Vor dem Start: In „Sonderlage“ gewinnt Henny Reents aus „Nord bei Nordwest“ – Review

RTL-Reihe empfiehlt sich trotz Mängeln für Nachschub

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 14.02.2023, 16:19 Uhr (erstmals veröffentlicht am 07.02.2023)

„Sonderlage“ versammelt (v. l. n. r.) Björn Busskamp von der Mordkommission, Polizeipräsident Thomas Dilling, Innensenator Kai-Olaf Runge, Kriminaldirektorin Verena Klausen und ihre Teammitglieder Karen, Mely sowie Philipp – Bild: RTL/Benno Kraehahn
„Sonderlage“ versammelt (v. l. n. r.) Björn Busskamp von der Mordkommission, Polizeipräsident Thomas Dilling, Innensenator Kai-Olaf Runge, Kriminaldirektorin Verena Klausen und ihre Teammitglieder Karen, Mely sowie Philipp

Dieser Text zu „Sonderlage – Ein Hamburg-Krimi“ wurde bei uns anlässlich der Streaming-Premiere auf RTL+ vor einer Woche erstmalig veröffentlicht. Ab dem heutigen Dienstag (14. Februar) um 20:15 Uhr wird die Filmreihe bei RTL im Free-TV ausgestrahlt.

Elbphilharmonie und Hafen – mit diesen Wahrzeichen Hamburgs demonstriert der Vorspann, dass „Sonderlage – Ein Hamburg-Krimi“ in der Hansestadt spielt. Ferner fällt das typische Schlagwort Reeperbahn bei der anfänglichen Lagebesprechung der ersten Episode. Unterdessen bereitet eine finstere Gestalt eine Untat auf einer Elbfähre vor. Zwei Machos ahnen nichts von der Gefahr, als sie die Gruppenleiterin für „Organisierte Kriminalität“ zusammenfalten: Polizeipräsident Thomas Dilling (Sven Gerhardt) und Björn Busskamp (Lasse Myhr) von der Mordkommission profilieren sich auf Kosten von Kriminaldirektorin Verena Klausen (Henny Reents). Die kühle Darstellung dieser Schauspielerin passt zum nordischen Lokalkolorit. Eine Prise Bandenkriminalität und Drogenhandel runden die Krimi-Kost ab, die durchaus mundet. Auch die Fortsetzung über eine Kindesentführung ist gelungen, ohne gleich Jubelschreie auszulösen.

Zunächst präpariert ein junger Mann mit Bart zwei Sprengsätze auf der Toilette eines Fährschiffs. Die durch Draht und Klebeband gekoppelten Metallzylinder überzeugen das TV-Publikum vom nahen Verderben. Die Ermittler werden den Attentäter später als Yusuf Alfasi (Ivar Wafei) identifizieren. Er schiebt seinen Rucksack mit einem Explosivkörper unter eine Sitzbank. Dann greift er zu einer Papiertüte mit der anderen Ladung, bevor er von Bord geht. Derweil kauft Polizistin Hanna Mangold (Julia Goldberg) Fischbrötchen für ihre Kolleginnen und Kollegen. Plötzlich zerstört ein lauter Knall die Idylle an den St. Pauli Landungsbrücken. Verletzte und Tote liegen am Boden. Blutende Opfer schwanken an Hanna Mangold vorbei. „Der Angriff“ hat begonnen – entsprechend dem Titel des ersten Neunzigminüters der neuen Reihe „Sonderlage – Ein Hamburg-Krimi“.

Yusuf präpariert zwei Bomben auf der Toilette der Elbfähre. RTL/​Nadja Klier

Sonderlage! Ich übernehme die Befehlsstelle, ruft Verena. Sie hat bereits erfahren: Ein weiterer Anschlag ist angekündigt. Ihr Team versammelt Außenseiter unterschiedlicher Ressorts. Die aalglatten Konkurrenten der Polizeiführerin verstehen nicht, dass Stärken aus der mangelnden Anpassung entstehen. Jedenfalls ist Verena gut vorbereitet und kann ihre Kommandozentrale innerhalb weniger Minuten errichten. Philipp Junker (Georg Bütow) unterstützt seine zeitweilige Vorgesetzte als Stabsleiter. Das ist ein guter Mann – einer von uns, meint Thomas Dilling gegenüber Innensenator Kai-Olaf Runge (Frederik Schmid) und dem Chef der Mordkommission Björn Busskamp. Wenn der Polizeipräsident da mal nicht irrt … Tatsächlich dient ihm eine andere Person als Maulwurf.

Kurz und knapp begrüßt Verena etwa Jana (Darja Mahofkin) vom Wasserschutz, Mirko (Philipp Lind) von der Pressestelle und Anselmo (David Brizzi). Bald explodiert die zweite Bombe auf der Elbfähre. Auf dem Tisch liegt eine absurd hohe Geldforderung: Gegen Zahlung von 200 Millionen Euro könnten die Entscheidungsträger eine gewaltige Katastrophe verhindern. In solch einer Krise verlangt Verena verlässliche Fakten und präzise Kommunikation. So versucht sie, voreilige Schlüsse zu vermeiden. Dabei umschifft sie elegant sogenanntes Racial Profiling: Sie verdächtigt keine Personen alleine wegen ihrer Herkunft. Solche kritischen Anmerkungen fehlen in der zweiten Episode.

