„Peripherie“: Dystopie-Nachschub mit Chloë Grace Moretz – Review

Neue Sci-Fi-Serie der „Westworld“-Produzenten muss noch etwas an Sogkraft zulegen

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 20.10.2022, 18:55 Uhr

Im Klammergriff des Headsets: Flynne Fisher (Chloë Grace Moretz) findet Realität im Virtuellen. – Bild: Prime Video
Im Klammergriff des Headsets: Flynne Fisher (Chloë Grace Moretz) findet Realität im Virtuellen.

Ist das alles nur ein großer Witz, in dem wir hier leben? Das würde sicher viel erklären. Oder existieren wir womöglich nur in der Vergangenheit anderer Menschen? Gibt es die Realität, und wenn ja, ist es die einzige? Um Fragen wie diese dreht sich ein Gutteil der avancierten Science-Fiction und auch das schriftstellerische Werk des Cyberpunk-Pioniers und Sci-Fi-Renovators William Gibson. Um die Serien-Bearbeitung seines Romans „Peripherie“ haben sich nun Lisa Joy und Jonathan Nolan als ausführende Produzenten gekümmert. Als Macher der Androiden-Serie „Westworld“ kennen sie sich mit virtuellen Welten und simulierten Realitäten bekanntlich bestens aus. Doch die ersten Episoden dieser nun bei Amazon Prime Video startenden dunklen Zukunftsfantasie kommen – trotz faszinierender Visuals – etwas mühsam aus dem Quark.

Seit den frühen Achtzigern bereichert William Gibson die Science-Fiction mit philosophisch-intellektuellen Erzählungen über die Implikationen neuartiger und weitergedachter Technologien, meist verpackt in spannende Neo-Noir-Thriller-Plots. Dennoch fand der Erfinder des Begriffs „Cyberspace“ in Kino, Fernsehen und Streaming bis dato kaum statt. Abgesehen von den wenig erfolgreichen Kinofilmen „Johnny Mnemonic“ und „New Rose Hotel“, die auf Gibson-Kurzgeschichten basieren, war da gar nichts, selbst sein berühmtester Roman „Neuromancer“ blieb bis heute unverfilmt. Momentan (Gibson ist inzwischen 74 Jahre alt) scheint sich da allerdings etwas zu ändern. Nicht nur plant „Imitation Game“-Regisseur Morten Tyldum derzeit eine Filmversion von Gibsons Roman „Mustererkennung“, mit „Peripherie“ kommt jetzt auch eine Streamingserie heraus, die durchaus heiß erwartet wurde – schließlich kümmerte sich mit Joy/​Nolan eines der im Sci-Fi-Bereich derzeit angesagtesten Kreativduos um deren Entwicklung, und mit Scott B. Smith fungierte ein oscarnominierter Schriftsteller („Ein einfacher Plan“) als Hauptautor und Showrunner der ersten Staffel.

Der Roman „Peripherie“ bildete 2014 den Auftakt von Gibsons bis dato noch nicht abgeschlossener „Jackpot“-Trilogie; der Begriff „Jackpot“ bezeichnet darin eine apokalyptische Katastrophe, deren Vor- und Nachgang die Romane verfolgen. „Peripherie“ selbst spielt im Wesentlichen auf zwei Zeitebenen, die erzählerisch clever miteinander verwoben, in den ersten Serienfolgen aber dramaturgisch noch recht grobklotzig zusammengeschraubt werden.

Hat’s nicht leicht: Ex-Marine Burton Fisher (Jack Reynor) war Versuchskaninchen einer Spezialeinheit. Prime Video

Die erste Erzählebene kreist um die Mittzwanzigerin Flynne Fisher (Chloë Grace Moretz), die in einer von heute aus gesehen noch relativ nahen Zukunft (2032) in einem kleinen Kaff in den Appalachen ihr bescheidenes Dasein fristet und in einem 3D-Druckerladen jobbt. Den technischen Fortschritt der kommenden zehn Jahre zeigen allenfalls ihr fancy Fahrrad und die Tatsache an, dass es in Zukunft schon als verdächtig gilt, an einem Bankautomaten so etwas aus der Zeit Gefallenes wie Bargeld zu ziehen. Kurze Schlaglichter skizzieren ihr Leben: Flynne ist solo, scheint aber seit Schultagen in den örtlichen Polizisten Tommy (Alex Hernandez) verknallt zu sein; ihre Mutter Ella (Melinda Page Hamilton, „Messiah“) siecht krank dahin, doch nicht einmal für die Medikamente reicht das Geld. Die Kasse bessert sich Flynne als Gamerin auf, wenn sie anstelle ihres für solvente Kunden stellvertretend zockenden Bruders Burton (Jack Reynor, „Transformers: Ära des Untergangs“, „Midsommar“) in dessen Online-Avatar schlüpft und gegen Geld höhere Levels erspielt. In den Games von 2032, „Sims“ genannt, hat sich, so sieht es aus, die virtuelle der angeblich wirklichen Wirklichkeit schon täuschend nah angeglichen; in der Regie von Vincenzo Natali („Cube“) wird sie durch eine grafische Vereinfachung ästhetisch dezent kenntlich gemacht.

