„Will Trent“: Der Ermittler mit dem Chihuahua – Review
Krimiserie nach Karin Slaughter bringt frischen Wind ins angestaubte Procedural-Genre
Rezension von Gian-Philip Andreas – 02.07.2023, 10:00 Uhr
Als im vergangenen Jahr die Miniserie „Ein Teil von ihr“ bei Netflix lief, war die Begeisterung überschaubar – dabei hatten sich viele von der ersten Verfilmung eines Thriller-Romans von Karin Slaughter viel versprochen. Mit „Will Trent“ gibt es nun aber direkten Nachschlag für Fans der US-Amerikanerin: Die ABC-Serie, die bei uns bei Disney+ zu sehen ist, stellt den gleichnamigen skurril-genialischen Ermittler aus Georgia in den Mittelpunkt, dem Bestseller-Autorin Slaughter bereits vierzehn Bücher gewidmet hat. Doch wo in den Romanen das grausige Detail im Vordergrund steht, passt die Serie ins klassische Prodecural-Format. Eine ungewöhnliche Kombi, die funktioniert.
Das deutschsprachige Publikum liebt Regionalkrimis, in den USA geht dagegen nichts über procedurals. Sehr viele gibt es von ihnen, und die wenigsten sind wirklich bemerkenswert, doch sie erfüllen ihren Zweck als verlässliche Form der Routine-Unterhaltung: Mit einem eingespielten Team, in dessen Beziehungsgeflecht sich nur minimale Veränderungen ergeben, werden Woche für Woche Fälle gelöst, wobei der Fokus auf den Details der Ermittlung liegt. Im Streamingzeitalter wirken diese meist bei Network-Sendern laufenden Krimis wie aus der Zeit gefallen, doch ab und an gibt es immer wieder welche, die zu Recht aufmerken lassen. „Will Trent“ ist eine davon.
Seit 2006 veröffentlicht Karin Slaughter ihre in Georgia spielenden Will-Trent-Romane fast im Jahrestakt, weshalb genügend Material für mehrere Staffeln vorliegen dürfte. Dennoch gehen Liz Heldens (Autorin von „The Passage“) und Daniel T. Thomsen (Produzent von „Batwoman“) in ihrer Serienumsetzung erkennbar eigene Wege. Entsprechend legte der heutzutage übliche Social-Media-Shitstorm los, als ruchbar wurde, dass der Südstaaten-Titelheld nicht wie im Buch ein großer blonder Mann sein würde, sondern ein kleiner dunkelhaariger Latino. Die Instant-Empörung hat sich seit der Ausstrahlung Anfang des Jahres in den USA allerdings längst wieder gelegt, denn auch die Skeptiker mussten einsehen, dass Ramon Rodriguez als Will Trent ein ziemlicher Volltreffer ist.
Der in Puerto Rico geborene 43-Jährige spielte lange Zeit vor allem Nebenrollen, war dann Hauptdarsteller der schnell wieder eingestampften Actionserie „Gang Related“ und auch kurz im Marvel Cinematic Universe unterwegs, als Ninja Bakuto in „Iron Fist“. In der HBO-Prestigeserie „The Affair“ hinterließ er schließlich einen markanten Eindruck als mörderischer Marine, ehe er erneut weg vom Fenster war. „Will Trent“ könnte ihn nun doch noch zum Star machen.
Der Titelheld ist ein Special Agent des „Georgia Bureau of Investigation“ (GBI), einer Sicherheitsbehörde, die auf Staatsebene ungefähr das leistet, was das FBI für die gesamten USA übernimmt. Die Behörde sitzt in der Hauptstadt Atlanta und teilt sich dort unangenehmerweise das Gebäude mit dem ihr untergeordneten Atlanta Police Department (APD). Das Polizeirevier ist auf die GBI generell nicht gut zu sprechen und derzeit ganz besonders nicht, denn das GBI konnte gerade einen heftigen Fall struktureller Korruption im APD aufdecken, der viele Cops ihren Job kostete. Chefermittler in dem Fall war: Will Trent. Der Sonderling, der stets im dreiteiligen Anzug mit Krawatte durch die nicht gerade kühle Gegend stolziert bzw. in seinem Oldtimer-Porsche durch die Straßen von Atlanta cruist, gilt seither als oberste Hassfigur der Polizei. Jemand hat sogar die Wörter „Rat! Snitch! Traitor!“ (Ratte, Petze, Verräter!) auf seinen Wagen gesprüht.
