„Interview with the Vampire“: Blut, Sex und Einsamkeit – Review

Serienfassung des Kultromans von Anne Rice setzt spannende neue Akzente

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 09.10.2022, 17:00 Uhr

Lestat (Sam Reid) und Louis (Jacob Anderson): Am Anfang ist’s noch ganz romantisch. – Bild: AMC
Lestat (Sam Reid) und Louis (Jacob Anderson): Am Anfang ist’s noch ganz romantisch.

In der Schlüsselszene der ersten Folge von „Interview with the Vampire“ begleitet Lestat de Lioncourt seine neue Bekanntschaft Louis du Lac Pointe in dessen Lieblingsbordell. Eine Nacht mit seiner Lieblingsprostituierten Lily – die hat er ihm geschenkt. Louis ist erst erfreut, dann irritiert, als Lestat ihn während des Schäferstündchens keineswegs alleine lässt. Während Louis loslegt mit Lily, entkleidet sich auch Lestat, um kurz darauf nach Louis’ Hand zu greifen. Der Ergriffene wehrt erschrocken ab, doch Lily haucht ihm zu: „Das ist doch okay.“ Der Akt wird zum Dreier, der Kuss zum Biss, ganz sachte nur, aber in mehrerlei Hinsicht transformativ. Bald schläft Lily, während Lestat und Louis gemeinsam ein paar Zoll über dem Boden schweben, eng umschlungen. Es ist die Nacht, die Louis zum Vampir macht, und es ist zugleich die Szene, die zeigt, dass diese Serienversion des berühmten Blutsaugerromans von Anne Rice nicht mehr dort Halt macht, wo es die berühmte Verfilmung von 1994 noch mit Andeutungen beließ.

Der im Buch kaum zu überlesende homoerotische Subtext war im Film mit Tom Cruise (als Louis) und Brad Pitt (als Lestat) zwar deutlich erkennbar, doch Regisseur Neil Jordan schreckte damals noch davor zurück (bzw. musste er wohl davor zurückschrecken), die Beziehung von Louis und Lestat ganz direkt als schwule Romanze zu inszenieren – was viele Fans von Rices „Vampir Chroniken“ schon damals enttäuschend fanden. Die auf männliche wie weibliche Menschenhälse gleichermaßen fixierten Vampire sind in der Tradition des Gothic Horror schließlich schon immer (bi-)sexuell kodiert – dennoch ging man damals noch nicht so weit: Cruise und Pitt (und Antonio Banderas) warfen sich zwar eindeutig zweideutige Blicke zu, aber dabei blieb es.

Die seit einigen Jahren hin- und herentwickelte und jetzt beim US-amerikanischen Pay-TV-Kanal AMC gestartete Serienfassung korrigiert das beherzt. Das Sehnen und Begehren des unsterblichen Vampirduos generiert nicht nur jede Menge Pathos, sondern auch Sexszenen und überraschend viel Witz: Wenn das nachtaktive Paar seine Tage in nebeneinander platzierten Särgen verbringt und im Anschluss an einen Beziehungsknatsch noch mal kurz die Deckel öffnet, um sich (im Pyjama) auszusprechen, weht ein Hauch skurriler Vampirkomödie à la „What We Do in the Shadows“ durch die Szenen.

Vampire mit Stil: Lestat und der frisch konvertierte Louis in der Oper AMC

Und noch mehr ist neu an und in dieser Serie, an der Anne Rices Sohn Christopher Rice federführend beteiligt ist. Zum Beispiel die Rahmenhandlung, die hier wie im Roman und in der Erstverfilmung die Interviewsituation bildet – allerdings zeitlich um Jahrzehnte verschoben. Aus dem Jungreporter Daniel Molloy (im Film gespielt von Christian Slater, der den Part kurzfristig vom tragisch verstorbenen River Phoenix übernahm), ist ein gealterter und an Parkinson erkrankter Zyniker geworden: Eric Bogosian („Talk Radio“, „Alarmstufe: Rot 2“) spielt ihn umwerfend sarkastisch. Louis, inzwischen über hundert, aber noch genauso frisch und fesch wie eh und je, kontaktiert ihn, um das damalige, im Eklat geendete und daher als gescheitert abgeheftete Interview zu wiederholen – diesmal ohne Selbstzensur, auch was die sexuellen Aspekte betrifft. Im Jahr 2022 grassiert zwar gerade eine Pandemie, doch Molloy fliegt sofort los – es könnte ja der letzter Coup seiner aus dem Lot geratenen Karriere werden.