Eines Tages bekommt Burton den Auftrag für den Beta-Test einer sogar noch perfekteren „Sim“. Wieder bittet der im Dienst einer Cyber-Einheit versehrte Ex-Marine seine deutlich gewieftere Schwester, den Job an seiner statt und in der virtuellen Hülle seines eigenen Avatars zu erfüllen. In Abweichung von Gibsons Roman (in dem Flynne bei einem Security-Job in der virtuellen Realität einen Mord beobachtet) soll sie hier in einem merkwürdig entvölkerten London des Jahres 2099 bei einem spektakulären Raubzug assistieren. Dafür muss sie eine mondäne Frau verführen (in der Hülle ihres Bruders) und sich deren Auge einpflanzen lassen (eine höchst unappetitliche Szene), um dann, angeleitet von der mysteriösen Aelita (Charlotte Riley aus „Sturmhöhe“), in einen geheimen Kellerraum des zweifelhaften „Research Institute“ einzudringen und dort Daten aus einer mysteriösen, kopfüber hängenden Pyramide abzugreifen. Der kuriose Job schlägt fehl, Aelita verschwindet – und die 2032er Flynne schwört sich, niemals mehr in dieses angebliche Programm zurückzukehren. Doch das wird natürlich nicht klappen: Ein ernster Brite namens Wilf (Gary Carr aus „Death in Paradise“) kontaktiert sie aus der Virtualität heraus und warnt sie: Sie sei in tödlicher Gefahr!

Begegnung im London der fernen Zukunft: Flynne trifft auf Wilf Netherton (Gary Carr). Prime Video

Die Realität von Wilf und Aelita im Jahr 2099, die Flynnes Avatar (die titelgebende „Peripherie“ ihres eigenen Körpers) besuchen kann, bildet die zweite, post-apokalyptische Ebene der Erzählung. Das London nach dem verheerenden „Jackpot“, der weite Teile der Menschheit auslöschte, sieht allerdings gar nicht katastrophisch, sondern schick und wohlhabend und leer aus. Die Visuals der Serie sind faszinierend. Schon in der stylishen Titelsequenz wird ehrfürchtig über die von Riesenstatuen und bizarren Hochhäusern gespickte Stadt geflogen, wobei gezielt auf Simulationsästhetik abgezielt wird und immer wieder Glitches eingeflochten werden, was darauf hindeutet, dass dieses London nicht so ganz echt sein kann, wie es scheint. Per Fingerschnipsen können die Bewohner Klänge ausblenden und Räume abschotten, die Straßen sind zu digitalen Oberflächen geworden. Was Wilf und Aelita vorhaben, wird in den ersten Folgen nicht enthüllt, und was sie mit dem steinreichen Lev (JJ Feild, „Austenland“) und seinen grimmigen technicals, der mit animierten Tattoos gesegneten Ash (Katie Leung, „The Foreigner“) und dem in verschlüsselter Sprache kommunizierenden Ossian (Julian Moore-Cook), zu tun haben, schon gleich gar nicht. Klar wird nur, dass Lev an die Informationen heranwill, die Flynne im Keller des Research Institute erlangte – und dass die Institutschefin Cherise, eiskalt gespielt von T’Nia Miller („Spuk in Bly Manor“, „Years and Years“), das unbedingt verhindern möchte.

