„Here and Now“: Holly Hunter und Tim Robbins überzeugen in Multikulti-Familienserie von „Six Feet Under“-Schöpfer – Review

Alan Ball behandelt existenzielle Fragen auf gewohnt lakonische Weise

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 27.03.2018, 17:00 Uhr (erstmals veröffentlicht am 22.03.2018)

Die Bayer-Boatwrights in „Here and Now“ – Bild: HBO
Die Bayer-Boatwrights in „Here and Now“

Lange Zeit war HBO vor allem bekannt für seine anspruchsvollen Dramaserien über dysfunktionale Familien, von den „Sopranos“ über die Fishers aus „Six Feet Under“ bis zur polygam lebenden Sektenfamilie in „Big Love“. Obwohl auch HBOs derzeit größter Erfolg „Game of Thrones“ sich letztlich um mehrere Familien dreht, hat sich der Fokus des Premiumsenders doch in jüngerer Zeit in Richtung Fantasy und Sci-Fi („Westworld“) verlagert. Mit „Here and Now“ kehrt er nun zu seinen Wurzeln zurück, stellt die Serie doch wieder eine Familie im gegenwärtigen Amerika in den Mittelpunkt. Zudem stammt sie aus der Feder von Alan Ball, neben David Simon einem der prägenden Köpfe der Seriengeschichte des Senders, der neben „Six Feet Under“ auch schon das Vampirdrama „True Blood“ kreierte.

„Here and Now“ beginnt wie eine konventionelle Familienserie, wobei es einige Minuten dauert, bevor man versteht, dass diese Figuren unterschiedlicher Hautfarben, die die Pilotfolge einführt, tatsächlich alle zu einer einzigen Familie gehören. Das Ehepaar Bayer-Boatwright, gespielt von den Kinostars Holly Hunter („Das Piano“) und Tim Robbins („Mystic River“), hat seinen alternativen Lebensentwurf nämlich unter anderem zu verwirklichen versucht, indem es drei Kinder aus für US-Verhältnisse „exotischen“ Ländern adoptierte: Ashley aus Liberia (Jerrika Hinton) ist inzwischen erfolgreiche Betreiberin einer Modewebseite, Duc aus Vietnam (Raymond Lee) motiviert als Coach Menschen mit allen möglichen persönlichen Problemen und Ramon aus Kolumbien (Daniel Zovatto) entwickelt Computerspiele. Die Jüngste, die 17-jährige Kristen (Sosie Bacon), ist das einzige leibliche Kind der Familie und auch die Einzige, die noch bei den Eltern lebt.

Die erste Folge dreht sich hauptsächlich um die Vorbereitungen zur Geburtstagsfeier zum 60. von Familienvater Greg. Der hat selbst überhaupt keine Lust, seinen runden Geburtstag groß zu zelebrieren, steckt er doch mitten in einer veritablen Midlife Crisis: Seinen Job als Philosophieprofessor sitzt er gelangweilt ab, das eingeschlafene eheliche Sexualleben versucht er mit regelmäßigen Besuchen bei einem Luxus-Callgirl aufzupeppen, und generell ist er der Ansicht, dass es mit der Gesellschaft und der Menschheit eh langsam den Bach runtergeht. All die Kämpfe, die er und seine Ehefrau Audrey im Laufe ihres Lebens für eine bessere Welt gefochten haben, scheinen ihm in der Rückschau vergeblich. Anders als Audrey, die als Therapeutin und Schulpsychologin arbeitet und die Hoffnung noch nicht aufgegeben hat, etwas bewirken zu können. Während sich Greg also durch seinen Alltag quält, glaubt Sohn Ramon, langsam verrückt zu werden, sieht er doch ständig die Zahlenkombination 11:11 – wenn auch zuerst noch unspektakulär auf Uhren und stehengebliebenen Zeitzählern im Fitnessstudio. Dazu kommen seltsame Träume, in denen eine Frau in einer ihm unbekannten Sprache zu ihm spricht, bevor sie sich die Haut vom Gesicht zieht.

