„Strange Angel“: Raketenforschung trifft Okkultismus, Explosion bleibt aus – Review
„Black Swan“-Autor Mark Heymans ambitionierte Serie kommt schwer in die Gänge
Rezension von Gian-Philip Andreas – 25.06.2018, 17:30 Uhr
Wenn man einen Blick auf die Biografie von Jack Parsons (1914–1952) wirft, fragt man sich sofort, warum es noch kein starbesetztes Kino-Biopic über diesen Mann gegeben hat: ein Pionier der Raketenantriebsforschung, ein bestens aussehender Chemiker, der das heute zur NASA gehörende „Jet Propulsion Laboratory“ gründet, sich nebenher sektiererischen, sexmagischen Ritualen zuwendet, im kommunistenfressenden McCarthyismus der Fünfzigerjahre als Spion denunziert wird und sich dann, mit gerade mal 37, im heimischen Labor mit Knallquecksilber in die Luft jagt. (Eventuell wurde er auch ermordet.)
Erfinden kann man so jemanden nicht: Hätte es ihn nicht wirklich gegeben und wäre nicht heute noch ein Mondkrater nach ihm benannt – man würde diese Figur keinem Drehbuchautor abnehmen. Man würde nicht glauben, dass der tüftelnde Technik-Freak im esoterisch-verstiegenen Thelema-Kult des britischen Okkultisten Aleister Crowley aufgehen konnte und sogar dessen kalifornische Abteilung, die „Agape-Loge“ in Los Angeles, als Oberpriester leitete. Man würde nicht glauben, dass ihn seine zutiefst katholische Frau für seinen Priestervorgänger verließ und er sich im Gegenzug mit ihrer jüngeren, minderjährigen Schwester einließ. Man würde erst recht nicht glauben, dass jene Schwester dann mit Scientology-Gründer L. Ron Hubbard durchbrannte und Parsons mit diesem finanziell betrog. Und von den Ufo-Sichtungen seiner nächsten Gattin hätte man da noch gar nicht erst angefangen. Was für eine Story! Man könnte sich das bestens vorstellen als Film von Scorsese, mit DiCaprio in der Titelrolle, ganz im Stil von „Aviator“.
Stattdessen gibt es nun zehn Episoden der Serie „Strange Angel“, die für die Video-on-Demand-Plattform CBS All Access produziert worden sind, nachdem der Pay-TV-Kanal AMC dankend abgelehnt hatte. Die Namen der Beteiligten sind nicht ohne: Als Showrunner fungiert Mark Heyman, bekannt als Kreativpartner von Darren Aronofsky und Autor von „Black Swan“; als Regisseur der ersten Episoden wurde niemand Geringerer engagiert als der zuletzt zu Recht gehypte David Lowery („A Ghost Story“), dessen glazial und sorgfältig vorgehender Inszenierungsstil sich sofort bemerkbar macht. Lowery ließ seinen Stammkomponisten David Hart an Bord holen, der eine hörenswerte Tonspur zwischen Minimal und Folk Music beisteuerte. Weitere Folgen sollen unter anderen der britische Independent-Kultfilmer Ben Wheatley („Kill List“) und Qualitätsserien-Veteran Ernest Dickerson („Dexter“, „The Wire“, „The Walking Dead“) inszenieren.
