„Everyone is f*cking crazy“ verstört junges Publikum – Review

Newcomer zeigen psychische Krankheiten realistisch und unterhaltsam

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 11.08.2023, 16:25 Uhr

Malik (Arsenij Walker), Schröder (Luise von Stein), Chloë (2. v. r., Maja Bons) und Derya (r., Via Jikeli) suchen Ausweg aus psychischen Störungen. – Bild: SR/Real Film Berlin/Maor Weisburd
Malik (Arsenij Walker), Schröder (Luise von Stein), Chloë (2. v. r., Maja Bons) und Derya (r., Via Jikeli) suchen Ausweg aus psychischen Störungen.

Contentwarnung: In diesem Text wird eine Serie besprochen, die sich mit Suizid, Süchten und weiteren psychischen Erkrankungen beschäftigt. Wer betroffen ist oder Hilfe benötigt, kann sich 24/​7 an die Telefonsorge wenden: 0800 – 1110111

In letzter Zeit beleuchten öffentlich-rechtliche Sender gerne das Leben junger Erwachsener. Dabei streift zum Beispiel „Damaged Goods“ die Welt der Psychologie (fernsehserien.de berichtete). Doch selten stellt eine Serie über 20- bis 30-Jährige die mentale Gesundheit in den Mittelpunkt. Dem Saarländischen Rundfunk ist zu danken, dass „Everyone is f*cking crazy“ das Tabu überwindet. Derya (Via Jikeli), Chloë (Maja Bons), Schröder (Luise von Stein) und Malik (Arsenij Walker) kämpfen mit ihren unterschiedlichen Erkrankungen. Als ihre Therapeutin Dr. Thomalla (Jeanette Hain, „Luden“) stirbt, entfallen die Einzelgespräche zwangsläufig. Als Ersatz leitet Derya eine Gruppentherapie. Zumindest für medizinische Laien wirkt die Darstellung der psychischen Störungen glaubwürdig. Manchmal lässt das Leid den Atem stocken. Andererseits sind Gefühle und Lachen erlaubt.

Das war es jetzt!

Ein Engel im wallenden Gewand scheint aus dem blauen Himmel zu fallen. Finden Sie nicht auch, das Leben fühlt sich manchmal an wie ein Flugzeugabsturz?, kommentiert Derya aus dem Hintergrund: Ich hab’ mich früher oft gefragt, wie es sein muss, dieser Moment, in dem einem klar wird – das war es jetzt! In Großaufnahme zeigen erschrockene Gesichter der Hauptfiguren, dass nicht nur für die Selbstmörderin alles aufhört. Die Verzweiflungstat beendet ebenfalls das Leben von Derya, Chloë, Schröder und Malik – so empfinden zumindest die jungen Patienten den Absturz ihrer Therapeutin, die ihnen zuvor Hoffnung vermittelte. Chloë versucht, gleichermaßen aus dem Fenster zu springen. Schröder hält das Mädchen zurück. Sie kennt Chloë nicht. Der Zufall oder das Schicksal hat die drei Frauen und den Mann zusammengeführt.

Therapeutin Dr. Thomalla ist aus dem Fenster gesprungen. SR/​Real Film Berlin/​Maor Weisburd

Patientin verkauft sich als Psychotherapeutin

Auf der Straße liegt also eine Leiche. Die Polizei ermittelt am Tatort. Gegenüber Hauptkommissar Schürk (Daniel Sträßer) tritt Derya als Assistentin des Opfers auf. Vor der vermeintlichen Expertin lästert der Kriminalbeamte über die verstörte Chloë: Sie wissen ja sicher, welche Schraube bei ihr locker ist. Derya behält die falsche Identität, als sie mit Chloë, Schröder und Malik spricht. Sie steckt das Schlüsselbund der Verstorbenen ein. Kaltschnäuzig macht sie den verlorenen Seelen einen Vorschlag: Wir treffen uns wieder, nächste Woche, in der Praxis, weil wir eure Therapie fortsetzen.

