Schreck aus halb-heiterem Himmel: Bestseller-Autorin Carol (Rhea Seehorn) erfährt Entsetzliches.
Bild: Apple TV
Was, wenn sich die Menschheit schlagartig in etwas anderes verwandelt? Und was, wenn man selbst die einzige Ausnahme bleibt? Drei Jahre nach dem Finale von „Better Call Saul“ ist Vince Gilligan zurück – für Apple TV hat sich der „Breaking Bad“-Erfinder ein sehr eigenwilliges Science-Fiction-Szenario einfallen lassen, das komplett auf den Schultern seiner phänomenalen Hauptdarstellerin Rhea Seehorn lastet. Es funktioniert: „Pluribus“ fasziniert von der ersten Szene an.
Nein, sonderlich viel preisgeben vom Plot dürfen und wollen wir nicht – erstens, weil Apple TV darum bittet, möglichst wenige Details preiszugeben, zweitens, weil es sich in diesem raren Fall tatsächlich auszahlt, sich als Publikum möglichst ahnungslos in die Geschichte hineinzubegeben, die sich der begnadete Storyteller Gilligan da diesmal ausgedacht hat. Nachdem die ersten beiden Episoden aber nun veröffentlicht wurden, können wir wenigstens ein paar Grundlagen des Plots ansprechen.
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Zunächst einmal: Ein „neues Breaking Bad“ ist „Pluribus“ entschieden nicht. Das wäre auch unter Garantie schiefgegangen, zählen „Breaking Bad“ (BB) und „Better Call Saul“ (BCS) doch zu den höchsten peaks im sogenannten Peak TV der Nuller- und Zehnerjahre. Stattdessen ging er, mit spürbar freiem Geleit durch den Streamingdienst Apple TV, zurück zu seinen Wurzeln in den späten Neunzigern, als er für „Akte X“ einige der ikonischsten Episoden der legendären Sci-Fi-Serie schuf. Die Idee von „Pluribus“ scheint denn auch fast wie für eine Folge von „Twilight Zone“ oder auch „Black Mirror“ gemacht: konzeptuelle, spekulative Science-Fiction, am konkreten Beispiel durchdekliniert. Nur dass es hier eben nicht um eine einzelne Episode geht, sondern um eine ganze Serie; keine Miniserie, sondern eine, die sich länger fortsetzen könnte. Eine zweite Staffel wurde denn auch von Anfang an mitgeordert.
Das Konzept kreist um ein einschneidendes Erlebnis, das die Welt unwiederbringlich umstürzt, von einem auf den nächsten Augenblick. Die Serie läuft im Countdown darauf zu und von dort dann, nach dem Finale der ersten Episode, chronologisch fort. In diesem einschneidenden Moment verändert sich die Menschheit radikal, durch eine Art Virus (das keines ist) wird sie durchgehend glücklich und zufrieden und ist obendrein mental miteinander verbunden. Alle wissen fortan alles. Alle können dadurch alles, zum Beispiel auf Sterneniveau kochen oder Flugzeuge fliegen. Was das mit der Welt macht und mit den „umgedrehten“ Menschen, das gehört zum Worldbuilding, das Gilligan (und seine Regie- und Writer’s-Room-Mitstreiter rund um die BCS-erfahrenen Alison Tatlock und Gordon Smith) in den nachfolgenden Episoden sukzessive enthüllen.
Immer gütig, immer geduldig: Zosia (Karolina Wydra) vertritt das Kollektiv gegenüber Carol. Apple TV
Eine aber ist immun: Bestseller-Autorin Carol Storka, gespielt von Rhea Seehorn, die mit dieser Rolle zielgenau auf die Emmys und Golden Globes zusteuern dürfte, die ihr für ihren Part als Kim Wexler in BCS skandalöserweise verwehrt geblieben sind. Storka lebt zwar in einem riesigen Haus in Albuquerque, New Mexico (wo das Haus von Walter White direkt ums Eck liegen könnte), ist aber mit ihrem Status als Autorin erfolgreicher, seichter Romantasy-Schnulzen ebenso unzufrieden wie mit den meisten anderen Aspekten ihres Lebens. Ein Alkoholproblem scheint sie auch zu haben. Mit ihrer Managerin Helen ist sie verheiratet, doch die Beziehung wirkt dezent erkaltet.
