Das Beste aus dem Serienjahr 2022: Gian-Philips Highlights – Review

Die 10 besten neuen Serien 2022

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 30.12.2022, 17:06 Uhr

Blick in die totalitäre Arbeitswelt: Zach Cherry, Adam Scott, Tramell Tillman, John Turturro und Patricia Arquette (v. l.) im Meisterwerk „Severance“ – Bild: Apple TV+
Blick in die totalitäre Arbeitswelt: Zach Cherry, Adam Scott, Tramell Tillman, John Turturro und Patricia Arquette (v. l.) im Meisterwerk „Severance“

Noch nie schien mir der Eindruck, dass die Serienwelt fast zwangsläufig eine wichtige frühere Aufgabe des Kinos hat übernehmen müssen, so stark wie im Jahr 2022: Starke Geschichten zu erzählen, mit überzeugenden Stars in den Hauptrollen, diese Art von „Schauspielerkino“ war mal das Metier eines gesamten filmischen Mittelbaus, der  zwischen den ewig gleichen Superhelden-Blockbustern und den Nischenprogrammen für spezielle Zielgruppen inzwischen großflächig weggebrochen ist. Man sieht’s an den Gesprächen im eigenen Umfeld: Über die neuen Fantasy-Serien „House of the Dragon“ oder „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ wurde da weit mehr diskutiert als über die meisten der Filme, die jetzt ins Oscarrennen gehen.

So schade das fürs Kino ist, so toll ist es für Fans von Qualitätsserien. Auch dieses Jahr gab es wieder weit mehr guten Stoff, als man sich nur annähernd hätte anschauen können, und immer mehr davon wird mit Stars besetzt, die man von der Kinoleinwand kennt.

Im Folgenden gibt’s meine Top-10 der besten neuen, also 2022 gestarteten Serien als Slide Show. Meine Lieblingsfolgestaffeln möchte ich aber auch nicht verschweigen: Neben dem nahezu perfekten Finale von „Better Call Saul“ haben mir die jeweils zweiten Staffeln der Lehrer-Sitcom „Abbott Elementary“, der Indigenen-Comedy „Reservation Dogs“ und des genial-garstigen Urlaubskrimis „The White Lotus“ durch dieses globale Krisenjahr geholfen. Der Sonderpreis geht an die dritte Staffel von „Barry“: Dieser herrlich unberechenbare Killer-Thriller hat in Deutschland immer noch viel zu wenig Fans.

Los geht’s mit den für mich besten neuen Serien.

