„Raised By Wolves“: Neubeginn auf Kepler-22b – Review

Ridley Scotts Endzeit-Science-Fiction glänzt mit atemberaubend düsterer Optik – und einer phänomenalen Protagonistin

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 15.09.2020, 17:30 Uhr

„Raised By Wolves“ – Bild: HBO Max
„Raised By Wolves“

Die Apokalypse hat einen Lauf! Ob’s die Zeichen der Zeit sind oder purer Zufall, ob nur einer tiefsitzenden Angstlust geschuldet oder ob eine ganze Zunft dringend auf die Couch müsste – wir wissen es nicht. Fest steht aber, dass der stete Nachschub an (post-)apokalyptischen Filmen und Serien, der uns seit mittlerweile einigen Jahren heimsucht, so schnell wohl nicht versiegen dürfte. „The Walking Dead“, „The 100“, „Snowpiercer“, „The Last Man on Earth“, „See“ und demnächst dann noch Stephen Kings „The Stand“: zerstörte Zivilisationen und ruinierte Planeten allerorten; wer wollte, könnte sich rund um die Uhr in dystopischen Endzeitszenarien verlieren. Und die wurden allesamt schon vor Corona erdacht.

Den nächsten Apokalypse-Schauer gibt’s nun mit „Raised By Wolves“, einer ambitionierten Science-Fiction-Vision aus der Feder des US-Amerikaners Aaron Guzikowski, der in den letzten Jahren vor allem als Drehbuchautor diverser Kinofilme bekannt geworden ist, darunter der Jake-Gyllenhaal-Thriller „Prisoners“ von „Dune“-Regisseur Denis Villeneuve. Guzikowskis neue Serie – zehn Episoden für den Streamingdienst HBO Max, bei uns nun bei TNT Serie – entführt ins 22. Jahrhundert auf den Exoplaneten Kepler 22b. Der liegt 600 Lichtjahre von der Erde entfernt und sieht mit seinen nebelumwaberten Gebirgsketten und ausgedörrten Wüstenlandschaften auf dem Bildschirm ungefähr so aus wie Südafrika – Kunststück, denn dort wurde die Show größtenteils gedreht. Kepler 22b wurde von einem nicht näher vorgestellten atheistischen „Creator“ (Schöpfer) dazu auserkoren, als Keimzelle einer neuen, religionsfreien Menschheitsgesellschaft zu dienen, denn die Erde selbst, so heißt es, hat sich in martialischen Religionskriegen selbst ausgelöscht – oder steht zumindest kurz davor.

Bei der Neumenschen-Genese federführend wirken zwei Androiden: „Mother“ (Amanda Collin) und „Father“ (Abubakar Salim aus der Brit-Krimiserie „Informer“) sehen sportlich aus mit ihren raspelkurzen Haaren und obendrein etwas seltsam in ihren silbern glitzernden Ganzkörpergummianzügen. Sie landen mit einer kleinen Raumfähre etwas unsanft auf Kepler-22b, bauen ein schickes Gummizelt auf und widmen sich fortan einer minimalistischen Variante von Ackerbau. Von den zwölf menschlichen Embryonen, die sie in eingefrorenem Zustand mitgebracht haben, um sie mit technischen Mitteln auf- und großzuziehen, überleben sechs – einer davon nur ganz knapp und auch nur, weil Mother darauf verzichtet, es den anderen Babys zum Fraß vorzuwerfen. Es ist der erste Hinweis darauf, dass Mother wohl mehr ist als die technisierte Aufzuchtdrohne, als die sie vom Creator programmiert wurde. Die Lebensbedingungen auf Kepler 22b sind hart, im Lauf der nächsten zwölf Jahre sterben fünf der Kinder an Krankheiten, was Mother mit irritierendem Wolfsgeheul quittiert. Übrig bleibt nur Campion (Winta McGrath aus „The Heart Guy“) – ironischerweise ist er der Junge, der es zu Beginn fast nicht geschafft hätte.

