Auf Firmenausflug: Helly (Britt Lower), Mark (Adam Scott), Irving (John Turturro) und Dylan (Zach Cherry) starren ratlos in die kapitalistische Kälte.
Bild: Apple TV+
Vor drei Jahren ging die erste Staffel von „Severance“ mit einer der spannendsten Episoden des Serienjahrs 2022 zu Ende - mit einem geradezu brutalen Cliffhanger für alle jene, die am liebsten sofort weitergeschaut hätten. Doch die Macher um den zuvor nahezu unbekannten Autor Dan Erickson und Regisseur Ben Stiller ließen sich Zeit; groß war schließlich die Gefahr, die hochkonzeptionelle Struktur ihres Sci-Fi-Thrillers zu verwässern. Jetzt, nach fast drei Jahren, läuft die zweite Staffel endlich an – und dürfte Fans sofort abholen. Nicht alle offenen Fragen werden dabei umgehend beantwortet. Jede Menge neue werden stattdessen aufgeworfen.
Mit „Severance“ hatte sich der 2019 gestartete Streamingdienst Apple TV+ endgültig als Heimstätte origineller und originaler Serienstoffe etabliert, fernab des üblichen Sequel- und Spin-Off-Geschäfts. Nach „For All Mankind“, „Foundation“ oder „Ted Lasso“ hatte er plötzlich einen High-Concept-Science-Fiction-Thriller im Programm, dessen Look schon kurz nach Start als ikonisch galt: eine kapitalismuskritische Arbeitsplatzsatire auf „Black Mirror“-mäßiger Basis, mit Mystery-Abgrund und surrealen Exkursen, dargeboten von exzellenten Darstellern und in bemerkenswert abgezirkelter Regie: „Severance“ war unverwechselbar und landete Ende 2022 auf vielen Bestenlisten.
Die Grundidee: In der Welt der Serie, deren zeitliches und örtliches Setting entschieden unklar bleibt, wurde vom ebenso mysteriösen wie mächtigen Tech-Unternehmen Lumon ein Verfahren entwickelt, mit dem das Bewusstsein der Mitarbeiter in „privat“ und „beruflich“ getrennt wird (severance = Trennung). Das heißt, privat (als sogenannter „Outie“) hat ein Mensch, der dieses Verfahren durchlaufen hat, kein Wissen über sein Berufsleben, und während der Arbeit (als sogenannter „Innie“) wird er nicht abgelenkt von der Kenntnisse um seine möglicherweise problematischen privaten Verhältnisse. Lumon wirbt damit, dass dies für alle Beteiligten das Beste sei, auch für die „abgetrennten“ Mitarbeiter, die ihr Privatleben nicht mit Gedanken an die Arbeit belasten müssen. Eigentlich aber geht es um die Arbeit bei Lumon, die so geheim zu sein scheint, dass keine Details dafür nach außen dringen sollen. Das, was wir Zuschauer von dieser Arbeit sehen, sind Zahlen auf Computermonitoren, die von den Mitarbeitern in digitale Boxen geschoben werden: Ob dieses Rätsel jemals gelüftet wird, bleibt abzuwarten. Die Illusion, dass Fragen wie diese schnell geklärt werden könnten, zerplatzt jedenfalls recht bald.
Mr. Milchick (Tramell Tillman, l.) präsentiert Mark seine neuen Kollegen (v. l. Alia Shawkat, Stefano Carannante und Bob Balaban). Apple TV+
Zumindest die erste Hälfte der Staffel, die wir vorab sehen konnten, kümmert sich erst einmal um die direkten Nachwirkungen jenes „Befreiungsversuches“, den die „abgetrennten“ Lumon-Mitarbeiter aus der „Macrodata Refinement“-Abteilung (MDR) am Ende der letzten Staffel unternommen hatten. Wir erinnern uns: Das waren Mark (Adam Scott), ein stets adrett im Anzug erscheinender Jedermann, Helly (Britt Lower), der Neuzugang im Büro, der gemütliche Dylan (Zach Cherry), den vor allem interessierte, welche Vergünstigungen ihm beim Arbeiten angeboten wurden, sowie Irving (John Turturro), der immer penibel auf alle Vorschriften achtete, bis er sich in den kunstsinnigen Burt (Christopher Walken) aus der „Optics & Design“-Abteilung verliebte. Burt wurde dann plötzlich in den Zwangsruhestand versetzt, was bedeutete, dass auch die rührende Altmännerromanze endete – da Irvings Outie ja keine Kenntnis von Burt besitzt.