Meine Highlights des Serienjahrs 2022
Platz 10: „Interview with the Vampire“ (Sky Atlantic). Die Neuverfilmung des Kultromans von Anne Rice als Serie machte vor allem durch zwei gravierende Fokusverlagerungen von sich reden: erstens die Verlegung des Plots von einer Plantage im ausgehenden 18. Jahrhundert in die Bordellszene von New Orleans in den 1910er-Jahren, zweitens die Inblicknahme von Vampir Lestat (Sam Reid) und seiner neuesten Anzapf-Bekanntschaft Louis (Jacob Anderson) als schwules Paar. Was im Roman deutlich durch die Zeilen schien, in der Verfilmung von 1994 aber nur zaghaft angedeutet wurde, wird in Rolin Jones’ Neufassung explizit gemacht. Manch Fan nervten diese Änderungen, andere begrüßten den frischen Zugriff. Auch wenn die Staffel das hohe Niveau der ersten Episoden nur bedingt halten konnte: „Interview With The Vampire“ war das kühnste (und blutigste!) Serienremake des Jahres. AMC /​ Sky Atlantic
Platz 9: „Heartstopper“ (Netflix). Die schönste Serien-Rom-Com des Jahres und ein echter Crowdpleaser. Die Geschichte vom schwulen Charlie (Joe Locke), der sich in seinen neuen, sehr heterosexuell wirkenden Mitschüler Nick (Kit Connor) verliebt und zu seiner großen Überraschung erhört wird, fühlte sich an wie ein Märchen, ohne existierende Problemlagen wie Homophobie, Mobbing und andere Formen der Ausgrenzung zu verharmlosen. Regisseur Euros Lyn setzte die Graphic Novel von Alice Oseman in hipper Farbdramaturgie, mit tollem Soundtrack und jeder Menge toller Figuren als gut geölt dahinschnurrendes Feelgood-Coming-of-Age-Spektakel um, von dem man sofort mehr sehen wollte. Die Diversity der Serie wirkt nicht wie ein Verkaufsargument, sondern in ihrer Selbstverständlichkeit absolut organisch. Dass die Serie sogar in Saudi-Arabien, wo Homosexualität immer noch mit Peitschenhieben bestraft wird, die Netflix-Top-Ten erklomm, darf man als gutes Zeichen werten. Netflix
Platz 8: „This is Going to Hurt“ (MagentaTV). Ebenso krass und sarkastisch wie traurig und wütend machend: Die Verfilmung des Buchs von Ex-Arzt Adam Kay, koproduziert von BBC und AMC, wirft einen schonungslosen Blick auf die Zustände in einer Station für Gynäkologie und Geburtshilfe in einem Londoner Krankenhaus des NHS – also des staatlichen Gesundheitswesens. Überarbeitung im kaputtgesparten Gesundheitssektor ist das Thema, doch rund um den ebenso jungen wie bereits verbitterten Arzt Adam (ideal besetzt: Ben Whishaw) und seine fatal desillusionierte junge Kollegin Shruti (Ambika Mod) werden noch andere Geschichten erzählt, die weit ins vom Job überschattete Privatleben ausgreifen. Sieben rasant inszenierte Folgen, die bestes Entertainment liefern und trotzdem immer wieder kaum auszuhalten sind – der Titel liefert die Trigger-Warnung ja gleich mit. BBC /​ MagentaTV
Platz 7: „Bad Sisters“ (Apple TV+). „Catastrophe“-Star Sharon Horgan schrieb diesen schön schwarzhumorigen Krimi-Zehnteiler aus Irland – und sie spielt auch die Hauptrolle in der klassischen Murder Mystery rund um vier verschworene Schwestern, die den Plan fassen, den brutal-toxischen Ehemann der Zweitältesten umzubringen. Der Frage, ob sie den Plan auch umsetzen, nähert sich eine zweite Timeline an, in der der Mann (genial fies gespielt von Claes Bang) tatsächlich tot ist und zwei Versicherungsagenten in dem Fall ermitteln. Die äußerst unterhaltsame, in Dublin angesiedelte Dramödie (in der sich Comedy und echtes Drama vorbildlich die Waage halten) basiert auf der flämischen Serie „Clan“, die bei uns 2015 bei ZDFneo lief. Die kenne ich noch nicht, aber in einer ruhigen Minute werde ich sie mir mal zum Vergleich vornehmen. Apple TV+
Platz 6: „Pachinko“ (Apple TV+). Das grandioseste Melodram des Serienjahres erzählt von den Auswirkungen der japanischen Kolonialherrschaft auf Südkorea, vorgeführt am Beispiel von vier Generationen einer Familie. Auf Grundlage des Bestsellers von Min Jin Lee springt Showrunnerin Soo Hugh („The Terror“) bemerkenswert kunstvoll und geschmeidig zwischen diversen Zeitebenen hin und her: von einer koreanischen Insel anno 1915 ins Japan der wirtschaftlichen Boomjahre Ende der Achtziger oder auch zurück ins Jahr 1923, als ein verheerendes Erdbeben Tokio zerstörte. Nie aber wirkt hier irgendwas wie Geschichtsfernsehen oder Aufklärungsarbeit, auch wenn Themen wie Rassismus und Anpassungsdruck im Zentrum stehen. „Pachinko“ ist vor allem eine süffig erzählte, wunderschön inszenierte Familiensaga – mit Oscarpreisträgerin Youn Yuh-jung („Minari“) in der bewegenden Hauptrolle. Bonus-Applaus für die schönste Vorspannsequenz des Jahres! Apple TV+