Zunächst rauben Zwangsstörungen Chloë die Kraft, die Chance zu nutzen: Ich kann nicht nochmal von vorne anfangen. Doch Schröder schleppt sie durch die Krise und gewinnt eine neue Freundin. Sie boykottiert die Zusammenkünfte durch starke Aggressionen – für solch ein Verhalten hatte der Justizapparat Schröder zu einigen Bewährungsstrafen und der Psychotherapie verdonnert. Malik lässt seine intellektuelle Überlegenheit heraushängen. Ständig hinterfragt er diese Art von Behandlungen. Ansonsten ballert er sich alle möglichen Drogen in den Kopf und kämpft gegen Angstattacken. Derya ignoriert, was ihr blüht. Sie und ihre Begleiter scheitern vielleicht endgültig, zumal der Aushilfstherapeutin Fehler unterlaufen. Ohnehin könnten Depressionen und Antriebsschwächen Derya überwältigen.

Nach dem Tod von Dr. Thomalla betreut Derya (Via Jikeli, r.) die verstörte Patientin Chloë (Maja Bons). SR/​Real Film Berlin/​Maor Weisburd

Leistungen der Newcomer erstaunen

Zu bewundern sind die Hauptdarsteller. Die Newcomer zeigen die psychischen Erkrankungen so realistisch, als ob sie ähnliche Erfahrungen mitschleppen. Chloë scheint so leicht zu zerbrechen, dass die Zuschauerinnen und Zuschauer sie beschützen möchten. Schröder weckt Sympathie mit ihren Wechseln zwischen Wutanfällen und Fürsorglichkeit. Malik versprüht Charme und Durchsetzungsvermögen: Unbeteiligte ahnen nicht, wie dieser Kerl unter Ängsten zusammenbricht. Derya gibt die meisten Rätsel auf. Wenn sie über ihre Erwartungen stolpert, verliert sie jede Kraft. Luise von Stein und Via Jikeli haben immerhin ihr Handwerk in der Schauspielschule erlernt. Jetzt setzen sie ihre Kenntnisse in der Praxis um – gut so! Fotoshootings haben offensichtlich das Ausdrucksvermögen von Maja Bons trainiert. Arsenij Walker hat die Chancen kleiner Auftritte etwa in „SOKO Linz“ genutzt. Auf dieser schmalen Basis erstaunen die Leistungen.

Schröder (Luise von Stein) nervt Hauptkommissar Schürk (Daniel Sträßer). SR/​Real Film Berlin/​Maor Weisburd

Vorspann und Titelsong wecken Lust auf Ereignisse

Bereits der Vorspann ist zeitgemäß inszeniert und weckt Lust auf die Ereignisse. Zudem enthält er nette Effekte, die zur Zielgruppe passen. Der frische Look bleibt über die gesamten Folgen erhalten. Bildgestaltung und Erzählperspektiven wechseln von Episode zu Episode, ohne die Kontinuität zu verletzen. Diese Flexibilität würde andere Produktionen aufwerten. Der Titelsong „Alles wird gut“ geht ins Ohr und verstärkt die Stimmung. Die Rückblenden etwa zu den Sitzungen mit Dr. Thomalla sind geschickt gesetzt worden. Nicht alleine dieses Stilmittel sorgt für Abwechslung und vermittelt schwer verdauliche Inhalte. Angemessen dosierte Komik lockert die Tragik auf.

Malik, Chloë, Derya (2. v. r.) und Schröder (r.) brauchen Schutz vor Belastungen der Psyche.SR/​Real Film Berlin/​Maor Weisburd

Altersgefährten profitieren von den Episoden

Tiefen der Charaktere sind kaum zu ergründen

„Everyone is f*cking crazy“ trifft die Sprache der Generation. Das gesellschaftliche Umfeld ist gut zu verstehen. Allerdings übertreibt das Drehbuch-Team: Die Autoren würdigen sogar Pflegefälle, Alkoholiker, schwule Väter und Schauspieler in Nöten. Trotz aller Vorzüge bleibt die Serie eine Art Nummernrevue. Die Qualitäten der Jungdarsteller sind nur kurz zu genießen. Jede Episode dauert nicht mal eine halbe Stunde. Nach acht Folgen ist alles vorbei. O.k., dadurch kommt keine Langeweile auf. Allerdings sind die Tiefen in der knappen Zeit kaum zu ergründen.

