„Verschwiegen“: Chris Evans und Michelle Dockery tragen solide gebautes Crime- und Moraldrama – Review

AppleTV+-Produktion mit hochkarätiger Besetzung lässt Originalität vermissen

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 23.04.2020, 19:00 Uhr

„Defending Jacob“ – Family is unconditional – Bild: Apple TV+
„Defending Jacob“ – Family is unconditional

Die Gewissensfrage, die der Miniserie „Verschwiegen“ zugrunde liegt, geht so: Was würdest du tun, wenn du ein respektiertes Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft bist und dein halbwüchsiger Sohn plötzlich des Mordes verdächtigt wird? Die Beantwortung dieser Frage war der Stoff des vielgepriesenen Kriminalromans „Defending Jacob“ von William Landay, der zur Abwechslung mal nicht auf einem wahren Fall basierte und damit dem grassierenden True-Crime-Trend angenehm zuwiderlief. Die Verfilmung für den Streamingdienst AppleTV+ wurde nun von Mark Bomback entwickelt. Der Autor fiel in den letzten Jahren vor allem als Spezialist für Science-Fiction-Remakes auf („Total Recall“, zwei „Planet der Affen“-Filme).

Als Regisseur aller acht Episoden, die in Deutschland unter dem leicht abgegriffenen Titel „Verschwiegen“ angeboten werden, fungiert der Norweger Morten Tyldum („The Imitation Game – Ein streng geheimes Leben“, „Headhunters“), bekannt als fähiger Handwerker. In seinen gern in ein bedrückendes Dunkelblau getauchten Bildern wabert das Verhängnis von Anfang an durch den Plot, selbst, wenn der eingangs noch das stereotype Bild einer glücklichen Familie in intakten sozialen Zusammenhängen konstruiert: Da wäre zunächst der Vater Andy, der in Newton, Massachusetts, ein paar Meilen westlich von Boston, als Assistant D.A. arbeitet (auf Deutsch wäre das so etwas wie ein Amtsanwalt) und weithin respektiert wird; seine Gattin Laurie arbeitet in einer Kita für unterprivilegierte Kinder, auch sie gilt als wertvoller Bestandteil der Community. Beide sind smart, attraktiv, Ende dreißig, man lebt in einem schmucken (und geschmackvoll eingerichteten) Haus in einer dieser typischen Vorstadtsiedlungen mit Vorgärten, Picket Fences und Autos vor der Tür.

Laurie und Andy sind schon ewig zusammen, ihr Sohn Jacob ist jetzt 14. Wie fast alle Teenager in diesem Alter hängt er meist über seinem Smartphone oder mit dem Kumpel vor der Videospielkonsole; nichts an ihm scheint sonderlich auffällig, er ist weder besonders bockig noch besonders kommunikativ, den Eltern versucht er ebenso verständnisvoll zu begegnen wie diese ihm gegenüber.

Jaeden Martell als Jacob in „Verschwiegen“. Apple TV+

Diese zunächst mal sehr alltägliche Situation könnte uns öde vorkommen, sie profitiert aber vom hochkarätigen Cast: Chris Evans (der die Serie mitproduzierte) nutzt die Rolle des Andy, um sich, vollbärtig und meist im Anzug, möglichst weit wegzubewegen vom Marvel Cinematic Universe, in dem er sieben Filme und acht Jahre lang den schildbewehrten Comic-Superhelden Captain America verkörperte. An „Downton Abbey“-Star Michelle Dockery in einer Nicht-Kostümrolle muss man sich, wie neulich schon im Kinofilm „The Gentlemen“, kurz gewöhnen, dann aber passt es wunderbar. Evans und Dockery vermögen es aus dem Stand, zugleich eine familiäre Vertrautheit miteinander auszustrahlen – und darunter doch Ansätze kleiner Risse, möglicher Überheblichkeiten oder fataler Unsicherheiten durchscheinen zu lassen. Der in der Stephen-King-Verfilmung „Es“ bekannt gewordene Jaeden Martell als Jacob ist sowieso ein echtes Naturtalent: Es gelingt ihm auf famose Weise, gleichzeitig völlig arglos und eben doch latent verdächtig zu wirken. Das ist kein geringes Kunststück – und für das weitere Funktionieren der Serie überaus wichtig. Denn Jacob gerät rasch ins Zwielicht und muss, wie der Originaltitel besagt, „verteidigt“ werden. Wenn von sonst schon niemandem, dann wenigstens von seiner eigenen Familie.

Eines Morgens liegt also der Schüler Ben Rifkin tot im Park nahe der Schule, von mehreren Messerstichen niedergestreckt. Das Entsetzen ist groß. Amtsanwalt Andy ist für den Fall zuständig, er begleitet Polizistin Duffy (Betty Gabriel, „Unknown User 2: Dark Web“) bei den ersten Ermittlungen. Die führen zunächst zum pädophilen Leonard Patz (Daniel Henshall, „Der Babadook“), der die Sache aber abstreitet – tatsächlich gibt es keine Anzeichen für sexuelle Gewalt. Dann tauchen verdächtige Posts in sozialen Medien auf: Jacob Barber wird darin des Mordes bezichtigt, er besäße schließlich ein Messer. Ein Messer findet sich dann auch tatsächlich in der Nachttischschublade des Knaben: Andy und Laurie sind entgeistert, stellen den Jungen zur Rede, der streitet alles ab, Andy lässt die Waffe verschwinden. Als sich aber Jacobs Fingerabdrücke auf der Leiche finden, nimmt das Verhängnis seinen Lauf: Jacob wird verhaftet, Andy wird von dem Fall abberufen. Wie in gefühlt jeder dritten Serie (von „Mr. Mercedes“ über „Riverdale“ bis „Britannia“) wird irgendwann Donovans Song „Season of the Witch“ über die Tonspur gejagt.