Platz 5: „House of the Dragon“ (Sky Atlantic). Gefiel mir am Anfang nur so là-là mit seinen wirren Zeitsprüngen und den vielen Blondperücken, doch nach dem Zeitsprung in der Mitte der Staffel hatte mich die teuer produzierte Prequel-Serie zu „Game of Thrones“ dann doch am Wickel. Zugegeben, die dringliche Grundspannung der Mutterserie, die von Anfang an die Bedrohung aus dem Norden mit der Ranküne im Inneren von Westeros parallelführte, muss hier zwangsläufig fehlen, doch das Autorenteam um Ryan Condal und George R. R. Martin höchstpersönlich verstehen es bewundernswert gut, das Gekabbel um die erste weibliche Erbin des Eisernen Throns (Emma D’Arcy) nach und nach immer aufregender zu gestalten. Seit dem Ende fiebere ich nun der nächsten Staffel entgegen – so kann’s gehen! Außerdem: Die Drachen sahen nie besser aus. HBO /​ Sky Atlantic
Platz 4: „The Rehearsal“ (Wow). Ein höchst ungewöhnliches Projekt an der Schnittstelle von Dokumentation, Comedyserie und Reality-TV, von dem bei uns in Deutschland noch viel zu wenig die Rede war. Comedian Nathan Fielder („Nathan for You“) macht sich daran, Menschen zu helfen, die schwierige Gespräche oder stressige Momente vor sich zu haben glauben oder umwälzende Lebensphasen planen – indem er diese Menschen jene Gespräche oder Szenen mit Schauspielern „vorproben“ lässt, in Kulissen, die den realen Orten exakt nachgebaut sind. Doch schon ab der zweiten (der sechs) Episoden verstrickt er sich selbst in diesen neuen Realitäten – und bald schon sind Wirklichkeit und Fake, Distanz und Teilnahme kaum mehr zu entwirren. Ein zunehmend faszinierendes Experiment, das mehrere dubiose Grauzonen durchstreift und am Ende fast aus dem Ruder läuft. So spannend wie amüsant. HBO /​ Wow
Platz 3: „The Bear“ (Disney+). Wer vorm Fernseher nur die Füße hochlegen und sich berieseln lassen möchte, dürfte „The Bear“ vermutlich nach wenigen Minuten weggeknipst haben – der Sechsteiler zählt zum Stressigsten, Intensivsten und Schweißtreibendsten, das es in diesem Jahr zu sehen gab. Kein Wunder: Er spielt in weiten Teilen im Chaos der Küche eines heruntergerockten Sandwich-Shops in Chicago, in den es einen innerlich zerrissenen Sternekoch (herausragend: Jeremy Allen White) nach dem Tod seines Bruders verschlägt. Es geht aber nicht nur um den Stress der Gastrowelt, sondern auch um Trauer, Verlust, das Ringen um den richtigen Lebensweg und Möglichkeiten einer veränderten Arbeitskultur – ebenso packend wie ballastfrei erzählt in knackig-kurzen Folgen. Ayo Edebiri als Sous-Chefin Sydney war für mich die größte schauspielerische Sensation des Jahres. Hulu /​ Disney+
Platz 2: „Andor“ (Disney+). Bei den ersten zwei, drei Episoden war ich noch skeptisch. Etwas undefiniert schien mir das Konzept dieses Prequels eines Prequels („Rogue One“) zum Original–„Krieg der Sterne“ von 1977. Doch mit jeder weiteren Folge verflüchtigte sich diese Zurückhaltung, und am Ende war ich überzeugt, die bislang beste Live-Action-Star-Wars-Serie gesehen zu haben – gerade weil sie sich von allem fernhielt, was Disney da in letzter Zeit so Fanservice-mäßig aufgeboten hatte. Keine Lichtschwerter, kein Baby-Yoda, keine Fanliebling-Verwurstungen wie „Obi-Wan Kenobi“, die zwangsläufig unterwältigen mussten. „Andor“ dagegen ist im Wesentlichen ein Thriller über dem Kampf gegen den Faschismus – und genau als einen solchen Kampf hatte George Lucas die Rebellion gegen das Imperium schließlich angelegt. Die Serie von Tony Gilroy nimmt das beim Wort – und fesselt bis zum Schluss. Disney+
Platz 1: „Severance“ (Apple TV+). Die größte Überraschung des Serienjahrs gab’s schon im Februar – Ben Stiller inszenierte mit „Severance“ einen Thriller aus der Feder des kaum bekannten Autors Dan Ericksen. Die neun Episoden entwerfen die radikal-kapitalistische Wunschvorstellung einer Welt, in der es medizinisch möglich ist, Arbeits- und Privatleben buchstäblich voneinander abzuspalten – natürlich als Mittel der Effizienzsteigerung, denn private Tragödien können die Arbeitsleistung so nicht mehr beeinträchtigen. Wie Mark, der von Adam Scott gespielte Protagonist, auf beiden Seiten seines gespaltenen Lebens allmählich den totalitären Hintergründen auf die Spur kommt, wird mit sensationell-minimalistischem Produktionsdesign und famoser Besetzung (furchteinflößend: Patricia Arquette; rührend: John Turturro) gezielt als Slowburner ins Rollen gebracht. Die leise Spannung wächst von Folge zu Folge, in der Schlussepisode ist sie fast nicht zu ertragen. Ein dystopisches Meisterwerk. Apple TV+

In einer lockeren Reihe blicken die Serienkritiker von fernsehserien.de zum Jahresende auf die Formate, die sie in den vergangenen zwölf Monaten gesehen haben. Das können neue Serien sein, aber auch neu entdeckte.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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