Corinna Harfouch (gerade als „Lara“ im Kino) als Oma Eva steht eine verlässlich großartige Schauspielerin sturmfest im Zentrum des Geschehens, als ihre Enkelinnen Vivi (Typ rebellische Künstlerin) und Lara (Typ strebsame Naturwissenschaftlerin) spielen Svenja Jung („Traumfabrik“) und Leonie Benesch („Das weiße Band“, „Babylon Berlin“) souverän über die in ihren Rollenprofilen angelegten Klischees hinweg. Am besten gefällt allerdings Christiane Paul („Im Juli“, „Counterpart“) als gerade erst vom Alkoholismus losgekommene Mutter Sonja – es ist die Scharnierrolle einer immer freiheitsliebenden, oft orientierungslosen Frau, die sich permanent in beide Richtungen rechtfertigen muss, den Töchtern und ihrer Mutter gegenüber. So oft man diese Konstellation in Fernsehfilmen schon durchgespielt gesehen hat: Paul macht das sehr überzeugend und sorgt für die berührendsten Momente dieses Dreiteilers.

Die in die Jahre gekommene Eva (Corinna Harfouch) zwischen ihren Enkelinnen Lara (Leonie Benesch, l.) und Vivi (Svenja Jung)

Der Plot selbst ist, vom Ende her betrachtet, so aufregend nicht. Interessant ist eher die zeitliche Dreigleisigkeit, mittels derer Eyssen ihn ablaufen lässt. Aus der Gegenwart, in der am Weihnachtsfest die „Geheimnisse“ aufgedeckt werden, blendet sie immer wieder zurück zu den Weihnachtsfesten im Wendejahr 1989 und dann 2004, an denen sich die Familie ebenfalls im Nordseehaus traf und dort ebenfalls einschneidende Erlebnisse machte. Diese Erlebnisse werden nach und nach enthüllt, was der Miniserie einen dezenten Krimi-Touch verleiht – ehe es in der dritten Episode dann kurz mal rund geht.

Feierfreudig: Sonja (Christiane Paul; r.)

Die drei Zeitebenen bringen es mit sich, dass die Protagonistinnen und Nebenfiguren von unterschiedlichen Schauspielerinnen und Schauspielern verkörpert werden; man muss sich also schon ein wenig hineinsehen in diese Story, um da bei den Verwandtschaftsverhältnissen nicht den Überblick zu verlieren. Das Casting behält auch dabei seine Qualität. Die junge Sonja etwa wird von Emilie Neumeister (gerade im Kino mit „Im Niemandsland“) ganz wunderbar gespielt, und auch viele andere Dopplungen gehen gut auf; etwa Maik Solbach („Emmas Glück“) und Matti Schmidt-Schaller („Armans Geheimnis“) als ältere und jüngere Version des Arztes Hans, der als Sonjas Ex-Liebhaber eine kleine, entscheidende Rolle spielt.

Corinna Harfouch als Mutter und Großmutter Eva.

Grundsätzlich präsentiert sich „Zeit der Geheimnisse“ als Remix gängiger Melodramversatzstücke mit zahlreichen Figurentypen, die man so ähnlich schon x-mal gesehen hat: die skurrile Haushaltshilfe vom Balkan, die mit Eva alt geworden ist; die demente Uroma (Barbara Nüsse mit schön trockenen Onelinern); der vom Krieg psychisch zerstörte, verbitterte Großvater; der gütige Gänsehändler (Thilo Prothmann aus „Der Kuckuck und der Esel“) als verschmähtes Love Interest. Natürlich ist die in die Großstadt geflohene Musikertochter Vivi mit ihrem Leben unzufrieden und der freundliche Provinzpolizist Anton noch in sie verliebt; natürlich muss die brave Schwester Lara mit einem übergriffigen Tennisplatzerben (Dennis Herrmann, „Rabenmütter“) verlobt sein. Und natürlich wird jemand sterben.

Auch Sonja, die gegen die (schon im Vorspann zeichnerisch visualisierten) tiefen Verwurzelungen der Familie früh rebellierte, erst mit einem Terroristen (Merlin Rose aus „Als wir träumten“) durchbrennen wollte, dann mit einer Frau zusammenlebte, balanciert als Figur auf dem Papier nah am Rand der Kolportage, doch durch Pauls (und Neumeisters) Spiel wird sie zur spannendsten Figur der Erzählung. Und Harfouch (die als Einzige in allen Zeitebenen zu sehen ist) gelingt es wieder einmal, in ihrem meist so gefährlich kontrolliertem, fast minimalistischem, mal harschem, mal spöttischem Spiel all den Schmerz sichtbar zu machen, der sich in Evas Leben angesammelt hat.

Mutter Sonja (Christiane Paul; l.) mit ihren Töchtern Vivi (Svenja Jung, M.) und Lara (Leonie Benesch)

Selbst in die Fluchtgeschichte aus Evas Kindheit blendet der Dreiteiler zurück: Insgesamt ist es gewiss etwas zu viel Stoff, der hier in die vielleicht 110 Minuten Spielzeit gedrückt wird. Am Ende türmen sich die Schnulzenmotive um verfehlte Partner- und vermeintliche Elternschaften nur so aufeinander. Das raubt den einzelnen Geschichten der vier so sorgfältig gespielten Protagonistinnen den nötigen Raum zur Entfaltung, weshalb es manches Mal den Anschein hat, als würde der „große Atem“ der Geschichte erst noch durchs Annette Focks’ routiniert stimmungsvolles Geklimper und Gezupfe auf dem Soundtrack und jede Menge ausstattungstechnische Strickmützenbehaglichkeit beglaubigt werden müssen. Einen Voiceover, in dem viel esoterischer Edelkitsch vom „Wiedereinswerden mit dem Meer“ umhergeraunt wird, gibt es zwangsläufig auch. Wahrscheinlich aber sind dies bloß die Standards herkömmlicher Unter-jedem-Dach-ein-Ach-Dramaturgien ­­­- und die scheint es zu brauchen, um die anvisierte Zielgruppe anzulocken. Tante Gisela demnächst bei Netflix? Diese drei sorgfältig produzierten Folgen könnten das schaffen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie „Zeit der Geheimnisse“.

Meine Wertung: 3/​5


Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: Netflix/​Nik Konietzny/​Katalin Vermes


Die dreiteilige Miniserie „Zeit der Geheimnisse“ ist von Netflix am 20. November 2019 veröffentlicht worden.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1967) am

    Sorry, aber, nie im Leben NUR 3 Sterne!!!

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