Für die Zuschauer ist Trent dagegen absolut kein Unsympath, ganz im Gegenteil. Eingeführt wird er als einer, der es nicht übers Herz bringt, den glubschäugigen Chihuahua seiner verstorbenen Nachbarin seinem ungewissen Schicksal im Tierheim zu überlassen, weshalb er das Hündchen kurzerhand adoptiert. Nach und nach werden im Anschluss Trents Schwächen kenntlich gemacht: Als Dyslektiker fällt ihm das Lesen und Schreiben schwer, ein Umstand, der seinen Ruf als Star-Ermittler in Gefahr bringen könnte und den er nach Kräften zu verstecken sucht. Nachrichten lässt er sich vorlesen, seine Notizen spricht er in ein Audiogerät. Als verschrobenes Genie, das „den Tatort liest wie ein Buch“ (wie es einmal heißt), steht er in der Tradition von Sherlock Holmes und seines medizinischen Epigonen Dr. House, wobei er zwar ebenso trockene Sprüche klopfen kann, insgesamt aber weniger zynisch wirkt. Seine Kollegen und Vorgesetzten können seine mitunter befremdlichen (emotionalen) Reaktionen dennoch zur Verzweiflung treiben. Als Grund für seinen Status als Sonderling werden traumatische Erfahrungen aus seiner Kindheit ins Feld geführt: Nachdem er damals in einem Mülleimer gefunden wurde, durchlebte er schlimme Jahre in Heimen und Pflegefamilien. Wer ihn noch von damals kennt, nennt ihn immer bei seinem damaligen Spitznamen: Trashcan.
Rodríguez setzt die aus den Büchern bekannten Attribute dieser Hauptfigur bestens um, und auch die anderen Darsteller überzeugen. Wie in den Romanen wird Trent die junge Polizistin Faith Mitchell an die Seite gestellt, die eingangs schon deshalb nicht gut auf ihn zu sprechen ist, weil ihre Mutter Evelyn (LisaGay Hamilton aus „Practice“) durch Trents Korruptionsermittlungen aus dem Amt gefegt wurde. Schauspielerin Iantha Richardson gibt eine vortreffliche Sparringspartnerin für Trent, in wechselnden schicken Outfits darf sie durch Georgia stolzieren und ebenfalls bald diverse Schwächen zeigen, familiär wie gesundheitlich. Wie Will und Faith sich gegenseitig Respekt erarbeiten, zieht sich als roter Faden durch die Staffel.
Persönlich wird es auf vielen Ebenen: So unterhält Will seit Jugendtagen eine Mal-ja-mal-nein-Dauerbeziehung zur APD-Polizistin Angie Polaski (Erika Christensen aus „Parenthood“). Auch Angie, die mit Suchtproblemen kämpft, ist im Pflegesystem aufgewachsen, die gemeinsam erlebten Schrecknisse haben die beiden zusammengeschweißt, emotional aber auch so versehrt, dass sie sich nicht dazu überwinden können, sich tatsächlich als Liebespartner zu begreifen. Im Lauf der Staffel werden sie sich gleich mehrere Male trennen.
Angie muss in der Mordkommission mit dem harten Cop Michael Ormewood (Jake McLaughlin aus „Quantico“) zusammenarbeiten – ausgerechnet jenem Mann, mit dem sie betrunken mal im Bett landete, weshalb dessen Ehe seither am seidenen Faden hängt. Dramaturgisch ist es so eingerichtet, dass sich die Fälle des Gespanns Angie/Michael immer wieder mit denen von Will/Faith überschneiden, sodass die gegenseitige Animosität der beiden Behörden fortlaufend eine Rolle spielen kann. Als übergeordnete Instanz gibt es noch Wills Boss Amanda Wagner (wie immer großartig: Sonja Sohn aus „The Wire“), die gelegentlich mitermittelt und sich schön gepfefferte Dialoge mit ihm liefert.
Mit diesen fünf Hauptfiguren wird nun das vielfach beackerte Terrain der „Fall der Woche“-Procedurals betreten. Mal spielen die Fälle in Atlanta, mal in der umliegenden Provinz, mal werden „cold cases“ ausgepackt, mal geht es um Geiselnahmen oder Serienmörder, sogar undercover wird einmal ermittelt. In den Fällen geht’s um Football, um dubiose IT-Firmen, Neo-Nazis, Drogenbanden und sogar Zauberer. Doch das Autorenteam macht rasch deutlich, dass es durchaus mehr im Sinn hat als nur die gängigen Krimi-Routinen. Gleich der erste Fall um die entführte Tochter eines wohlhabenden (und zerstrittenen) Ehepaars aus Atlanta – gespielt von „Dr. House“-Mitstreiterin Jennifer Morrison und Mark-Paul Gosselaar aus „Franklin & Bash“ – zieht sich über zwei Folgen hinweg und ist in Teilen mit Will Trents persönlicher Lebensgeschichte verbandelt. Das weist recht früh darauf hin, worauf die Staffel am Ende hinauswill: auf eine immer stärkere Verquickung der Ermittlungen mit den persönlichen Lebenswegen der Protagonisten.
Tatsächlich sind die Kriminalfälle in den ersten Folgen die schwächeren. Sie bieten wenige Twists und weisen noch kaum hinaus über die gängigen Standards anderer Procedurals à la „CSI“, auch wenn es den wechselnden Regisseuren (darunter „Pretty In Pink“-Macher Howard Deutch) durchaus gelingt, in den Spannungssequenzen die Thrill-Schraube anzuziehen. Erst in der zweiten Hälfte der Staffel aber, wenn’s wirklich persönlich wird für die Figuren, verdichtet sich „Will Trent“ zu einem sehenswerten Krimidrama.