Der besagte Vorfall verändert alles. Carol erwacht trunken in ihrer ockerfarbenen Villa und muss erfahren, dass sie der scheinbar einzige Mensch auf Erden ist, der nicht mit den anderen verbunden ist, der nicht fröhlich und allwissend ist, sondern noch mieser drauf als zuvor. Im Folgenden wird es um den Gegensatz von Individualität und Gruppendenken gehen, in einem Szenario, das Elemente aus „Die Körperfresser kommen“ und „Die Frauen von Stepford“ munter vermischt mit zeitdiagnostischen Themen, die erkennbar durch die gesellschaftliche Situation nach Corona und dem Durchmarsch antidemokratischer Kräfte getriggert wurden. Hauptspielort ist Albuquerque, doch die Erzählwelt erweitert sich schnell nach Spanien oder auch Marokko. Hier geht es um ein globales Phänomen, das Carol, als Störfall in der neuen Normalität, eine beklemmende Sonderrolle zuweist.
Der Serientitel „Pluribus“ – also etwa: „viele“, der lateinische Ablativ Plural des Wortes „plus“ – bezieht sich klar auf den US-amerikanischen Wappenspruch „e pluribus unum“ (einer aus vielen), der auf die Wichtigkeit jedes Individuums in der Pluralität der Nation abzielt. In Gilligans Erzählwelt wird das pervertiert, wenn diese Pluralität zum faschistoiden Kollektivbewusstsein im Sinne der Borg aus „Star Trek“ mutiert. Fortan sprechen alle Figuren außer Carol, wenn sie sich selbst meinen, von „wir“ bzw. „uns“: Das Ich gibt es nicht mehr.
Seehorn steht dabei im Mittelpunkt des Geschehens. Fast alle anderen Figuren tauchen nur am Rande auf, sie sind Menschen, die Carols Weg kurz kreuzen. Nur zwei weitere Hauptdarsteller gibt es: Zosia wird vom Pluribus-Kollektiv als Betreuerin von Carol bestellt. Sie ist immer ehrlich, immer freundlich, weil von Arg und Sorgen gänzlich unbelastet, lässt aber keinen Zweifel daran, dass es die Absicht der Vielen ist, auch Carol zu einer der ihren zu machen, sobald das Rätsel ihrer Immunität gelöst ist. Die in Polen geborene Schauspielerin Karolina Wydra (die im US-Fernsehen als Green-Card-Braut von „Dr. House“ bekannt wurde) hat die nicht eben einfache Aufgabe, als einzige nennenswerte Gegenspielerin von Rhea Seehorn nicht unterzugehen – sie meistert es idealstmöglich. Zosia, obgleich Teil des mysteriösen Kollektivs, wird unweigerlich zur emotionalen Spiegel- und Bezugsfigur nicht nur von Carol, sondern auch des Publikums. Was zwischen ihr und Carol passiert, zählt zum Fesselndsten der ersten sieben Episoden, die der Presse vorab zugänglich gemacht wurden.
Gleich passiert’s: Den letzten Moment vor der Weltveränderung verbringt Carol mit ihrer Frau Helen (Miriam Shor, l.) auf einem Barparkplatz. Apple TV
Die dritte Hauptfigur ist Manousos (verkörpert vom kolumbianischen Schauspieler Carlos Manuel Vesga). Er greift erst in den späteren Episoden ins Geschehen ein, weshalb wir hier nichts Genaueres verraten werden; in der zweiten Episode aber ist er schon am Telefon zu hören. Relativ schnell stellt sich heraus, dass im verhängnisvollen Moment a) ein großer Teil der Menschheit – fast eine Milliarde – ums Leben kam, und b) es doch einige wenige andere Nicht-Infizierte gibt. Natürlich ist es das Begehr von Carol, mit ihnen in Kontakt zu treten. Dummerweise handelt es sich um ein Kind in Lesotho, eine Schlangenfrau aus Bali und vor allem um Menschen, die den neuen Zustand der Welt gar nicht so übel finden, gerade jene, die bislang in Armut lebten. Bei Manousos wird es aber wohl anders sein.
All das führt zielgenau in die zunehmend komplexer werdende Gedankenwelt der Serie: Gewiss will man als Zuschauer das fehlerbehaftete Individuum jederzeit in Schutz nehmen vor den durchhomogenisierten shiny happy people des Kollektivs. Was aber, wenn deren Leben sich am Ende als begehrenswerter herausstellt? Sind sie wirklich der Feind? Was macht einen Menschen aus? Sind die Pluribus-Leute letztlich eine lebende KI? Carol wirft ihnen vor, allesamt gehirngewaschene „Kapselmenschen“ zu sein, während Zosia ihr sagt, das Kollektiv wolle ihr ja nur helfen, da sie „ertrinke“ und das „nur noch nicht wisse“. Es ist ein sanfter Austausch, der metaphorisch genau auf den Punkt bringt, wie sich die polarisierten Gesellschaften unserer Tage (besonders seit Corona) gegenseitig vorwerfen, von Ideologien und Weltbildern unrettbar vereinnahmt zu sein. In solchen Momenten greift „Pluribus“ weit hinaus über den bloßen Kosmos einer High-Concept-Sci-Fi-Serie. Gespiegelt wird eine Welt, in der weite Teile der Menschheit nur noch damit beschäftigt zu sein scheinen, die Gesellschaft in „uns“ und „die anderen“ zu sortieren.
Apropos Corona: Natürlich kommt man heutzutage um pandemische Assoziationen nicht herum, wenn in der ersten Folge die bereits Infizierten alles dafür tun, dass sich die anderen ebenfalls anstecken. Was der Auslöser ist, bleibt entschieden unklar, es geht um ein Funksignal aus 600 Lichtjahren Entfernung. Möglicherweise stecken Aliens dahinter, vielleicht auch nicht, später gibt es mehr Details, aber nichts, was nicht Raum ließe für weitere Spekulationen.
Mr. Diabaté (Samba Schutte) aus Mauretanien ist wie Carol gegen das Zufriedenheitsvirus immun – aber total begeistert von der neuen Weltordnung. Apple TV
Gilligan beweist dabei ein weiteres Mal sein Faible fürs Erzählen vom Spezifischen hin zum bigger picture. Aus extremen Nahaufnahmen schält sich das Bild detaillierter Vorgänge und Handlungen heraus (z.B. im Labor), aus denen sich allmählich kleinere Erzählungen formen, die erst nach und nach ihren Platz im größeren Handlungsgefüge einnehmen. Das war in BB und BCS faszinierend und ist es auch jetzt wieder. Kaum ein Protagonist im US-amerikanischen Serienkosmos hat diesbezüglich eine ähnliche Meisterschaft entwickelt. Marshall Adams’ Kameraarbeit ist brillant, ganz besonders in jenen durchchoreografierten Sequenzen, in denen sich im Hinter- und Vordergrund parallele Vorgänge zutragen, ohne dass es jemals zum bloßen Gimmick zusammenschnurrt.
„Pluribus“ ist keineswegs reißerisch erzählt, die Handlung schreitet vielmehr in gebotener Ruhe voran, bleibt dabei aber stets fesselnd und unterhaltsam, mitunter auch äußerst spannend, vor allem jedoch: entschieden eigenwillig und überraschend – weshalb wir auch so wenig preisgeben wollen/dürfen von der Vielzahl an Ideen, die berichtenswert wären. Keine Minute Leerlauf ist zu verzeichnen in diesem Parcours durch eine ganze Palette von Genres: Satire auf die Glücksversprechen kapitalistischer Werbewelten, Science-Fiction, Paranoia-Thriller, Endzeit-Drama und Horror. Zu dieser Eigenwilligkeit gehört zwingend auch der tiefschwarze, der Absurdität der Gesamtsituation geschuldete Humor des Ganzen. Seehorn vermag es, diesen Humor trocken zu transportieren und nebenher mühelos zwischen Trauer und Wut und Trotz und Sarkasmus und Entsetzen zu switchen. Es ist eine Wahnsinnsperformance.
In einer der späteren Episoden rast Carol einmal mit ganz viel Feuerwerk auf dem Beifahrersitz im Polizeiauto über den Highway und grölt dabei den alten R.E.M.-Gassenhauer: It’s the end of the world as we know it / and I feel fine. Doch bevor sie das fine singen kann, schneidet die Serie fies und vielsagend aus der Szene heraus. So pointiert geht es eben zu in „Pluribus“, einer Serie, die nicht nur bestens ins ohnehin hochwertige Sci-Fi-Portfolio von Apple TV („Severance“, „Silo“, „Foundation“) passt, sondern in der Vielzahl an Apokalypse-Erzählungen der letzten Zeit aus dem Stand weg einen der allervordersten Plätze einnimmt.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten sieben Episoden von „Pluribus“.
Meine Wertung: 4,5/5
Die Serie „Pluribus – Glück ist ansteckend“ wird bei Apple TV seit dem 7. November veröffentlicht. Die neunteilige Auftaktstaffel wird bis zum 26. Dezember veröffentlicht.
Über den Autor
Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) - gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).
Dafür, dass ihr nicht spoilern durft, hat der Artikel Schreiber aber jede Menge geschrieben und, mit dem Bedarf , dass man sich die Serie angucken möchte! :-9