„Sandman“: Lohnt sich die Netflix-Adaption des Kultcomics für Neueinsteiger? – Review

Neil Gaiman durfte seinen Herrn der Träume verschwenderisch inszenieren

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 05.08.2022, 06:00 Uhr

Tom Sturridge als Dream in „Sandman“ – Bild: Courtesy of Netflix
Tom Sturridge als Dream in „Sandman“

Jede Comicverfilmung steht – unabhängig vom Genre – vor zwei Hauptherausforderungen: Zum einen müssen die Macher den Stoff so auf den Bildschirm oder die Leinwand übertragen, dass sich auch mit der Vorlage nicht vertraute Zusehende rasch im Erzähluniversum zurechtfinden. Zum anderen dürfen sie aber den Stoff auch nicht so stark kürzen oder vereinfachen, dass Kenner und Fans das Ausgangsmaterial verwässert oder gar verraten fühlen. Ob letzteres bei der Netflix-Version des Kultcomics „Sandman“ gelungen ist, kann ich nicht beurteilen, da ich mich in diesem Universum zu wenig auskenne. Ersteres ist aber in den ersten Episoden völlig misslungen, die gleichermaßen wirr wie unheimlich zäh in die Welt des Herrschers der Traumwelt einführen.

Die Adaption der zwischen 1989 und 1996 bei DC respektive dessen „erwachsenerem“ Label Vertigo erschienenen Comicreihe von Autor Neil Gaiman („American Gods“) und diversen Zeichnern war schon seit Jahrzehnten geplant. Mit dem Streaminggiganten Netflix hat sich nun endlich ein Auftraggeber gefunden, der Gaiman sowohl finanziell als auch künstlerisch eine adäquate Umsetzung seiner Erzählwelt ermöglichen kann. Die Erwartungen sind dabei hoch, wird „Sandman“ doch immer wieder genannt, wenn es um die besten US-Comics der vergangenen 35 Jahre geht. Gemeinsam mit Allan Heinberg („Grey’s Anatomy“) und dem bei DC-Verfilmungen unvermeidlichen David S. Goyer („The Dark Knight“-Trilogie) zeichnet Gaiman zudem selbst für das Drehbuch der ersten Episode verantwortlich.

Titelheld und Hauptfigur ist Morpheus (Tom Sturridge), auch einfach Dream genannt, der Herr der Träume. Er ist einer der sieben Ewigen, übernatürlicher und unsterblicher Wesen, die seit der Schöpfung der Welt existieren. Zu seinen Geschwistern zählt unter anderem auch Death (Kirby Howell-Baptiste), der als junges Mädchen personifizierte Tod, der in den ersten Folgen aber noch keine Rolle spielt. Anfang des 20. Jahrhunderts gelingt es dem an okkulten Fragen interessierten Roderick Burgess (Charles Dance in einer Art „Game of Thrones“-Gedenkrolle), Dream in einem gläsernen Gefängnis in seinem Schloss einzusperren. Er will ihn dazu zwingen, seinen gestorbenen Sohn wieder ins Leben zu holen. Aber Dream schweigt und bleibt nackt und regungslos in seiner „Zelle“ sitzen – etwa hundert Jahre lang.

Dream (Tom Sturridge) mit seiner Maske Netflix

Das ist auch leider fast alles, was er in der Auftaktfolge tut – eine sehr sperrige Einführung einer Serienhauptfigur, die doch angeblich so faszinierend sein soll. Gegen Ende der Episode gelingt es Morpheus schließlich doch noch, zu fliehen. Doch in der langen Zeit seiner Gefangenschaft ist sein Reich verfallen und seine wichtigsten Arbeitsutensilien – ein Säckchen Sand, ein Helm und ein Rubin – wurden gestohlen. Die Suche nach diesen Gegenständen stellt den Rahmen für die sich nun entfaltende Geschichte dar. Dabei trifft Dream auf allerlei mehr oder weniger exzentrische Figuren wie Kain und Abel, die in zwei benachbarten Häusern mit einem Gargoyle (einer Art Drachen) leben. Der aufbrausende Kain tötet beim geringsten Anlass seinen Bruder, der aber jedesmal am nächsten Morgen wieder aus seinem Grab erwacht.

Relativ schnell sucht Dream auch Hilfe bei Johanna Constantine (Jenna Coleman, „Doctor Who“), einer entfernten Verwandten des bekannten DC-Dämonenjägers John Constantine, die den gleichen Beruf ausübt. Natürlich gibt es auch Gegenspieler, deren genaue Rollen aber noch im Unklaren bleiben: Ethel Cripps (Joely Richardson, „Nip/​Tuck“) ist eine schon Über-100-Jährige, die es geschafft hat, ihren Alterungsprozess einzufrieren. Ihr Sohn John Dee (David Thewlis, „Wonder Woman“) sitzt seit Jahren in der geschlossenen Psychiatrie. Und dann ist da noch ein geheimnisvoller Anzugträger, der sich nur „Der Korinther“ (Boyd Holbrook) nennt und wohl einst vom Sandman geschaffen wurde. Was alle diese Figuren wollen, bleibt auch nach drei Folgen unklar, wenn man die Vorlage nicht kennt.