Da geht es dann zurück in die Vergangenheit von Will und Angie, aber auch in jene von Faiths Mutter Evelyn (in den Flashbacks gespielt von Imani Hakim) und Wills Boss Amanda (als junge Frau gespielt von Sydney Park). Angie, deren prekäre Situation als Süchtige von ihrem Sponsor Franklin (Kevin Daniels) besorgt beobachtet wird, gerät in eine dramatische Abwärtsspirale, als ihr früherer Peiniger (überzeugend fies: French Stewart aus „Hinterm Mond gleich links“) wieder auftaucht, und auch ein Ungeist aus Wills eigener Vergangenheit (Greg Germann aus „Ally McBeal“) verschärft die Lage, zu der später in der Staffel eine existenzielle Veränderung in seinem Verhältnis zu Angie gehört.
So gewinnt die Staffel, trotz grundsätzlicher Beibehaltung des „Fall der Woche“-Prinzips, noch einmal deutlich an Dynamik. Alle Hauptfiguren werden davon ergriffen und neu ausgelotet, selbst der anfänglich in seiner toxischen Übergriffigkeit noch recht schematisch wirkende Haudegen Ormewood kommt deutlich anders aus der Staffel heraus, als er in sie hineinging. Am Ende steht eine Art Cliffhanger, der überraschend viel Lust macht auf weitere Abenteuer mit Trent und Kollegen – was sicher vor allem dazu geführt haben dürfte, dass eine zweite Staffel bereits abgemachte Sache ist.
Bis dahin dürfte „Will Trent“ Procedural-Fans eher zufriedenstellen als eingefleischte Karin-Slaughter-Aficionados, denen die in sonnig-sommerlichem Südstaatenlicht inszenierten und in zügigem Tempo erzählten Episoden möglicherweise zu wenig düster-grausig daherkommen. Trotz ein paar abgründiger Details wirkt „Will Trent“ die meiste Zeit über nämlich fast lässig – von den zu Beginn immer wieder einfallsreich ins Bild geschobenen Buchstaben des Serientitels bis zu den wiederkehrenden Szenen mit dem Chihuahua, die als comic relief dienen. Insgesamt ist das überraschend gelungenes Krimi-Entertainment.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der gesamten 13-teiligen ersten Staffel von „Will Trent“.
„Will Trent“ wurde in den USA seit Jahresbeginn 2023 bei ABC ausgestrahlt und kommt aktuell mit wöchentlichen Episoden zur Deutschlandpremiere bei Disney+.
Über den Autor
Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) - gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).
Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation
Kommentare zu dieser Newsmeldung
Spenser am via tvforen.de
Bin ein langjähriger Dan der Romanreihe von Karin Slaughter zu dieser Serie (und vorher der "Georgia Serie", woraus diese Romanreihe quasi als spin Off entstand)
Hatte bisher mich nicht getraut, mal reinzuschauen, aus Angst wieder arg enttäuscht zu werden wie bei der Serie "Die Chemie des Todes" von Simon Beckett, die ziemlich verhunzt wurde meiner Meinung nach.
Reacher von Lee Child wurde sehr gut rübergebracht - ich hoffe, dass Will Trent sich qualitativ daran halten kann.streamingfan am
ich habe nun 5 Folgen gesehen, leider kann mich die Serie bisher nicht so richtig überzeugen.User 65112 am
hmm? Ich fand es bisher erher durchwachsen mittelmäßig. Wie ein Anzug von der Stange ...Vritra am
Unser Streaming-Dienst ist derzeit bei Folge 6. Mein Fazit bislang: Die Serie hat sehr stark angefangen, aber nach der dritten Episode angefangen sehr zu schwächeln. Die Fälle sind nicht gut ausgearbeitet und die persönlichen Dramen der Protagonisten fühlen sich nicht so an, dass man sich mit ihnen identifizieren könnte. Da das die beiden Säulen der Dramaturgie sind, ist mein Eindruck also bislang leider bloß Mittelmaß. Für eine gute Serie muss mindestens einer dieser Bereiche aus der Masse herausragen.
Rodriguez und Richardson spielen sehr gut zusammen, während ich beim Rest des tollen Ensembles noch nicht das Gefühl habe, dass das irgendwann einmal passen könnte. Aber das dauert ja fast immer eine Weile, bis ein Schauspielerensemble sich zusammenrauft; das wird also hoffentlich bald besser. Sonja Sohn hat für mich aktuell zu wenige Szenen. Von ihrer Figur würde ich gerne mehr sehen.
Meine Bewertung der Folgen 1 bis 6: 5 von 10 mit großem Potenzial nach oben.
Eine Spoilerwarnung ab dem Punkt, wo es um die zweite Staffelhälfte geht, wäre angebracht!