Wir wollen psychische Störungen und erkrankte Menschen verstehen

Der kleine Sender an der Saar verdient Respekt, ein heikles Thema aufzugreifen und nahe der Wirklichkeit zu präsentieren. Zwangsstörungen taugen in „Monk“ lediglich als lustiger Aufhänger – ähnlich wie das Asperger-Syndrom in „The Big Bang Theory“. Zahllose Krimis setzen auf psychische Störungen als Motiv für perverse Killer. Alles kein Grund, Moralpredigten zu halten! Aber diese Erfolgsserien helfen selten, psychische Störungen und die erkrankten Menschen zu verstehen. „Everyone is f*cking crazy“ nimmt die Patienten und ihre Bedürfnisse hingegen ernst, ohne das Publikum mit Betroffenheit zu ersticken.

Sender und Streamingdienste sollten mentale Gesundheit aufs Korn nehmen

Dennoch bleibt der gute Wille im Ansatz stecken. Besonders ARD und ZDF gebührt der Auftrag, die mentale Gesundheit und die Mängel in der Versorgung aufs Korn zu nehmen. Einzelne Schicksale prägen zum Beispiel „Mr. Robot“ und „BoJack Horseman​“. Einen breiteren Überblick bietet „It’s Okay to Not Be Okay“ aus Südkorea. In sieben Staffeln von „Skins – Hautnah“ verfolgen Heranwachsende den Alltag 16- bis 19-jähriger Briten – mit ihren Angstanfällen, Depressionen und Essstörungen. Die bescheidene Produktion „Everyone is f*cking crazy“ verpasst höhere Ansprüche schon aus Geldmangel. Diese Erkenntnis entwertet keineswegs das Engagement. Sie soll lediglich die TV-Sender und Streamingdienste reizen, ein größeres Gewicht zu stemmen. Immerhin greift „Everyone is f*cking crazy“ psychische Störungen junger Erwachsener auf. Besonders Altersgefährten profitieren von den Episoden.

Dieser Text beruht auf der Sichtung von drei Episoden der achtteiligen Serie „Everyone is f*cking crazy“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Ab dem 12. August stehen alle acht Folgen in der ARD Mediathek zum Streaming bereit. Im SWR Fernsehen läuft die erste Hälfte der Serie am 25. August kurz nach 1 Uhr. Die Fortsetzung ist am 1. September zur gleichen Zeit zu sehen. Zudem zeigt One je zwei Episoden nachts ab 14. September im wöchentlichen Abstand und wenige Tage später in Wiederholungen.

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am via tvforen.de

    Ja, sehr gut, endlich wird das Tabu gebrochen!

    Ein Hoch auf den unbeschreiblichen Mut, der zu dieser revolutionären Tat erforderlich war, ohne Rücksicht auf die verheerenden Konsequenzen, die sie für die Tabubrecher haben könnte!

    Es ist ja leider wirklich so, dass in den letzten Jahren in den Medien niemand jemals irgendwo über mentale Gesundheit gesprochen hätte. Konsequent totgeschwiegen wurden und werden von unserer (irgendwie faschistischen) Gesellschaft Dinge wie Depressionen, Angststörungen, Zwangsstörungen, alle möglichen Formen von Autismus, Traumata (gern auch vererbt von den Eltern, Großeltern, Urgroßeltern usw. - ich zum Beispiel leide immens daran, was Vorfahren von mir im Dreißigjährigen Krieg widerfahren ist) etc.pp.

    Nachdem dieses Tabu nun aber endlich gebrochen ist, könnten wir uns vielleicht auch einem anderen Thema widmen, das in unseren Medien überhaupt nicht auftaucht: Menschen, die sich im falschen Körper gefangen fühlen. Ich zum Beispiel betrachte mich als Baum (natürlich als non-binärer), aber die notwendigen anpassenden Operationen will die Krankenkasse einfach nicht übernehmen. Sie will mir nicht mal einen Kübel zahlen, in den ich eingetopft werden könnte (was mich natürlich schwer traumatisiert). Es ist unglaublich. Hier muss dringend aufgeklärt und Bewusstsein geschaffen werden.

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