„Counterpart“: Großartiger J.K. Simmons dominiert düstere Berlin-Serie – Review
Sci-Fi-Spionagemix mit faszinierender Prämisse, aber einigen Genreklischees
Rezension von Marcus Kirzynowski – 05.02.2018, 13:30 Uhr
Für eine US-amerikanische Fernsehserie wirkt „Counterpart“ ziemlich europäisch. Das könnte daran liegen, dass eine Reihe britischer und sonstiger europäischer Schauspieler besetzt wurde, aber vor allem auch am Schauplatz. Wir befinden uns nämlich in Berlin und obwohl die Serie in der Gegenwart angesiedelt ist, verströmt hier vieles noch den Geist des Kalten Krieges. Wie wir im Laufe der Pilotfolge erfahren werden, ist der auch noch ganz real im Gange – allerdings nicht mehr der zwischen dem Westen und dem Ostblock, sondern einer zwischen zwei Welten, die sich noch viel mehr ähneln.
Doch zunächst lernen wir Howard Silk (J.K. Simmons) kennen, einen kleinen Verwaltungsangestellten um die 60 Jahre, der seit Jahrzehnten seinen eintönigen Dienst in einer Behörde namens Office of Interchange ableistet. Wofür genau dieses „Amt für Austausch“ eigentlich zuständig ist, weiß Howard nach all den Jahren selbst immer noch nicht. Einiges an seiner arbeitstäglichen Routine mutet allerdings sehr merkwürdig an: So muss er bei Dienstantritt alle persönlichen Gegenstände wie Handy, Portemonnaie und sogar Ehering ablegen, sich dann gemeinsam mit seinen Kollegen in einem Umkleideraum einen einheitlichen Anzug anlegen, bevor er in einer kleinen Kabine einen ihm jeweils Fremden anhand eines Fragebogens befragen muss. Die Fragen erscheinen dabei als ziemlicher Nonsens, den Howard aber strikt abarbeiten und abhaken muss. Als er einmal von der Routine abweicht, indem er sein Gegenüber auf einen Fleck auf dessen Krawatte hinweist, wird er am nächsten Tag gleich zu seinem Vorgesetzten zitiert.
So unklar Howards langweilige Aufgabe in dem riesigen Behördenapparat bleibt, so deutlich wird schnell, dass er auch sonst nicht gerade auf der Sonnenseite des Lebens steht. So liegt seine geliebte Ehefrau Emily (Olivia Williams, „Broadchurch“) seit sechs Wochen nach einem Autounfall im Koma. Und sein Schwager Eric (Jamie Bamber, „Battlestar Galactica“) drängt ihn, dessen Schwester zur Familie und damit weit weg von Howard verlegen zu lassen. Auch Howards Antrag auf Beförderung aufgrund seiner vielen Dienstjahre, in denen er nie gefehlt hat, wird abgelehnt. Doch dann ändert sich von einem Tag auf den anderen alles: Bei einem erneuten Termin im Büro seines Chefs sitzt er plötzlich einem Mann gegenüber, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten ist.
Die unglaublich klingende Erklärung für die Existenz von Howards Doppelgänger: Vor 30 Jahren habe es bei einem Experiment einen Unfall gegeben, bei dem eine Parallelwelt entstanden sei. Das Portal für den Übergang von der einen in die andere Welt befindet sich direkt unter dem Amt, dessen wahre Aufgabe der Austausch von Informationen und Gefangenen mit der Gegenseite ist. Howards Gegenstück arbeitet wiederum für die entsprechende Behörde der anderen Seite, jedoch in weit höherer Position: Er wird mit geheimen Missionen betraut. Da außerdem noch eine Auftragskillerin der Gegenseite in unserem Berlin unterwegs ist, muss der zweite Howard in die Rolle des ersten schlüpfen. Die Aufgabe „unseres“ Howards ist dabei zunächst, seinen „Zwilling“ genaustens in die Routinen seiner allabendlichen Krankenhausbesuche bei Emily einzuweisen. Dabei vergisst er jedoch ein wesentliches Detail.
