In diesem Jahr feiert die ARD ein großes TV-Jubiläum, nämlich ihr 75-jähriges Bestehen. Den Geburtstag nimmt auch die Redaktion von fernsehserien.de zum Anlass, um der ARD zu gratulieren: In den kommenden Wochen teilen Redakteure und Mitarbeiter der unterschiedlichsten Generationen ihre persönlichen Erinnerungen und Gedanken rund um die ARD. Heute nimmt uns unser Serienreviewer Stefan Genrich mit auf eine Reise durch seine Fernseherlebnisse in den Dritten Programmen.
Als Grundschüler las ich eifrig den Abspann von Filmen und Fernsehserien. Deshalb entdeckte ich die geheimnisvollen Großbuchstaben NDR am Ende jeder Folge von „Sesamstraße“. Allerdings interessierte mich in den 70er-Jahren wenig, dass Norddeutscher Rundfunk als NDR abgekürzt wurde. Ebenso blieb mir verborgen, dass der NDR zu einer gewissen ARD gehörte – der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland. Gleichwohl vertraute ich als junger Hüpfer darauf, dass der liebe NDR irgendwie die Puppen der „Sesamstraße“ auf den Bildschirm schickte. Später erkannte ich, dass mein Herz für den Westdeutschen Rundfunk schlug: Denn der WDR versteckte lustige Spielfilme mit Jerry Lewis im sogenannten „Dritten Programm“ für Nordrhein-Westfalen, dem damaligen Westdeutschen Fernsehen. Hier genoss ich zum Beispiel „Plattenküche“, „Raumpatrouille“ und Science-Fiction von Jack Arnold.
Ausschnitt eines Filmplakats zu Jack Arnolds Klassiker „Tarantula“, der 1983 im Westdeutschen Fernsehen lief. Universal Pictures
Übliche Disziplin pausiert während „Sesamstraße“
Zu Beginn der 70er-Jahre kannte ich bereits „Die Sendung mit der Maus“, die vom WDR für Das Erste geliefert wurde. Irgendwann stieß ich auf eine rotzfreche Alternative: Der NDR hatte die „Sesamstraße“ aus den USA eingeführt und eingedeutscht. Wie die meisten Dritten Programme zeigte Nord 3 montags bis donnerstags frische Folgen. Das Westdeutsche Fernsehen räumte ebenfalls einen morgendlichen Sendeplatz für die „Sesamstraße“ frei. Aber ich drückte vormittags die Schulbank, oder in den Ferien verschlief ich den Besuch der Fernsehfreunde. Deswegen schaltete ich erst die Wiederholungen gegen 18 Uhr ein.
Bis heute lache ich über Ernie und seinen genervten Mitbewohner Bert. Herrlich, wie Krümelmonster seine Kekse zerbröselte und in sich reinstopfte! Und der schmutzig-grüne Griesgram Oskar wohnte in einer Mülltonne. Zumindest für eine halbe Stunde pausierte die übliche Disziplin. Trotzdem erlernte ich Zahlen, Buchstaben und Begriffe in der „Sesamstraße“: So rannte das nette Monster Grobi atemlos hin und her, um den Unterschied zwischen nah und fern zu erklären. Spielszenen mit dem gelben Riesenvogel Bibo und seinen menschlichen Gefährten steigerten meine Neugier auf kulturelle Eigenheiten. Übrigens hat mein Kollege Dennis Braun all die anregenden Episoden in einem Artikel gewürdigt (zum Special „Prosit, deutsche „Sesamstraße“! 50 Jahre ‚Wer nicht fragt, bleibt dumm!‘“).
„Raumpatrouille“ startet beim Blick durch Türspalt
Zwischendurch vernachlässigte ich das spezielle Kinderprogramm. Schließlich glühte 1973 mein Gesicht vor Anspannung, als ich zu vorgerückter Stunde durch einen Türspalt auf das Fernsehgerät linste: Auf diese Weise begleitete ich heimlich das Raumschiff Orion auf seiner „Raumpatrouille“, deren Premiere mich als Baby noch nicht besonders interessiert hatte. Als ich vor der angelehnten Tür des Wohnzimmers spionierte, sah ich in Wahrheit lediglich Bruchstücke des Knüllers aus den 60er-Jahren – bis Papa aus dem Sessel aufstand und ich ins Kinderzimmer flitzte. Nach zusätzlichen Wiederholungen auf unterschiedlichen Sendern zählten die schwarz-weißen Erlebnisse von Commander Cliff McLane (Dietmar Schönherr) zu meinen Lieblingsserien. Doch als erster Sender ließ mich das Westdeutsche Fernsehen vom Start aus der Unterwasserbasis träumen.