„Father“ (Abubakar Salim) und „Mother“ (Amanda Collin) HBO Max

Über eine halbe Stunde nimmt sich die Pilotepisode Zeit, um die Entwicklung dieser absonderlichen Familie zu beschreiben – absonderlich ist sie schon deshalb, weil Mother und Father sich die ganze Zeit in einem freundlich-distanzierten, trotz der unwirtlichen Umgebung stets optimistischen Tonfall unterhalten. Fast erinnert ihr Geplänkel eingangs, wenn sie da so durch die Wüste marschieren, an R2D2 und C3PO. Dann aber, wenn sie mit minimalsten Mitteln Gemüse anpflanzen, erinnert das surreale Szenario eher an „Der Marsianer“ – und das nicht von ungefähr, denn inszeniert wurden die ersten beiden Episoden von Ridley Scott. Die inzwischen 82-jährige Regielegende drehte mit „Alien“, „Blade Runner“ und eben „Der Marsianer“ stilbildende und prägende Werke des Science-Fiction-Films, und es ist schon kein geringer Coup, dass HBO ihn hier nicht nur als ausführenden Produzenten gewinnen konnte, sondern ihn auch dazu brachte, erstmals seit 1969 (!) wieder bei einer Serie Regie zu führen.

Scott brachte dafür seinen Stammkameramann Dariusz Wolski mit, mit dem er seit „Prometheus“ zusammenarbeitet (und mit dem er angeblich ein Sequel zu seinem Hit „Gladiator“ plant), und tatsächlich stellt sich schon in den ersten Minuten so etwas wie ein Ridley-Scott-Gefühl ein: Der Look ist clean, aber abgründig, die Farbpalette irgendwo zwischen braun-grau und grau-braun angesiedelt, es geht um Technologie und eventuell anwesende Monsterwesen (riesige Krater und Gerippe verheißen nichts Gutes!), und auch ein wenig um „Alien“-mäßigen Body-Horror, wenn beispielsweise den Androiden im Verletzungsfall milchig-weißes Sekret entströmt oder unappetitliche Gesichtsoperationen durchgeführt werden. Zartbesaitete seien gewarnt: „Raised By Wolves“ ist durchaus Horror-affine Sci-Fi.

Die erste halbe Stunde jedenfalls kratzt am Meisterwerk-Status, was nicht nur an Scotts Inszenierung liegt, die das Publikum sofort für die karge Umgebung auf Kepler-22b einzunehmen vermag, sondern auch am famosen Spiel von Abubakar Salim und Amanda Collin als Father und Mother. Vor allem die Dänin Collin, international ein Newcomer, fasziniert: Wie sie innerhalb eines Augenblicks zwischen streng, besorgt, fürsorglich und bedrohlich abwechselt, zwischen Antagonistin und Protagonistin oszilliert, das ist von Anbeginn an ebenso irritierend wie verblüffend. Ihr Spiel setzt reizvolle Gedanken- und Frageketten in Gang: Was hat es mit diesen Androiden auf sich? Zeigen sie menschliche Gefühle, und wenn ja, sind sie wirklich nur programmiert? Wer ist dieser „Creator“ – allein die Namensgleichheit des Technikerfinders mit dem (Schöpfer-)Gott der monotheistischen Religionen führt den Auftrag der Androiden, eine religionsfreie Welt in Gang zu bringen, clever ad absurdum. Und was ist mit Guzikowski, dem „Creator“ der Serie, der sich den „Creator“ seiner Erzählwelt ausgedacht hat? Und mit Knirps Campion, der die erste Episode aus dem Off erzählt und damit sozusagen erfindet? Ist jeder Erzähler sein eigener Messias?