Das Setting der Interviewsitzungen wurde dahin verlegt, wo heutzutage wahrscheinlich auch reale Blutsauger (egal welcher Art) verlässlich Zuflucht finden: in ein schickes, mit abdunkelbaren Fenstern ausgestattetes Luxusloft in Dubai, das mit seinen geschwungenen Torbögen und Felsmaterialien aussieht wie die Designergruft aus einem Coffee-Table-Book. Dort residiert Louis (Jacob Anderson, bekannt als Grauer Wurm aus „Game of Thrones“), im Look eines milliardenschweren Digitalunternehmens, mit seinem derzeitigen Gefährten oder Lover oder (wie es im Vampirenjargon heißt) familial Rashid (Assad Zaman). Während Daniel von schwarzgewandeten Kellnern mit ebenso schwarzem Mundnasenschutz ein mehrgängiges Gourmetdinner serviert wird, löffelt Louis Blutsuppe („AB negativ“), frisch abgefüllt auf einer zertifizierten Farm. Mitunter kommt auch ein sportlicher Mann herein und wird kurz von Louis angesnackt. Die reaction shots vom Gesicht von Eric Bogosian, wenn der dieser Szenen ansichtig wird, sind pures Gold.

Was Louis rückblickend über sein Leben erzählt, folgt im Kern der Geschichte aus Rices Roman „Gespräch mit einem Vampir“, der 1976 ihren Durchbruch markierte und obendrein der erste Eintrag in ihrer erfolgreichen „Chronik der Vampire“ war. Man erfährt, wie Louis vom adligen Blonden Lestat (Sam Reid, „’’71“) umworben und zum Vampir gebissen wird, wie sie gemeinsam wohnen und leben und wie die Jahrzehnte an ihnen vorbeiziehen. Am Ende der ersten beiden (von sieben) Episoden, die AMC bislang gezeigt hat (montags folgt jetzt im Wochentakt eine neue), ist das von Lestat ebenfalls zum Vampir gemachte Mädchen Claudia (deren Rolle im Film die damals 12-jährige Kirsten Dunst zum Kinderstar machte) noch gar nicht aufgetaucht. Die Einsamkeit des Vampirs, der unsterblich durch die Zeit wandert und alles sterben und vergehen sieht, was er zwischendurch zu lieben wagte, zieht sich analog zum Roman leitmotivisch durch die Szenen; neben Anderson, Reid und Bogosian gibt es keine weiteren Darsteller*innen, die zum „Main Cast“ zählen, was darauf hindeuten könnte, dass die weiteren Folgen zügig durch die Dekaden wandern und die Nebenfiguren nach und nach besuchen werden.

New Orleans im Jazz Age: Paul (Steven Norfleet) und sein Bruder Louis steppen durch die Nacht. AMC

Inhaltlich nimmt Showrunner Rolin Jones (zuletzt Autor des „Perry Mason“-Revivals) neben der zeitlich verschobenen Rahmenhandlung und der Konkretisierung von Louis’ Homosexualität noch weitere entscheidende Änderungen vor, die Rice (die im letzten Jahr gestorbene Bestsellerautorin wird als Executive Producer geführt) noch alle abgesegnet hatte – und die sich für die Story als erstaunlich fruchtbar erweisen. Zunächst wird der Beginn von Louis’ Geschichte vom 18. Jahrhundert ins Jahr 1910 verlegt, und zwar nach Louisiana. Das New Orleans und seine halbseidenen Vergnügungsbezirke am Anbeginn des Jazz-Zeitalters wiederaufleben zu lassen, das war sichtlich ein Fest für die Ausstattungs- und Kostümabteilungen der Produktion.

Zweitens ist aus dem weißen Plantagenbesitzer Louis in der Serie ein Schwarzer geworden, der das Geld aus dem Zuckerrohranbau des verstorbenen Vaters als Bordellmanager durchzubringen versucht, um die Familie zu ernähren. Puff- statt Plantagenbesitzer und Sklavenhalter: Natürlich ist das viel sympathischer. Der Hautfarbenswitch ist dabei definitiv kein Akt vorauseilender „Wokeness“ (auch wenn die üblichen Rassisten genau dies im Netz erwartbarerweise längst behaupten), sondern ein intelligenter erzählerischer Kniff, der Louis’ Außenseiterposition sowie seine Beziehung zum (weißen) Lestat mit zusätzlicher Tiefe ausstattet: So wird Louis in New Orleans von den korrupten Stadtfürsten, mit denen er Geschäfte macht, allenfalls geduldet, wobei ihm ständig suggeriert wird, dass er froh sein müsse, überhaupt mitmischen zu dürfen. Dass sich die Männer vom finanziellen Erfolg des von ihnen so betitelten „N(-Wort)“ bedroht fühlen, schwingt immer mit.

Louis’ verdrängte Sexualität wabert zudem beständig unter der Oberfläche. Sie offen auszuleben, scheint schier unmöglich, auch wenn Louis’ psychisch kranker Bruder (Steven G. Norfleet aus „Watchmen“) ebenso etwas zu ahnen scheint wie seine Mutter (statuarisch gespielt von Eighties-Ikone Rae Dawn Chong, „Phantom-Kommando“). Der Biss durch Lestat ist auf dieser Basis also noch stärker als eine Art „Befreiung“ zu lesen, als dies im Roman sowieso schon der Fall war. Und doch bleibt diese neue Freiheit eine zwiespältige: Selbst an der Seite von Lestat darf er nur verkleidet als dessen Diener mit in die Oper. Gespannt sein darf man darauf, was die Tatsache, dass auch die kleine Claudia von einer Schwarzen Schauspielerin (Bailey Bass) verkörpert wird, am Binnengefüge der Kleinfamilie mit Louis und Lestat als Quasi-Eltern ändern wird.