Vater Andy (Chris Evans), Sohn Jacob (Jaeden Martell) und Mutter Laurie (Michelle Dockery) in „Verschwiegen“. Apple TV+

Wie die Katastrophe ins Leben der Barbers schleicht, das erzählen Bomback und Tyldum durchaus pointiert: Zwischen dem nächtlichen Geständnis der im Bett liegenden Eheleute, froh darüber zu sein, dass nicht ihr eigener Sohn Opfer des Mörders geworden ist, sondern das Kind anderer Eltern, und ihrer Fassungslosigkeit darüber, dass der eigene Spross tatverdächtig ist, liegen nur wenige Stunden, aber es wirkt wie ein plötzlicher Wechsel in einen anderen Aggregatzustand. Wer den Roman kennt, weiß, wie sehr die Familie durch Jacobs Verhaftung (nicht nur sozial) entgleisen wird und dass sich die eigentliche Thematik der Story erst herauskristallisieren wird: Andys Vater (in der Serie gespielt von Oscarpreisträger J.K. Simmons, „Whiplash“) sitzt als Mörder im Knast, und so sehr Andy auch entschlossen ist, Jacob zu verteidigen, so wenig können er und Laurie doch ihre Restzweifel besiegen – gerade auch, weil Andy von der Frage gepiesackt wird, ob es nicht so etwas wie ein „Mörder-Gen“ gibt, das sich vom Opa auf den Enkel übertragen haben könnte – mit ihm selbst als Bindeglied.

Das im Roman ziemlich ungeheuerliche Finale wurde für die Serie, so hört man, abgeändert, aber auch jenseits dessen hat Bomback eine entscheidende dramaturgische Änderung vorgenommen, die durchaus zweifelhaft ist: Von Anfang an schneidet er nämlich gegen den sich chronologisch entwickelnden Plot eine zehn Monate später stattfindende Verhandlung vor Gericht, bei der ein psychisch angeknackster Andy, der offensichtlich auch seinen Job verloren hat, von seinem Konkurrenten Neal Logiudice (Pablo Schreiber aus „13 Hours: The Secret Soldiers of Benghazi“ und „Criminal Squad“) zu den Geschehnissen Auskunft geben soll. Diese Befragung, die im Roman erst gegen Ende stattfindet, liegt dadurch als düsterer Ausblick von Anfang an über dem Plot.

Cherry Jones als Anwältin Joanna Klein in „Verschwiegen“. Apple TV+

Vermutlich haben sich die Macher für diesen Kniff entschieden, um den einzelnen Episoden mehr Zugkraft zur jeweils nächsten zu verleihen – man soll als Zuschauer sozusagen wissen wollen, wie es innerhalb von zehn Monaten von Zustand A zu Zustand B kommen konnte. Die Erzählung eines jähen Absturzes vom (vermeintlich) heilen Familienleben in den sozialen Abgrund verliert dadurch allerdings viel von dem Sog, den sie noch im Roman entfalten konnte – ganz abgesehen davon, dass der Wechsel verschiedener Timelines in Serien inzwischen so überstrapaziert wirkt, dass man zugunster eines straight erzählten Kriminalmelodrams gern mal darauf verzichtet hätte.

Jenseits davon wagt Regisseur Tyldum nämlich keine großen formalen Sprünge; seine Inszenierung wirkt zweckmäßig, in den ersten Episoden bisweilen sogar etwas träge und, vom penetrant bläulichen Anstrich mal angesehen, kaum unterscheidbar von gängigen TV-Krimis. Auf seinen Cast kann er sich dabei fraglos verlassen. Neben den bereits Erwähnten gefallen auch Cherry Jones („Awake“) als Jacobs Anwältin, Sakina Jaffrey („Timeless“) als Staatsanwältin und der immer gern gesehene Patrick Fischler („Happy!“) als verzweifelter Vater des ermordeten Jungen. Insgesamt kommt bei alldem, zumindest auf den ersten Metern, also ein durchaus achtbarer Hybrid aus Familientragödie und Krimi heraus, der aber dann doch den allerletzten Punch vermissen lässt, der daraus eine wirklich empfehlenswerte Serie machen würde. Diesen Malus hat „Veschwiegen“ nun schon mit mehreren anderen Drama-Serien aus der ersten Fuhre der AppleTV+-Produktionen („For All Mankind“, „The Morning Show“, zuletzt „Unglaubliche Geschichten“) gemeinsam, die trotz Top-Besetzung und spannender Thematik nicht vollends überzeugen konnten.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Verschwiegen“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Apple TV+ veröffentlicht die achtteilige Miniserie „Verschwiegen“ ab dem 24. April weltweit. Zum Start gibt es drei Episoden, die restlichen Teile folgen im wöchentlichen Rhythmus freitags.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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