Campion (Winta McGrath) HBO Max

Als gegen Ende der knapp einstündigen Pilotepisode dann neue Figuren in die Erzählung einbrechen, verliert das Geschehen sofort an Reiz: Die Einheit aus Raum und Zeit wird aufgebrochen, die bis dahin so konzentrierte Erzählung ufert aus und wird dabei profaner. Was passiert? Father verliert den Glauben an die Funktionsweise der zu diesem Zeitpunkt dezimierten Familie, er kontaktiert Fremde und muss dafür bitter büßen (auf das Erschrecken darüber gibt es in der zweiten Episode eine weitere Überraschung). Als Abgesandte der Mithraic (einer religiösen, den Sonnengott Sol anbetenden Menschheitsfraktion, die sich kleiden wie Tempelritter auf Stormtrooper-Trip) auf Kepler 22-b landen, ist Mother sofort skeptisch – und als die Mithraic sich respektlos an den Gemüsevorräten bedienen und dann Campion entführen wollen, mutiert Mother schließlich zur fliegenden Furie, zum Todesengel mit leeren Augen. Sie entert das Raumschiff (die „Arche“) der Mithraic und lässt alle, die sich ihr entgegenstellen, mit Killerblick und spitzen Schreien in Blutwolken zerplatzen. Donnerwetter – wer in dieser markerschütternden (und sehr, sehr blutigen) Sequenz zufällig gerade zum Teetrinken ansetzt, hat hoffentlich ein Lätzchen an.

Nach ihrem Amoklauf holt Mother fünf Kinder und Jugendliche aus dem Mithraic-Raumschiff runter auf Kepler 22b, gleichsam als Ersatz für die bis dahin gestorbenen Sprösslinge, während mit der Geschichte des Mithraic-Paares Marcus (mit neuem Bart: „Vikings“-Star Travis Fimmel) und Sue (Niamh Algar aus „Pure“) ein ganz neuer Erzählstrang aufgemacht wird. Um diesen aufs Gleis zu setzen, gibt es in der zweiten Episode einen kurzen Blick aufs Boston des Jahres 2145, in dem die Kriegsscharmützel mit „Mother“-ähnlich durch die Gegend fliegenden Androiden und glitzernden Raumschiffen arg nach Videogame-Ästhethik aussehen – und die Erkenntnis, dass Marcus und Sue sehr wahrscheinlich gar nicht die sind, die sie zu sein vorgeben. Nach wenigen Szenen in diesem Handlungsstrang ist schon klar, dass diese nicht dieselbe Intensität aufweisen wie die Szenen mit Mother, Father und ihrer (menschlichen) Kinderschar. Campions neue, ethnisch diverse Geschwister heißen Tempest (Jordan Loughran aus „Emerald City“), Paul (Felix Jamieson), Hunter (Ethan Hazzard), Holly (Aasiya Shah) und Vita (Ivy Wong), als erste Amtshandlung nimmt Mother ihnen ihre religiösen Symbole ab. Paul, der Sohn von Marcus und Sue, ist der Abweisendste der Kids, der ältere Hunter dagegen derjenige, der Campion kommunikativ in Richtung Religion zu ziehen beginnt und darauf beharrt, trotz des Verbots, weiter zu beten. Mother erkennt derweil sofort, dass Teenager Tempest ein Kind erwartet – sie geht allerdings nicht darauf ein, dass das Mädchen durch eine Vergewaltigung schwanger wurde.

Marcus (Travis Fimmel) und Sue (Niamh Algar) HBO Max

Konfliktpotenzial ist sicherlich genug da für die weiteren Episoden, und doch fühlen sich diese Entwicklungen schon jetzt leicht kolportagehaft an: Aus der elementaren, fast archaisch konzentrierten Landnahmegeschichte der Pilotepisode bewegt sich das Geschehen hin in Richtung einer konventionelleren Science Fiction.