Verena (r.) verlangt von ihrem Team verlässliche Fakten und präzise Kommunikation. RTL/​Nadja Klier

Zumindest der Auftakt unterhält sein Publikum mit Feingefühl. Deshalb entfallen die meisten Banalitäten, die sonst RTL-Reißer wie „Alarm für Cobra 11“ kennzeichnen. Im nachfolgenden, zweiten Film liegt das Niveau schon etwas tiefer. Immerhin fußt „Sonderlage“ auf Erfahrungen mit öffentlich-rechtlichen Serien und Filmen. So hat Regisseur Andreas Senn sein Geschick bei hochwertigen Krimis wie „Unbroken“ gezeigt. Hier überzeugt er mit seiner nüchternen Inszenierung.

Hauptdarstellerin Henny Reents vermeidet die parodistische Anwandlung von „Nord bei Nordwest“: Jetzt sehen wir eine andere Seite als bei ihren früheren Auftritten als Revierleiterin Lona Vogt. Leise und deutlich gibt Verena ihre Anweisungen. Sie lässt Kai-Olaf Runge auflaufen, als er süffisant nach ihrer Leistungsfähigkeit fragt: Sind Sie in der Verfassung, damit klar zu kommen? Der Innensenator verwendet ihre längst bewältigte Fehlgeburt als Waffe. Doch die vom Landeskriminalamt angeforderte Chefin der Aktionsgruppe antwortet mit verächtlichem Unterton: Sie wagen es, das jetzt und hier zum Thema zu machen? In der Fortsetzung „Das Kind wird sterben“ enthüllt ein Blick in den Waschraum, dass solche Konflikte Verena durchaus belasten. Sonst bewahrt sie die Fassung.

Kriminaldirektorin Verena Klausen bewahrt gerne die Fassung. RTL/​Nadja Klier

Originell aufgenommene Attraktionen wie der Alte Elbtunnel und Container-Schiffe verwöhnen die Augen. Bei den Explosionen mag die produzierende Bavaria gespart haben. Aber Zeugnisse der Videoüberwachung reizen die Sinne. Ferner verfremden Bodycams das aufregende Geschehen, wenn ein Sondereinsatzkommando SEK etwa eine Wohnung stürmt. In der zweiten Episode setzen Aufnahmen von Drohnen zusätzliche Akzente. Visuellen Kontrast bietet die schwach ausgeleuchtete Befehlsstelle mit den angespannten Gesichtern.

Den Wechsel der Perspektiven hat Norbert Eberlein vorbereitet. Zuvor trainierte der Drehbuchautor sein Handwerk sowohl in „Großstadtrevier“ als auch in „Neues aus Büttenwarder“. Jetzt profitiert „Sonderlage“ von der Kunst, sogar kleine Szenen ansprechend zu arrangieren. Regisseur Andreas Senn verleiht der Serie dokumentarische Züge. Gemeinsam mit Eberlein hat er wohl gründlich recherchiert, zumal RTL auf „wahre Abläufe“ verweist. Das Ergebnis auf den Bildschirmen erscheint glaubwürdig. Somit überraschen die Einblicke in solch einen Krisenstab, der bei schweren Verbrechen wie Anschlägen oder Amokläufen einschreitet.

Indes enttäuscht die Auflösung beider Fälle. Bei „Der Angriff“ fällt die Spannung zusammen. Lediglich das höllische Trio der Frauenverächter ignoriert die Verbindungen ins Drogenmilieu. Das TV-Publikum erwartet die Strafe für den Hintermann, ohne dass jemand an ein feuriges Ende glauben würde. Ebenso würde jeder Krimi-Fan in der zweiten Episode der Behauptung widersprechen: „Das Kind wird sterben“. Übrigens gibt niemand im Film diese Parole aus.

(v. l. n. r.) Polizeipräsident Thomas Dilling, Innensenator Kai-Olaf Runge und Mordkommissionsleiter Björn Busskamp nerven Verena Klausen auch in der zweiten Episode RTL/​Nadja Klier

Der Look aus dem Befehlsstand, aus dem Haus des Entführungsopfers und aus dem Versteck der Verbrecher überwiegen. Dadurch schwindet die sichtbare Abwechslung. Nicht zuletzt geraten die Spezialeffekte in der gesamten „Sonderlage“ etwas mickrig. Trotzdem sollte RTL bald Nachschub liefern, weil die Figuren und Situationen Interesse wecken. Bisher überragt die Qualität kaum die Standards der Massenware an Krimis.

Dieser Text beruht auf Sichtung der ersten beiden, jeweils knapp 90-minütigen Filme der Reihe „Sonderlage – Ein Hamburg-Krimi“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Der Film „Der Angriff“ lässt sich ab 7. Februar auf RTL+ streamen. RTL zeigt diese erste Episode am 14. Februar um 20:15 Uhr – in der neuen Reihe „Tödlicher Dienst-Tag“. Am selben Tag steht „Das Kind wird sterben“ auf RTL+ bereit. Am 21. Februar läuft diese Folge im Free-TV um 20:15 Uhr.

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

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