Ungleiche Verbündete: Johanna Constantine (Jenna Coleman) und Dream Netflix

Dabei schwankt die Handlung zwischen minutenlanger Exposition, die aber doch nie viel über diese Welt enthüllt, plötzlichen Ausbrüchen splatterhafter Gewalt mit explodierenden Köpfen und Schlangen, die aus Mündern hervorschießen, und kurzen Momenten, die zumindest etwas von dem philosophischen Gehalt erahnen lassen, für die der Comic berühmt ist. So etwa, wenn Johanna in Episode 3 ihre Ex-Freundin besucht, die um Jahrzehnte gealtert ist und nur noch von ihren Träumen am Leben gehalten wird. Solche berührenden Szenen sind leider selten.

Meistens nimmt sich die „Sandman“-Adaption selbst bierernst. Fast alle Szenen spielen entweder nachts oder in schlecht beleuchteten Innenräumen wie Kirchen oder Hallen. In jedem zweiten Szenenbild sollen altertümliche Kerzenständer für das passende schaurige Ambiente sorgen. Da atmet man schon fast auf, wenn Dream mit dem Raben Matthew (eigentlich die Seele eines frisch verstorbenen Menschen) einen neuen Gefährten zur Seite gestellt bekommt, der (mit der Stimme von Patton Oswalt aus „King of Queens“ oder „Happy!“) wenigstens für etwas lakonischen Humor sorgt. Später wird auch noch Gwendoline Christie (eine weitere „Game of Thrones“-Veteranin) als „Lucifer“ auftreten, was den Eindruck verstärken dürfte, es hier irgendwie mit einem inoffiziellen Spin-Off der HBO-Fantasyserie zu tun zu haben: Raben, Drachen, Massen britischer Charakterdarsteller mit entsprechenden Akzenten – alles da.

Zwiegespräch mit einem Raben: Dream und sein neuer Begleiter Matthew Netflix

Nur, warum man sich das Ganze nun angucken sollte, ist mir als Nichtkenner der Comics nach drei Episoden nicht klar. Spannung stellt sich keine ein, die entworfene Welt wirkt eher wirr als einladend und bei keiner der zahlreichen Figuren verstehe ich deren Motivation (außer bei einer, die aber schon in der Auftaktfolge das Zeitliche segnet). Vor allem aber bleibt der Sandman selbst kalt und unnahbar. Er wirkt tatsächlich so, wie ihn ein Gegenspieler einmal charakterisiert: Ihn interessiert weder das Schicksal der Menschen noch das irgendwelcher anderer Wesen, ihn interessiert nur er selbst. Dabei hat Hauptdarsteller Sturridge zudem noch die stoische Ausstrahlung einer pixeligen Figur aus einem 1980er-Jahre-Computerspiel.

Natürlich sieht das von der technischen Seite her alles gut aus und hat einen bombastisch dräuenden Score. Nur eine Seele hat es in den Auftaktfolgen (noch?) nicht. Aber vielleicht ist die auch in irgendeinen Raben gewandert.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei Episoden von „Sandman“.

Meine Wertung: 2,5/​5

Die zehnteilige erste Staffel wird am Freitag, den 5. August auf Netflix veröffentlicht.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1966) am

    Jetzt nachdem ich die komplette erste Staffel gesehen habe muss ich dem Autor zustimmen. Sandman ist nach den ersten drei Folgen noch langweiliger als gedacht. Die Tricks sind wirklich schön gemacht, aber ein Funke springt bei mir nicht über. Alles viel zu kalt und distanziert.
    • am

      Bin geneigt zuzustimmen. Die Serie leidet unter dem Problem: Der Autor auf der Suche nach dem Plot ... das sollte jemandem wie Gaiman, der teure online Masterclasses für Autoren gibt, eigentlich nicht passieren ... Hier rührt er einmal die Mythologie durch und erhält - nein, keine Handlung, sondern eine Aneinanderreihung von Versatzstücken. Schade. Da hat Netflix das viele Geld zum Fenster rausgeworfen.
      • (geb. 1972) am

        Also ich habe auch erst die ersten drei Folgen gesehen und kenne die Comics ebensfalls nicht, aber ich finde die Serie bis jetzt sehr interessant und keineswegs wirr oder langweilig. Die Motivation der Figuren ist meines Erachtens recht klar und wenn ich die Kritik lese, beschleicht mich ein wenig die Befürchtung, dass der Autor die Folgen nur halb-, wenn nicht sogar nur viertelherzig verfolgt hat. (Die Schlange schießt, zum Beispiel, nicht aus dem Mund, sondern kriecht hinein.)
        Wie gesagt, mir gefällt die Serie, aber die Geschmäcker sind halt verschieden.

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