Werbung begleitet attraktive Serien, Shows und Regionalberichte
Seit den frühen Tagen des Fernsehens in der Bundesrepublik existierten regionale Fenster an Werktagen. Deshalb wurde das Erste zwischen 18 Uhr und 20 Uhr aufgeteilt. So konnte das Westdeutsche Werbefernsehen WWF gezielt seine Werbeblöcke vermarkten. Dazu platzierten die schlauen Fernsehmacher ihre Clips zwischen attraktiven Unterhaltungssendungen, Regionalnachrichten und Serien. In diesem Umfeld bat meine ältere Cousine den verehrten „Dr. med. Marcus Welby“ um einen Hausbesuch ab 1972 oder 1973. Dabei ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, dass meine Verwandte eher dem flotten Mediziner Dr. med. Steve Kiley (James Brolin) als dem erfahrenen Kollegen Marcus Welby (Robert Young) zuneigte.
1976 fieberte ich im WWF mit bei „Kobra, übernehmen Sie“. Kennt niemand diese Serie? Vielleicht unter dem Originaltitel „Mission: Impossible“, der ebenso für die nachträgliche Filmreihe steht? Selbstverständlich werde ich Tom Cruise niemals verzeihen, dass er Jim Phelps (Peter Graves) in einen Bösewicht verwandelt und den Helden meiner Kindheit verraten hat. Als eleganter Agent übernahm Jim Phelps weltweit gefährliche Aufträge, nachdem er eine geheime Aufzeichnung abgehört hatte und dieses Tonband sich selbst zerstört hatte. Der Spezialeffekt mit Qualm und dramatischer Musik von Lalo Schifrin zerrte an meinen Nerven. Das eigens zusammengestellte Team etwa mit der geheimnisvollen Spezialistin Cinnamon (Barbara Bain) zog mich in den Bann. Wie litt ich Qualen, wenn die Werbepause und sogar ein Regionalmagazin die mitreißende Handlung unterbrachen!
Auch sonst lieferte mir das WWF verlässlich das begehrte Serienfutter. Im nächsten Jahr 1977 flog ich zum Planeten Medora, um „Die Mädchen aus dem Weltraum“ zu bekehren. Es stand den Damen nämlich keineswegs zu, alle Männer zu beherrschen und dem starken Geschlecht seine Rechte zu verweigern. Diese verrückte Co-Produktion vermischte deutsche Gründlichkeit mit britischem Humor. Das Rezept gelang erstaunlicherweise, obwohl wir über die Übertreibungen und die Naivität in unserer Gegenwart staunen mögen. Mehr oder weniger bekannte Schauspieler aus dem Vereinigten Königreich trafen auf deutsche Kolleginnen und Kollegen: Mir erschienen Christiane Krüger („Das Gold der Wüste“) und Christian Quadflieg („Der Landarzt“) irgendwie vertraut. Natürlich reizte mich Widerstandskämpfer Akam, hinter dem „Winnetou“-Darsteller Pierre Brice steckte.
„Plattenküche“ verbindet aktuelle Hits mit albernen Sketchen
Trotz aller möglichen Experimente galt das Westdeutsche Fernsehen der 70er-Jahre als anstrengender Kultur- und Bildungskanal. Gegen solche Vorurteile stieg das Dritte Programm für NRW ständig in meinem Ansehen. So traf die „Plattenküche“ meinen Musikgeschmack in der ausbrechenden Pubertät. Zudem zündete bei mir der zugehörige Humor. Nach wie vor danke ich den Moderatoren Helga Feddersen und Frank Zander für die albernen Sketche. Richtig komisch wurde es, wenn die Kulissen auf die singenden Gaststars purzelten oder weitere Überraschungen die Vorführung vermasselten. Etliche Teenager in Nordrhein-Westfalen empfanden die „Plattenküche“ als Pflichtprogramm im Westdeutschen Fernsehen von 1976. Leider beklagten Moralapostel die scheinbare Niveaulosigkeit. Zugleich hassten Feministinnen die Darbietungen nackter oder halbnackter Frauen wie der Go-Go-Girls. Dennoch wechselte die unartige Show nach zwei Jahren ins Erste, um Zuschauer in der ganzen Bundesrepublik und in der DDR zu erreichen.