Familienvorstand Greg (Tim Robbins)

Die Handlung kumuliert auf der Familienfeier, als zunächst Greg während einer Rede seine Depressionen offenbart, bevor Ramon vollends durchdreht: In einer bedrohlich wirkenden Halluzination verwandeln sich die Flammen einiger Kerzen in die Ziffern 1111, die durch den Raum auf ihn zuschießen. Das führt Ramon samt Eltern zu einem Psychotherapeuten und gleichzeitig die Serie in eine metaphysische Richtung, kommen dadurch doch auch noch geteilte Erinnerungen von Menschen, die sich gar nicht kannten, ins Spiel. Diese kurzen Einbrüche von (Tag-)Träumen und Visionen gab es auch schon in „Six Feet Under“ immer wieder, hier treibt Ball sie aber noch weiter. Was das Ganze zu bedeuten hat, wird sich wohl erst im Laufe der Serie offenbaren, es gibt ihr aber schon in den ersten Folgen eine interessante surreale Note. Auch davon abgesehen ist spätestens nach einer halben Stunde das alte SFU-Feeling wieder da, auch wenn „Here and Now“ visuell viel moderner wirkt und inhaltlich die weiße Bestatterfamilie Fisher – ganz dem veränderten Zeitgeist folgend – der multiethnischen Freigeistfamilie Bayer-Boatwright Platz gemacht hat.

Aber die vertrauten Themen sind wieder da: Sinnsuche, Ehe und Partnerschaft, Homosexualität, Pubertät und die Suche nach selbstbestimmter Sexualität, geschwisterliche Beziehungen und generell die Familie als widersprüchliches Konstrukt zwischen einem Hort „bedingungsloser Liebe“ (wie es auf einem von Audreys Sofakissen steht) einer- und erdrückenden Erwartungen andererseits. SFU-Fans werden außerdem einige Darsteller wiedererkennen, allen voran Peter Macdissi, in der Vorgängerserie der exaltierte Kunstprofessor Olivier Castro-Staal, jetzt als persischstämmiger Therapeut Dr. Farid Shokrani Teil des Hauptcasts. Durch ihn und seine Familie kommt noch das Thema Religion ins Spiel, ist er doch vor den Gräueln der Islamischen Revolution geflohen. Wenn sein Sohn Navid (Marwan Salama) sich als Transgender und gläubiger Muslim zugleich entpuppt, treibt es Ball vielleicht etwas zu weit mit seinem Ansatz, möglichst viele wichtige gesellschaftliche Themen im Rahmen einer Serie abzuarbeiten.

Therapeut Dr. Farid Shokrani (Peter Macdissi) hat ganz eigene Familienprobleme


Das fällt aber nicht weiter ins Gewicht, ist er doch ein hervorragender Drehbuchautor, dem auch hier wieder interessante Figuren gelingen, an die man sich nur zu gerne gewöhnen würde. Und dann gibt es auch wieder diese typisch absurden Ball-Momente, etwa in der großartigen, völlig wortlosen Auftaktsequenz zur dritten Folge, als Greg auf der Autofahrt zu einer Konferenz einem Hirschen begegnet. Von der majestätischen Erscheinung des Tiers fasziniert, vergisst er für einen Moment seine Weltzweifel und will in die unberührte Natur des Waldes eintauchen. Doch die führt ihn schnell wieder in die bittere Realität zurück und zu der herrlichen Erkenntnis, die auch der Episode ihren Titel gibt: „Wenn ein Hirsch in den Wald scheißt, bedeutet das absolut nichts.“

Auf dem Papier klingt das Konzept von „Here and Now“ ein bisschen wie die Pay-TV-Variante der in den USA erfolgreichen modernen Familienserie „This Is Us“ mit ihrer diversen und Hollywood-untypischen Besetzung. HBO hat hier ein bemerkenswertes Ensemble aus etablierten Stars (Robbins und Hunter) und jüngeren, noch unbekannten SchauspielerInnen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen versammelt. Die Serie erschöpft sich aber nicht in ihrem Multikulti-Setting, sondern behandelt existenzielle Fragen, die jeden angehen, auf die von Ball gewohnte humorig-lakonische Weise. Damit haben die Bayer-Boatwrights alle Voraussetzungen, um in die großen Fußspuren der Fishers zu treten.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten vier Episoden der Serie „Here and Now“.

Meine Wertung: 4/​5

Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: HBO

Die erste Staffel von „Here and Now“ feiert aktuell noch in den Vereinigten Staaten bei HBO ihre Weltpremiere. Durch Sky Atlantic HD kommt die Serie ab dem 28. März nach Deutschland. Der Sender zeigt um 20:15 Uhr die erste Doppelfolge, danach gibt es wöchentlich eine neue Episode.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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