Das war nur einer der Störfaktoren, die sich im Laufe der Staffel in die minimalistisch aufgeräumte Arbeitswelt mit den weißwandigen Büroräume schob. Überwacht vom diabolisch-freundlichen Mr. Milchick (Tramell Tillman) und gegängelt von Managerin Harmony Cobel (eine eisvogelkalte Patricia Arquette), kamen die vier MDR-Leute immer neuen Seltsamkeiten auf die Spur, bis gegen Ende Dylans Innie-Persönlichkeit aus Versehen kurz in sein Outie-Leben geschaltet wurde – und er erfuhr, dass er ein Familienvater ist. Diesen technischen Mechanismus („Overtime Contingency“) machten sich die vier Angestellten in der finalen Folge der letzten Staffel schließlich unerlaubt zueigen, um für eine gute halbe Stunde (bis Mr. Milchick intervenieren konnte) in ihr Outie-Leben hineinzuzoomen.
Die Ergebnisse dieser Innie-Outie-Verzahnung erwiesen sich als niederschmetternd: Helly erfuhr, dass sie eigentlich die Tochter des aktuellen Firmen-CEOs Jame Eagan (Michael Siberry) ist, voll hinter dem Severance-Projekt steht und nur zu PR-Zwecken als Innie agiert. Irving entdeckte, dass sein Outie ein alleinlebender Ex-Soldat ist und obsessiv stets das gleiche Motiv malt: einen dunklen Korridor mit Aufzug in einer noch unbekannten Abteilung von Lumon. Außerdem sah er, dass Burt in der realen Welt mit einem anderen Mann verheiratet ist. Und Mark? Der musste nicht nur entdecken, dass seine Chefin Cobel im echten Leben seine Nachbarin ist und seine Schwester (Jen Tullock) als Geburtshelferin umschwirrt; anhand eines Fotos enthüllte sich ihm zudem, dass seine vermeintlich verstorbene Frau Gemma die erst kürzlich zwangsversetzte Lumon-Wellness-Beauftrage Ms. Casey (Dichen Lachman) zu sein scheint. „Sie lebt!“, schrie er noch, da endete der Innie-Besuch im Outie. Und die Zuschauer mussten drei Jahre darauf warten, dass es weitergeht.
Nachts, am Scheideweg: Harmony Cobel (Patricia Arquette) hat noch eine Rechnung mit Arbeitgeber Lumon offen. Apple TV+
Verständlicherweise ersucht Apple TV+ die Rezensenten, möglichst wenig bis eigentlich gar nichts von dem zu verraten, was da in den nächsten zweieinhalb Monaten auf die Fans zukommt (die Episoden erscheinen im wöchentlichen Rhythmus). Versuchen wir trotzdem, ein bisschen um die Spoiler herumzumanövrieren: Die Regelüberschreitung der vier MDR-Mitarbeiter ist der Lumon-Geschäftsleitung jedenfalls nicht verborgen geblieben. Fünf Monate sind (angeblich) vergangen, da wird Innie-Mark von Mr. Milchick eröffnet, dass Helly, Dylan und Irving (angeblich) gekündigt hätten. Stattdessen findet Mark ein neues Team vor (u.a. gespielt von „Arrested Development“-Star Alia Shawkat). Mark fragt sich, warum er selbst aber nicht gekündigt hat; außerdem will er herausfinden, was mit Ms. Casey (sprich: seiner Gattin Gemma) geschehen ist. Er sabotiert das neue Team und bittet den mysteriösen Aufsichtsrat um Hilfe, der, wie schon in Staffel 1, nur als Rauschen aus einem Sprechapparat zu vernehmen ist. Das klappt: Bald ist das alte Team reinstalliert, und Lumon zeigt sich (angeblich) geläutert. Dem Team werden mehr Freiheiten eingeräumt, mehr Annehmlichkeiten, es muss sich aber zur Arbeit bei Lumon bekennen – oder gehen.
Es zeigt sich, dass Mark und sein Team sehr unterschiedlich auf die beim Innie-Besuch gewonnenen Einblicke reagieren. Helly etwa verrät nicht die Wahrheit über ihr Outie-Leben, und Irving ist doppelt enttäuscht darüber, dass Burt a) nicht mehr im Büroleben zu finden ist und b) in der Outie-Welt glücklich vergeben ist (seinen Mann spielt John Noble aus „Fringe“). Dylan wiederum wird von Firmenseite her ein korrumpierendes Angebot gemacht, das er nicht ablehnen kann – die Saat für sich stark verändernde Dynamiken im alten Team ist gesät. Bedeutend mehr Zeit wird in der zweiten Staffel zudem außerhalb der Lumon-Büros verbracht, auch die Gewichtungen sind anders: Die am Ende der letzten Staffel zur Verantwortung gezogene Cobel, die verschwundene Ms. Casey, aber auch Burt kommen in der ersten Staffelhälfte nur am Rande vor, dafür lernen wir Dylans Familie kennen (die wunderbare Merritt Wever aus „Unbelievable“ und „Nurse Jackie“ spielt seine Frau) und erfahren, wie Lumon Marks Schwager (Michael Chernus) und dessen Selbsthilferatgeber umschwärmt.