Wie sich Flynne, Burton und seine ebenfalls im Dienst traumatisierten Soldatenfreunde (darunter als mehrfach Amputierter im speziellen Rollgefährt: Eli Goree aus „One Night in Miami“ und „Zeit für Legenden“) den von Cherise entsandten Killern entgegenstellen, ist das bislang Spannendste der ersten Folgen. Wie schon in „Westworld“ scheinen Joy/​Nolan dafür zu sorgen, mindestens eine heftige, trocken durchchoreografierte Action- bzw. Gewaltszene pro Episode einzustreuen. (Parallelen wären auch in der Verbindung von US-Landidylle, Zukunftstechnologie und blonder Protagonistin zu finden.) Das Worldbuilding klappt in der 2032-Timeline überhaupt deutlich besser als im noch sehr distanziert und steif gehaltenen Zukunftshandlungsstrang. Sukzessive finden mehr Bewohner der prekären Kleinstadt, in der die Apotheken „Pharma Jon“ heißen, Eingang in die Erzählung, vom brutal-lokalen Drogen- und Medikamentebaron (Louis Herthum, „Home Before Dark“) und seinem Handlanger Jasper (Chris Coy, „The Deuce“) bis zu Flynnes bester Freundin Billy Ann (Adelind Horan) und Burtons jovialem Kumpel Leon (Austin Rising).

Wenn der Staat nicht liefert, profitiert der Drogenbaron: Mr. Pickett (Louis Herthum) verkauft Pillen. Prime Video

Die erkrankte Mutter wird, wie die Killer, zu einer der Scharniergestalten zwischen den beiden Erzählebenen, als Wilf aus der vermeintlich virtuellen Zukunft neu entwickelte Medizin gegen Ellas Leiden schicken lässt. Wie genau sieht also das Verhältnis der Zeitebenen aus? Wer hängt hier von wem ab? Wer ist die Vergangenheit bzw. Zukunft der anderen? Welche Ebene wird von der anderen als real gedacht? Genaueres darf man Nicht-Kennern des Romans natürlich nicht verraten, klar ist aber von Anfang an, dass es um Quasi-Zeitreisen in Form von Datentransfers (a.k.a. „Quantum-Tunneling“) und sogenannte stubs gehen wird: Als solche werden Timelines bezeichnet, die, sobald sich die Zukunft einmischt, vom Rest der Realität abzweigen.

Als personeller Anker in diesem einigermaßen komplexen, aber eingangs noch nicht vollends aufgehenden Mix aus Gibson-Thinkpiece, „Matrix“- und „Ready Player One“-Motiven, Denis-Villeneuve-Ästhetik, Noir-Thriller und Kleinstadt-Ensembledrama ist unmissverständlich Chloë Grace Moretz vorgesehen, die sich ja schon lange von ihren Kinderstar-Wurzeln (in Kult-Hits wie „Kick-Ass“ und „Let me in“) emanzipiert hat und hier mehr als im Roman als treibende Kraft agieren muss, vergleichbar natürlich, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen, mit Evan Rachel Woods Dolores-Figur in „Westworld“. In den ersten Episoden sorgt Moretz jedenfalls mühelos für die nötige emotionale Grundierung, und dennoch ist selbst sie nicht ganz in der Lage, das Publikum mit Nachdruck in die zweigleisige Geschichte hineinzulocken. Zu disparat wirken bislang noch die einzelnen Teile, zu irritierend sind die Brüche zwischen sonnigem US-Hinterland und aseptischer London-Zukunft. Klarerweise gehört dieser Gegensatz zum Konzept von Roman und Serie, doch wenn nach zwei Stunden Laufzeit immer noch keine echten Sogeffekte auftreten und die Stil- und Zeitwechsel eher ungelenk als elegant wirken, dann ist erste Skepsis durchaus angebracht. Mal sehen, ob sich diese Zweifel erledigen im weiteren Verlauf der acht Folgen, die nun im Wochentakt bei Prime Video aufschlagen.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten zwei Folgen von „Peripherie“.

Meine Wertung: 3/​5

Die Serie „Peripherie“ wird ab dem 21. Oktober wöchentlich bei Amazon Prime Video veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Genialer Serienstart! Bin gespannt ob es auf diesem Level weitergeht.....
    • am via tvforen.de

      Ich bin nach den ersten zwei Folgen noch nicht wirklich geflasht.
      • (geb. 1967) am

        Ich konnnte schon mit "Westworld" überhaupt null was anfangen ( habe schon in Folge 1 null gecheckt, was mir diese Serie eigentlich sagen will), stehe auch null auf SiFi, die in 100 oder was weiß ich wievielen Jahren in der Zukunft spielen! Trotzdem ich Chloe Grace Moretz sehr gerne sogar sehe, werde ich mir das Ding wahrscheinlich eher nicht ansehen....

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