„Raised By Wolves“ ist fraglos eine im direkten Wortsinn sehenswerte Serie – und zudem eine hörenswerte, denn der Soundtrack des australischen Avantgardemusikers Ben Frost („Dark“) und des „Prometheus“-Komponisten Marc Streitenfeld ist nicht weniger gelungen. Ob aber auch insgesamt eine große Serie daraus wird, ist Stand jetzt noch nicht abzusehen – leider nämlich gibt Ridley Scott das Regiezepter ab der dritten Episode an andere Regisseur*innen (darunter sein Sohn Luke) weiter. Schon jetzt wirken einzelne Elemente der Serie etwas schief: Wenn in der zweiten Episode plötzlich monströse Alienwesen herumhuschen (leichte Beute für die kreischende Killer-Mother), wirkt das ein wenig wie ein Outtake aus einem deutlich weniger interessanten B-Film. Und während die Off-Erzählstimme des jungen Campion in der Pilotepisode einen durchaus epischen Rahmen aufzieht, fragt man sich schon in der (fast 20 Minuten kürzeren) Folgeepisode, warum auf diesen Erzähler plötzlich verzichtet wird und der Plot dadurch ganz anders eingetaktet wird. Auch eine gewisse Humorlosigkeit ist zu konstatieren: „Raised By Wolves“ nimmt schon sehr ernst. Bei der Stange dürfte man allerdings vor allem wegen Amanda Collin bleiben. Sie könnte diese post-apokalyptische Schöpfungsgeschichte vermutlich im Alleingang durch alle möglichen dramaturgischen Schlaglöcher tragen: Ihre Mother, mal ganz menschlich, mal jenseits alles Menschlichen, ebenso furchteinflößend wie imponierend mit ihren Schreien aus dem Eiskeller der programmierten Mutterliebe, wird man nicht so leicht vergessen. Sie ist schon jetzt eine neue Science-Fiction-Ikone.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden der Serie „Raised By Wolves“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die erste Staffel von „Raised By Wolves“ wird ab dem 16. September mittwochs um 20:15 Uhr in Doppelfolgen beim Pay-TV-Sender TNT Serie erstausgestrahlt.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1978) am

    Die Kritik passt zwar aber nachdem die Serie nach Folge 2-08 eingestellt wurde kann man die Serie trotz der Schauwerte und der die Serie tragenden 'Mother' nicht empfehlen, nicht nur wegen der kruden Ideen und Wechsel der Glaubens-Ansichten sondern schon allein weil am Ende jede Menge offene Erzählstränge aufgemacht und nicht mehr beendet wurden.
    • am

      ps: ich will damit sagen, gerade bei so einer klugen Serie könnte es sich ja lohnen, sich ein paar kluge Gedanken dazu zu machen :-)
      • am

        Danke für die Rezension. Der Autor beschränkt sich darin aber sehr stark nur auf die oberflächlichen Schauwerte. Das ist sehr schade. Ich hatte eigentlich gehofft, der Autor würde ein bisschen tiefer einsteigen und war gespannt auf seine Interpretation der Bezüge zur "Romulus und Remus"-Sage. (Brüder von Wölfen aufgezogen, Stadtgründung Roms, etc.) Denn was will so eine Serie mit einem solchen Thema über unsere eigene Zeit aussagen? (Gute Kunst diskutiert ja in Wahrheit unsere eigene Gegenwart - auch über das Mittel der Science Fiction - und diese Erwartung habe ich an Ridley Scott eigentlich). Was möchte der Altmeister also erzählen über einen Zeitenwechsel, in dem eine Kultur untergeht und möglicherweise eine neue entsteht. Welche Kräfte sind da am Werk? Wie werden Werte verhandelt? Welche fatalen Fehler können gemacht werden? Und welche Fortschritte können erzielt werden. Gibt es Fortschritt überhaupt oder nur Veränderung? Diskutieren wir knapp 1000 Jahre nach den Kreuzzügen immer noch über die gleichen Fragen? Denn ich denke, nicht umsonst haben diese Mithraisten Kreuzritterrüstungen an. Und nicht Umsonst steht die Gründung Roms als Symbol dafür, wie eine entwickelte Zivilisation aus einen Stück Acker heraus entstanden ist. All diese Fragen vermisse ich in dieser rezension und frage mich, ob die Rezension im Grunde auch ein Kommentar zu unserer Zeit ist: Wir konsumieren nur noch Schauwerte - aber machen uns nicht mehr die Mühe, darüber nachzudenken. Da hatte ich mir mehr erhofft ...

        weitere Meldungen