Fürs Erste steht der berufliche Werdegang des explosionssüchtigen Heißsporns im Mittelpunkt, den Jack Reynor („Transformers: Ära des Untergangs“) mit Babyface und Oberlippenbärtchen als rebellischen Träumer spielt wie eine Mischung aus DiCaprio und Errol Flynn. Richtig charismatisch wird Reynor leider nie, weshalb ihn die Fantasy-Quellen (von Buck Rogers bis Jules Verne), aus denen sich seine zukunftsweisenden Spinnereien speisen, in den Schatten zu stellen drohen. Parsons’ Laufbahn als Chemiker war während der Großen Depression jäh unterbrochen worden, weshalb er zu Beginn der Serie als Hausmeister in einem Munitionswerk schuftet, um sich und seine Frau Susan (eine bibeltreue Betty Draper: Bella Heathcote, „The Man in the High Castle“) über Wasser zu halten. Vom Wohlstand der Parsons-Familie ist nichts geblieben, und auch wenn Jacks Mutter (Hope Davis, „About Schmidt“) die Fassade aufrechtzuerhalten bemüht ist, sind Jack und Susan doch vor allem auf abschätzige Almosen von Susans Stiefvater Virgil Byrne (Michael Gaston aus „The Leftovers“) angewiesen. Die Serie setzt 1938 an, ein Jahr vor Beginn des Zweiten Weltkriegs: Im Radio spricht Neville Chamberlain über Appeasement, einmal ist Orson Welles in einem „The Shadow“-Hörspiel zu hören.
Eine Abstellkammer als Analogie zu Steve Jobs’ Apple-Garage: Heyman erzählt diesen typisch amerikanischen Gründungsmythos wie ein konventionelles Biopic, auch wenn die allermeisten Namen geändert wurden und Parsons längst nicht der akademische Outsider war, als der er hier gezeichnet wird. Haufenweise Exposition türmt sich in den ersten beiden Episoden aufeinander, dennoch werden die physikalisch-chemischen Vorgänge, um die es geht, so schnell abgehandelt, dass davon für Nichtexperten kaum etwas hängenbleibt. Erschwerend kommt hinzu, dass Kendall seinen Richard, der als „vernünftiger“ Gegenpart zum schwärmerischen Parsons angelegt ist, als bedauernswert langweilige Figur spielen muss.
Worum es eigentlich geht – oder gehen soll -, wird bald explizit in eine Dialogzeile gepackt. Frei nach Newton gebe es in Parsons Leben „einen Teil, der explodieren möchte und einen Teil, der das unter Kontrolle halten möchte“. Diesen Satz spricht Jacks neuer, mysteriöser Nachbar Ernest Donovan, und immer, wenn diese Figur auftaucht, gewinnt „Strange Angel“ sofort an Spannung, Energie und schauspielerischer Klasse. Rupert Friend („Homeland“) verkörpert Donovan als anarchistischen Freigeist, als charlie-sheeneske Mixtur aus Clown und Dämon, der in fremde Häuser eindringt und in Sekundenschnelle zwischen bedrohlich, charmant, undurchdringlich und sexuell anziehend changiert – was sowohl Jack als auch Susan erst irritiert und dann in den okkulten Kreis der von Alfred Miller (Greg Wise, „Walking on Sunshine“) geleiteten lokalen Thelema-Loge locken wird, mit ihren sexmagischen Praktiken und radikal-hedonistischen Lebensmaximen wie „Tu nur das, was du willst“. Ein Pfad, der all jene Kuriositäten nach sich ziehen wird, von denen eingangs die Rede war.
Man wünscht sich, dass es Heyman gelingt, im Rest der Staffel noch ordentlich an der Spannungsschraube zu drehen. Die Parallelführung von Raketenforschung und privatem Abdriften in eine religiöse Parallelwelt ist eine schwierige Aufgabe, gewiss, könnte aber, wenn alles gutgeht, noch zu aufregenden dramaturgischen Kollisionseffekten führen. Bislang wirkt „Strange Angel“ leider wie eine zeitgeschichtlich informierte Serie à la „Manhattan“, die den annoncierten Brückenschlag aufs „Rosemaries Baby“-Terrain eher noch sucht als schon gefunden hat.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten zwei Folgen von „Strange Angel“.
Gian-Philip Andreas
© Alle Bilder: CBS All Access
Aktuell feiert die Serie „Strange Angel“ ihre Weltpremiere beim amerikanischen Streaming-Dienst CBS All Access. Eine deutsche Heimat für die Serie ist bisher noch nicht bekannt geworden.
Über den Autor
Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) - gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).
Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation