„Dein letztes Solo“: Im Netflix-Ballettkrimi sind die Dialoge noch flacher als die Bäuche der Stars – Review

Mäßig mitreißender Mystery-Mumpitz sorgt nur in Tanzszenen für echten Glanz

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 21.12.2020, 17:30 Uhr

Neu an der Archer School of Ballet: Neveah (Kyle Jefferson) – Bild: Netflix
Neu an der Archer School of Ballet: Neveah (Kyle Jefferson)

Wenn Tänzer, Sänger, Schauspieler viel Talent und vor allem auch viel Glück haben, stehen sie irgendwann umjubelt im Rampenlicht. Rosen regnen auf sie hernieder, Fans und Gönner und vielleicht sogar Werbepartner suchen dann ihre Nähe. Aber wenn sie dieses Glück nicht haben – und das ist ja meistens der Fall -, dann bleiben zerschmetterte Träume zurück. Und ein Leben im Konjunktiv.

Der kämpferische Versuch derer, die zu den wenigen zählen wollen, die es am Ende „schaffen“, ist als Gegenstand der Unterhaltungsindustrie seit Jahrzehnten etabliert: Casting-Shows und Reality-Soaps aller Art zehren davon, sie erzählen von Leuten, die am Ende vielleicht mal fünfzehn Minuten Ruhm abgreifen – das ist nicht viel, aber immerhin etwas. Und auch Showbiz-Kinofilme à la „Fame – Der Weg zum Ruhm“, „A Chorus Line“ oder „Whiplash“ leben vom Kampf der Protagonisten um Anerkennung und Ruhm im Angesicht des Scheiterns. Sie zeigen den Weg, den die Anwärter gehen müssen: Er ist von Demütigungen, Rückschlägen und übergriffigem Verhalten der Mentoren und Konkurrenten geprägt.

Auch die Netflix-Serie „Dein letztes Solo“ ist ein solcher Leidensgeschichtenverstärker. Die typische It’s-a-long-way-to-the-top-Dramaturgie erzählt sie im Ballettschulen-Milieu mit einem betont diversen Cast aus Newcomern, angereichert zudem mit einem zentralen Thriller-Element: Gleich zu Beginn wird eine Schülerin der (fiktiven) Archer School of Ballet in Chicago von einer mysteriösen Kapuzenfigur über die Dachbalustrade der Schule in die Tiefe und ins Koma gestoßen, weshalb es in den zehn knapp einstündigen Episoden auch um die klassische Krimifrage geht: Wer war’s?

Die Serie, entwickelt vom kanadischen Theatermann Michael MacLennan (der auch Folgen von „Queer as Folk“ schrieb), basiert auf zwei Young-Adult-Romanen der Schriftstellerinnen Sona Charaipotra und Dhonielle Clayton, deren erster so heißt wie die Serie im Original: „Tiny Pretty Things“. Von diesen „kleinen, hübschen Dingern“, so die abschätzig-patriarchale Fremdbeschreibung der Tänzerinnen, um die es hier geht, stehen in den Büchern drei im Mittelpunkt; auch in der Serie stehen sie mehr oder weniger gleichberechtigt nebeneinander, wobei eine von ihnen eingangs als Publikumsvertreterin den Neuankömmling spielen darf.

Party fürs Image: Schulleiterin Dubois (Lauren Holly) versucht vom Skandal um die im Koma liegende Elevin abzulenken. Netflix

Neveah Stroyer (Kylie Jefferson) kommt aus unterprivilegierten Verhältnissen in Südkalifornien: Normalerweise hätte das schwarze Mädchen keine Chance auf einen Platz an der elitären Balletthochschule in Chicago, doch nach dem Skandal um die vom Dach gestoßene Schülerin wird es als Nachrückerin aufgenommen. Schulleiterin Monique Dubois (Lauren Holly aus „Picket Fences“ und „Dumm und Dümmer“) inszeniert das als imageträchtiges Ablenkungsmanöver für die Presse, und es ist klar, dass Neaveah nicht erfreut ist, als sie davon Wind bekommt.

Mit Neveah lernen die Zuschauer das Personal an der Schule kennen: den leicht übergriffigen Sportmediziner, der die Schützlinge abtastet wie ein Stück Fleisch, die taffe Internatsaufseherin, die darüber wacht, dass in den eng bemessenen Doppelschlafzimmern keine Unzucht getrieben wird, den gestrengen Ballettmeister der Schule, der, wie es sich in Filmen und Serien dieser Art geziemt, keine Minute vergehen lässt, in denen er seine Eleven und Elevinnen nicht niedermacht.

Neben Neveah, die sich vor allem aufgrund ihrer Herkunft beweisen muss, kristallisieren sich zwei weitere Elevinnen als Protagonistinnen heraus, die ebenfalls unter beinhartem Erfolgsdruck stehen: Die asiatisch-stämmige June (Daniela Norman) ist Tochter einer sogenannten „Tiger Mom“, die ihr die Unterstützung schon bei der kleinsten Niederlage entzieht. Bette (Casimere Jollette), die blonde Primaballerina, hat dagegen die Fron zu tragen, dass ihre ältere Schwester Delia (Tory Trowbridge) zu den erfolgreichsten Absolventinnen der Schule zählt, international Karriere gemacht hat und in der Gunst der steinreichen Mutter, obendrein bedeutendste Gönnerin der Schule, deutlich höher gestellt ist als sie selbst. Um diesen Umstand zu ändern, ist Bette zu jeder Intrige bereit – und auch dazu, ihre Gesundheit auf die Probe zu stellen.

Hinten fliegen sie: Naveah lässt sich von Shane (Brennan Clost) die Gepflogenheiten an der Ballettschule erklären. Netflix

Minderwertigkeitskomplexe, sozialer und privater Druck, unterschwelliger Rassismus, Missbrauchskonstellationen: Man hätte aus diesen Problemlagen sicherlich ein spannendes, differenziertes, die Charakternuancen mit größtmöglicher Ehrlichkeit auslotendes Drama machen oder davon erzählen können, wie eine auf Perfektion geeichte Gesellschaft sensible Seelen zerstört. Doch „Dein letztes Solo“ schmeißt sich lieber ins schamlos Seifenopernhafte und garniert das mit mäßig mitreißendem Mystery-Mumpitz. Um Neveah, June und Bette gruppieren sich also noch ein paar männliche Kommilitonen, die vor allem den Zweck haben, weitere mit der Tanzwelt verbundene Aspekte abzubilden: Shane (Brennan Clost, „The Next Step“) ist schwul und übernimmt die einigermaßen klischeehafte Rolle des böse kommentierenden besten Freundes von Neveah. Nabil (Michael Hsu Rosen) ist der beste Tänzer der Schule, gläubiger Muslim und wahrscheinlich schon deshalb erster Verdächtiger im Fall der ins Koma gestoßenen Cassie. Caleb (Damon J. Gillespie) zeichnet sich in den ersten Folgen ausschließlich dadurch aus, dass er sich Nabil gegenüber rassistisch verhält. Und der bisexuelle Oren (Barton Cowperthwaite), offiziell Bettes Freund, hat eine Essstörung: Akribisch hält er Buch über die zu viel verzehrten Kalorien und über die zur Strafe absolvierten Brechentleerungen, selbst beim Gelegenheits-Sex mit Zimmergenosse Shane wird zu dessen Verdruss vor allem über Sixpack-Strategien parliert. Lauter defekte junge Menschen sind es also, die sich da für die Entertainmentwelt stählen: So will es schließlich das Stereotyp. Sie alle wissen, dass sie einer Karriere zuarbeiten, die nur wenige gute Jahre für sie bereithält, denn am Ende, so wird schon in der Pilotfolge ein Radiohead-Zitat bemüht, am Ende gewinnt immer die Schwerkraft, die noch den gestähltesten Körper zu Boden ringt – gravity always wins.

Und der Krimi-Teil? Um die Schülerinnen und Schüler herum kreist beständig die Polizistin Isabel Cruz (Jess Salgueiro, „The Expanse“), die ihnen mal offiziell, mal in Zivil auflauert und alles daran setzt, den Fall aufzuklären. Die ins Koma Gefallene ist dabei übrigens mehr als nur der Aufhänger der Story: Cassie (Anna Maiche) fungiert auch als desillusionierte Erzählerin aus dem Off, und man darf darauf wetten, dass sie noch vor dem Ende der Staffel wieder zurück unter den Lebenden sein wird – ebenso wie darauf, dass all das mit dem eitlen Starchoreografen Ramon (Bayardo De Murguia) zu tun hat, der an der Schule einen auf der Geschichte von Jack the Ripper basierenden Ballettabend inszenieren will und die Schüler dabei in einen erbitterten Konkurrenzkampf stürzt.

Das letzte Duo? Sicher nicht, denn die Tanzszenen sind alle top. Netflix

Man folgt all dem mit eher verhaltenem Interesse. Erstens liegt das daran, dass es Geschichten dieser Art schon zu oft gegeben hat, zweitens aber sicher auch daran, dass sowohl die Qualität der Dialoge als auch mancher Darstellerleistungen sehr zu wünschen übrig lässt. Die Regisseure der beiden ersten Folgen (Samir Rehem und der kinoerfahrene Gary Fleder, „Das Leben nach dem Tod in Denver“) scheinen zudem vor allem den Oberflächenreizen erlegen zu sein – ihre Kamera labt sich am attraktiven Äußeren der Darsteller und an den Sexszenen, die die dürrhüftige Ballett-Brigade regelmäßig absolvieren muss. Die im Plot formulierte Kritik an Schlankheitswahn und Körperkult wird freilich sofort als Heuchelei demaskiert, wenn die Sexyness der fettbefreiten Darstellerkörper auf diese Weise als Selling Point ausgestellt wird. Jenseits dieser inhaltlichen Schizophrenie fällt die Erzählwelt ohnehin rapide in sich zusammen, sobald die Schulleiterin oder die fiesen Mütter oder der schnarrende Ballettmeister oder der peinlich auf „geheimnisvoll“ getrimmte Choreograf aufmarschieren und ihre papierenen Schurkensätze sprechen. Das lässt sich allenfalls noch als B-klassiger Abklatsch des oscarprämierten Ballettwelt-Thrillers „Black Swan“ konsumieren, wobei selbst das nicht richtig funktioniert, da sich die als Identifikationsfigur eingeführte Neveah schon in der Pilotepisode ruckzuck vom naiven Neuankömmling zur Gegenintrigantin wandelt.

Auf der Plot- und Figurenebene ist „Dein letztes Solo“ also vergessenswert; trotzdem lohnt die Serie zumindest für ein Publikum mit gesteigertem Interesse an Tanz bzw. Ballett den Blick. Die Tanzszenen selbst nämlich sind gelungen – was nicht nur an den Jungdarstellern liegt, die das Tanzen besser beherrschen als die dramatische Schauspielkunst, sondern auch an der Beteiligung vieler tatsächlicher Tänzer und Tänzerinnen im Hintergrund. So wird beispielsweise auch die gesamte Schülerschaft der Archer School, jenseits der Protagonisten, von Profis verkörpert. Das macht sich in den Klassen- und Bühnenszenen sehr bemerkbar und hält die Serie auf einem achtbaren Level. In dieser Hinsicht zumindest.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten beiden Episoden der Serie „Dein letztes Solo“.

Meine Wertung: 2,5/​5

Die zehnteilige Auftaktstaffel von „Dein letztes Solo“ ist weltweit im Angebot des Streaming-Dienstes Netflix verfügbar.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Na, wenigstens hatte Herr Andreas nun auch seine fünf Minuten Ruhm.^^

    weitere Meldungen