Zur ewigen Kindheit verdammt: Claudia (Bailey Bass) wird zur Ziehtochter. AMC

Durchaus erstaunlich ist jedenfalls, wie gut diese Umstrukturierung, diese geänderte Schwerpunktsetzung im queeren und ethnischen Kontext funktioniert, denn niemals schiebt sich irgendwas Verkopftes oder gewollt Politisches vor die Sinnlichkeit der Erzählung. „Interview with the Vampire“ ist immer noch jenes düstere, schauerromantische Gruselmärchen, als das es von Roman und Film etabliert wurde. Von „Game of Thrones“-Regisseur Alan Taylor gespickt mit einigen durchaus harten Gore-Momenten und niemals ohne Witz, bleibt der Story auch ihre melodramatische Schwülstigkeit erhalten, für die sie viele immer geliebt haben. Jacob Anderson und Sam Reid sind dafür ein fantastisches Duo. Man nimmt ihnen ihre anfängliche Verliebtheit (ihre Spaziergänge werden von Daniel Harts tänzerischem Score untermalt wie eine Liebeskomödie aus dem alten Hollywood) und gegenseitige Faszination ebenso ab wie die qualvollen Zerwürfnisse, in die sie sich bald verwickeln: Louis fühlt sich abgestoßen von Lestats moralbefreitem Menschenmorden und hadert mit seiner neuen Existenz. Und auch Taylor, sein kinoerfahrener Kameramann David Tattersall und die Tonabteilung finden verlässlich gute Lösungen, etwa für Louis’ sich verändernde Wahrnehmung und für die telepathische Kommunikationsform, derer sich der magnetisch anziehende Lestat bedient.

Insgesamt gelang hier eine überraschend prägnante Neudeutung des bekannten Stoffs, die durchaus auf mehr aus ist: Schon vor dem Start wurde von AMC eine zweite Staffel bestellt. Ob diese ebenfalls auf dem „Interview“-Roman basiert oder Rices weitere Romane anzapft, das wird sich zeigen – der Sender plant jedenfalls, für das Leben nach „The Walking Dead“, ein neues Franchise, das sogenannte „Immortal Universe“. Ob das wirklich sein muss, steht auf einem anderen Blatt. Dieser erste Schritt jedenfalls ist vielversprechend.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden von „Interview with the Vampire“.

Meine Wertung: 4/​5

Die erste Staffel von „Interview with the Vampire“ läuft seit dem 2. Oktober bei AMC und AMC+. Eine deutsche Heimat ist noch nicht bekannt geworden.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Nach der "herausragenden" Kritik habe ich die Serie von der Watchlist genommen. Bei "The Originals" liebe und feiere ich den diversen Cast, dort passt er auch einfach.
    Hier passt der Cast nun wieder überhaupt nicht. Also bleibe ich bei "The Originals". Man kann eh nicht Alles schauen. So what.
    • (geb. 1987) am

      Oh Gott, Blacula is back...
      Das Wichtigste Element einer Serie ist die Identifikation, die ein Eintauchen, ein Mitgehen, ein Mitfühlen verursacht. Ist bekannt...
      Neuerdings möchte man sich des einfältigen "Tricks" bedienen, es jedem Menschen auf diesen Planeten recht zu machen - was ausschließlich dazu führt, dass sich fast keiner wiederfindet.
      Jung, alt, schwarz, weiß, rot, gelb, Mann, Frau, hetero, schwul, rechts, links, gehandicapt, gesund, bi, pan, Erdling, Busenmonster vom Jupiter... jeder 1%er soll sich angesprochen fühlen - was bedeutet, dass es 99% NICHT tun.
      Und so verkommt ein anspruchsvolles Spiel indem sich eine Generation verloren hat zu einem erwachsenenpädagogischen Reclamheft, indem die Geschichte nur Mittel zum umerziehenden Zweck ist.
      Schade!
      • am

        Hach. Das liest sich sooo vielversprechend und ich bin schon seit der ersten News, dass da iwann mal ne Serie geplant ist, voll gehypt. Und jetzt das Aber: Die Besetzung. Sorry, aber Anderson war schon in GoT nur anstrengend. Der guckt durchgehend, als ob er entweder gleich nen Wutanfall hat oder verstopft ist. Oder beides gleichzeitig. ;o)
        Und erst Reed. Oh jehminee. Lestat ist praktisch fleischgewordenes Charisma - Reed ist ungefähr so charismatisch wie mehlig kochende Kartoffeln. Der Trailer hilft mir da kein Stück: Ich seh dort überall Verstopfung und Kartoffelmatsch. Und jetzt weiss ich auch nicht mehr...*hmpf*

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