Vordergründig entpuppt sich die neue Serie des Bezahlsenders Starz relativ schnell als Spionageserie. Es werden auch tatsächlich immer wieder typische Versatzstücke dieses Genres wie undurchschaubare Operationen, Mitarbeiter mit zweifelhafter Loyalität und sogar Verfolgungsjagden und Liquidierungsversuche geboten. Das eigentlich Interessante an der Geschichte ist aber etwas anderes: Durch das Konzept der Parallelwelten, die sich ab einem bestimmten Zeitpunkt getrennt voneinander entwickelt haben, bieten sich zahlreiche Ansatzpunkte für große philosophische Fragen nach Identität, Schicksal und freiem Willen. So ist Howard verblüfft, dass sein Gegenstück von „drüben“ komplett anders auftritt und wirkt, obwohl sie doch beide über die gleichen Gene verfügen und auch bis zum Zeitpunkt der Aufsplittung die gleiche Kindheit und weitere Entwicklung durchlebt haben. Trotzdem hat der andere Howard Karriere gemacht, wirkt viel aktiver und entschlossener und weiß auch in gefährlichen Situationen immer genau, was zu tun ist. Auch seinen Kleidungsstil hat er gewechselt und behauptet sogar, sich im Gegensatz zu Howard 1 nicht mehr für Musik zu interessieren. Die alte umstrittene Frage nach nature or nurture – also ob eher die Gene oder die Sozialisation den Menschen ausmachen -, die etwa auch schon die Klonserie „Orphan Black“ höchst unkonventionell beantwortete, wird hier variiert, indem eben beides bis zu einem bestimmten Punkt gleich war. Es scheinen also einzelne Entscheidungen oder das Verhalten in einem kritischen Moment gewesen zu sein, die zu der Auseinanderentwicklung der bis dato identischen Personen geführt haben. Wäre Howard 1 nicht immer so zögerlich gewesen, sähe auch sein Leben heute wohl ganz anders aus.
J.K. Simmons, ein TV- („Oz – Hölle hinter Gittern“, „Law & Order“, „The Closer“) und vor allem Kinoveteran, der erst vor drei Jahren seinen ersten Oscar für die Hauptrolle in „Whiplash“ bekam, ist ein hervorragender Schauspieler, der keine billigen Maskentricks braucht, um die beiden Identitäten desselben Mannes völlig unterschiedlich darzustellen. Dank des aktuellen Stands der Digitaltechnik wirken die gemeinsamen Szenen der Howards dabei absolut real. Einige andere Mitglieder des auf dem Papier beeindruckenden Casts bekommen leider in den ersten beiden Folgen nicht so viel zu tun: Olivia Williams liegt abwechselnd im Koma und führt undurchsichtige Gespräche auf der anderen Seite, der Däne Ulrich Thomsen („Banshee“) darf als Chef der Einsatzabteilung bislang vor allem grimmig gucken und der Ire Stephen Rea variiert raunend jenen undurchsichtig-bedrohlichen Rollentypus, den er schon etwas zu oft in Serien wie „The Shadow Line“ und „The Honourable Woman“ gegeben hat.
Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten zwei Episoden der Serie „Counterpart“.
Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Starz
„Counterpart“ feiert aktuell in den USA beim Pay-TV-Sender Starz seine Weltpremiere. Der hat zwei Staffeln zu je zehn Folgen bestellt. Ein deutscher Sender für die Serie von Anonymous Content, Media Rights Capital und Starz Originals ist noch nicht bekannt geworden.
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.
Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing
Kommentare zu dieser Newsmeldung
jmbr am
User_172462
So ein Quatsch. Das eigene Versagen immer an anderen fest zu machen und dabei nicht davor zurück zu schrecken, spannende Unterhaltung dazu zu missbrauchen.User_172462 am
Die Euphorie von Herrn Kirzynowski kann ich nicht teilen. So ein "interessantes Gedankenexperiment" ist nämlich nur wieder typisch amerikanische Propaganda, dass man sich vom Tellerwäscher zum Milliardär umwandeln kann, wenn man denn nur will. Und aus so einer viel zu simplen, urcalvanistischen, unrealistischen Einstellung erwächst dann die antisoziale Einstellung, dass Obdachlose ihr Los selbst gewählt/verschuldet haben etc. Das ist übigens auch der Nährboden für viele Sekten, die genau so argumentieren, dass man eben alles selbst so entschieden/gewählt hat, bis hin zu Unfällen, die man erleidet. Unverantwortete Schichsalsschläge gibt es nicht, und dass man von solchen aus der Bahn geworfen wird - das passiert doch eben nur den Schwachen, und um die ist es ja nicht schade. Das ist eine ganz miese, unmenschliche Einstellung, die einen Wahnsinnsdruck auf den Einzelnen ausübt, an dem die meisten einfach nur scheitern können, und die gern von erfolgreichen Glückspilzen wie Prolltitan Bohlen verbreitet werden - als ob der so viel geleistet hätte/kann, da war schlicht und ergreifend eine ganze Menge Glück mit im Spiel. Klar hat nicht jeder Talent, wenn er die Chance bekommt, aber die meisten, die Talent haben, bekommen eben schon keine Chance, und das ist reines Glück bzw. Pech. Ich weiß jedenfalls, dass ich eine solche Gehirnwäsche nicht unterstützen und diese asoziale Serie nicht ansehen werde.invwar am via tvforen.de
Sieht echt interessant aus, hoffe es wird nur nicht aehnlich wie bei Fringe laufen. Ob sowas ins Free-TV kommt... waere froh, wenn Netflix das bald hinzufuegen wuerde.Sentinel2003 (geb. 1967) am
"Berlin Station" spielt ja auch in Berlin :-)