Überhaupt lernen wir mehr über den Lumon-Kosmos kennen: Mr. Milchick zum Beispiel erhält mehr Verantwortung (und erste größere Zweifel an seinem Tun), die alerte PR-Frau Natalie (Sydney Cole Alexander) ist auch wieder mit dabei, und mit Mr. Drummond tritt ein neuer Mann fürs Mysteriöse auf den Plan: Der derzeit gern besetzte Isländer Ólafur Darri Ólafsson (zuletzt in „La Palma“ und „Somebody Somewhere“ zu sehen) spielt ihn angemessen undurchsichtig. Außerdem hat Milchick eine neue Assistentin: Miss Huang sieht aus wie ein Kind und gibt sich von Folge zu Folge abgründiger. Newcomerin Sarah Bock ist in dieser überraschend zentralen Rolle eine echte Entdeckung.
Hat alles im Griff und dubiose Absichten: Miss Huang (Sarah Bock). Apple TV+
Die ersten vier Episoden widmen sich beinahe komplett (und mit nachgereichten Flashbacks) den unmittelbaren Folgen der Overtime Contingency. Folge 4 spielt sogar komplett in einem frostig verschneiten Draußen, bei einem geisterhaft aus dem Ruder laufenden Firmen-Retreat, dessen Inszenierung nicht nur sanft das Horrorgenre streift. Der Mystery-Aspekt läuft derweil nur mit, ehe er danach wieder das Ruder übernimmt: Was ist mit dem geheimen Korridor, den Irving so oft malt? Kann die Anti-Lumon-Rebellin Reghabi (Karen Aldridge) Mark zum Reintegrations-Prozess überreden? Und welche anderen Lumon-Abteilungen werden auf der Suche nach Ms. Casey entdeckt? „Game of Thrones“-Brienne Gwendoline Christie hat hier (beispielsweise) einen denkwürdigen Auftritt, den wir nicht verraten wollen.
Ob Staffel 2 am Ende so stark sein wird wie die erste, ist nach fünf von zehn Episoden selbstverständlich noch nicht zu sagen, bestätigen können wir aber eine gleichbleibend untergründige Spannung (in bewährt bedächtigem Tempo) und eine konsistent großartige Produktionsqualität: Die Episoden sehen nach wie vor fantastisch aus und der eigenwillige Mix aus retrofuturistisch-desorientierendem Dekor (das mit den Autos und Computertechnik nach späten Siebzigern oder frühen Achtzigern aussieht) und modernen Elementen (Smartphones) verfehlt seine Wirkung nach wie vor nicht. Die Emmy-gekrönte Titelsequenz wird sogar von einer neuen, ebenso tollen und in ihrem (alb-)traumartigen Surrealismus noch verstörenderen getoppt.
Was bislang aber vor allem hängenbleibt, sind die neu gestellten philosophischen Fragestellungen – vor allem zum Thema Liebe und ihrer Möglichkeit in veränderten Kontexten. Mark liebte seine Frau Gemma, hat sich in Ms. Casey aber nicht verliebt. Stattdessen fühlt er sich sowohl von Innie als auch Outie Helly angezogen. Kann Burt Irving auch lieben, wenn er ihn außerhalb von Lumon trifft? Und kann Innie Dylan nachvollziehen, warum Outie Dylan mit seiner Frau zusammen ist? Immer dann, wenn „Severance“ diese intimen Fragen in den Blick nimmt, wird deutlich, wie viel mehr diese Serie ist als eine bloße High-Concept-Science-Fiction-Spielerei.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten fünf Episoden der zweiten Staffel von „Severance“.
Meine Wertung: 4/5
Die zehnteilige zweite Staffel von „Severance“ geht am 17. Januar bei Apple TV+ an den Start.
Über den Autor
Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) - gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).
Endlich gehts mal weiter 🙏👍👌 Folge 1 war ja schonmal richtig super.
Flapwazzle am
Ich habe mir vorbereitend seit Weihnachten 2024 nochmals die erste Staffel wöchentlich angeschaut und freue mich auf das Wochenende, wenn ich den Fortgang der Geschichte nahtlos erleben darf. Ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht.