„Adolescence“: Peinigende Perspektiven auf eine unfassbare Gewalttat – Review

Die großartige Netflix-Miniserie hat das erste Drittel des Serienjahrs wohl am stärksten geprägt

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 01.05.2025, 12:27 Uhr

Aus dem Bett aufs Revier: Am frühen Morgen wird Jamie (Owen Cooper, M.) verhaftet. Vater Eddie (Stephen Graham, l.) ist entgeistert, Pflichtverteidiger Barlow (Mark Stanley) tut seinen Job. – Bild: Netflix
Aus dem Bett aufs Revier: Am frühen Morgen wird Jamie (Owen Cooper, M.) verhaftet. Vater Eddie (Stephen Graham, l.) ist entgeistert, Pflichtverteidiger Barlow (Mark Stanley) tut seinen Job.

Das erste Jahresdrittel 2025 ist passé – und „Adolescence“ steht sieben Wochen nach Start immer noch auf Platz 4 der Netflix-Charts. Die vierteilige Miniserie aus Großbritannien über einen mordverdächtigen 13-Jährigen hat sich schon Anfang April in die ewige Top Ten der erfolgreichsten Netflix-Staffeln emporgeschoben (mit inzwischen weit über 100 Millionen Views) und ist gewiss die größte Überraschung dieses Serienfrühlings. Mit etwas Abstand blicken wir noch einmal auf diesen Publikums- und Kritikerhit – der in der kommenden Awards Season einen prasselnden Preisregen erwarten darf.

Auf dem Home Screen von Netflix erschien am 13. März eine Serie, die keine Stars zu bieten hatte und vom Romanzen-Glamour à la „Bridgerton“ ebenso weit entfernt war wie von „Wednesday“, „Stranger Things“, „Squid Game“ und all den anderen Entertainment-Hits, die man mit diesem Streamingdienst verbindet. Am ehesten noch umweht „Adolescence“ ein Hauch von True Crime – ein Genre, das auf Netflix durchaus gut klickt. Nur basiert „Adolescence“ eben gar nicht auf einem realen Fall. Die Serie ist fiktiv. Kurzum: Ein Hit war nicht unbedingt zu erwarten.

Dennoch wurde der Vierteiler ein Hit, ein riesiger sogar. Das „Broadcasters Audience Research Board“, das in Großbritannien die Zuschauerzahlen und -quoten ermittelt, sah mit „Adolescence“ in der Startwoche sogar erstmals eine Streamingproduktion ganz vorne – womit die Serie im Vereinigten Königreich Fernsehgeschichte schrieb. Viele Serienfans wird es also mutmaßlich nicht mehr geben, die den Überraschungserfolg noch gar nicht kennen.

1. Worum geht es in „Adolescence“?

Dreh- und Angelpunkt der vier etwa einstündigen Episoden ist der Mord an der 13-jährigen Schülerin Katie. Als Täter steht (fast) von Anfang an ihr gleichaltriger Mitschüler Jamie Miller fest. Die Serie ist kein Whodunit, weshalb überhaupt nichts gespoilert ist, wenn man Jamie als Täter benennt. Darum geht es gar nicht. Es geht um das Warum: Warum bringt ein der Kindheit noch kaum entwachsener, in der titelgebenden „Adoleszenz“ befindlicher Heranwachsender aus der unteren, aber keineswegs prekären Mittelschicht (Vater Klempner, Mutter Hausfrau; typisches Reihenhäuschen in einer typischen englischen Kleinstadt) seine Mitschülerin um?

Desillusionierte Polizisten: DI Bascombe (Ashley Walters, l.) und DS Frank (Faye Marsay) wissen zwar, dass Jamie der Täter ist – rätseln aber eingangs noch über das Motiv. Netflix

Die vier Folgen setzen jeweils unterschiedliche Schwerpunkte: In der ersten Folge wird die Verhaftung, Vernehmung und Überführung des Jungen in Szene gesetzt; in der zweiten Episode sucht die Polizei in Jamies und Katies Schule nach Hinweisen auf das Motiv; in der dritten Folge steht das Gespräch zwischen Jamie und einer Rechtspsychologin im Mittelpunkt, die in der Jugendstrafanstalt feststellen soll, ob Jamie bewusst ist, was ihm zur Last gelegt wird; in der Schlussepisode geht es um Jamies Familie, die mit den psychischen und sozialen Konsequenzen der ungeheuren Tat leben muss – und Mitschuldfragen wälzt.

Diese multiperspektivische Herangehensweise umstellt die Motivlage, die sich herauskristallisiert: Jamie ist online in die sogenannte manosphere geraten, ein Netzwerk, in dem Influencer auf TikTok und in Foren und Blogs die natürliche Herrschaft des Mannes über die Frau propagieren und, in extremen Fällen, Gewalt als legitimes Mittel ansehen. Dass die Accounts selbsternannter „Alpha Males“ und „Pick-Up-Artists“ in den dunklen Winkeln der Incel-Community wohlgelitten sind, war schon länger bekannt; dass die Fans derartiger Frauenhass-Schleudern aber auch oft erschreckend jung und damit leicht beeinflussbar sind, ist erst in den letzten Jahren in den polit-kulturellen Fokus geraten.

2. Wer steckt hinter „Adolescence“?

Geschrieben hat die Serie, an der unter anderem Brad Pitts Produktionsfirma Plan B Entertainment beteiligt ist, der britische Autor Jack Thorne, gemeinsam mit Hauptdarsteller Stephen Graham, der Jamies Vater spielt. Thorne hat nicht nur die „Enola Holmes“-Filme, die Fantasy-Adaption „His Dark Materials“ oder zuletzt die sehenswerte Netflix-Produktion „Toxic Town“ geschrieben, er steckt auch hinter „This Is England“, drei Miniserien, die sich mit soziologischer Präzision dem gesellschaftlichen Underground im England der späten Achtzigerjahre widmeten.

Darin spielte auch Graham mit, der seit Guy Ritchies „Snatch“ im britischen Kino und Fernsehen auf knurrige Arbeiterfiguren festgelegt ist (und in „Boardwalk Empire“ Al Capone verkörperte). Wie nuanciert und feinsinnig Graham zu spielen imstande ist, kann er in „Adolescence“ wieder mal zeigen: Eddie Miller wollte immer nur alles richtig machen und kann selbst dann nicht wirklich glauben, was sein Sohn getan hat, als er es auf den Bildern einer Überwachungskamera mit eigenen Augen mitansehen muss.

Auch das Leben von Jamies Eltern wird auf links gedreht: Eddie (Stephen Graham, l.) und Manda Miller (Christine Tremarco) wissen nicht, wie ihnen geschieht. Netflix

Die Darsteller sind durch die Bank fantastisch – als leitende Ermittler überzeugen Ashley Walters („Top Boy“) und Faye Marsay („Andor“) -, doch am erstaunlichsten ist das Casting der jugendlichen Darsteller, die fast alle erstmals vor einer Kamera agierten. Zu nennen sind etwa Jamies Schwester (Amelie Pease), die vor Wut fast platzende beste Freundin des Opfers (Fatima Bojang), der Sohn des Polizisten (Amari Bacchus) und allen voran Jamie selbst. Owen Cooper spielt den Täter zwischen heulendem Elend, freundlicher Charmebolzerei und cholerischer Aggression, in der fulminanten dritten Episode all dies in einem rasanten Wechsel, der nicht nur die Therapeutin (Erin Doherty aus „The Crown“) fast aus der Kurve trägt, sondern auch das entgeistert zusehende Publikum. Besonders unfassbar ist das, weil …

3. Was ist das formal Besondere an „Adolescence“?

 … die vier Episoden als sogenannte „One Shots“ inszeniert wurden, also unter Verzicht auf Montage in einem einzigen Take. Das heißt, die Kamera folgt den Schauspielern eine Stunde lang ununterbrochen. Mal spielt eine Episode mehr oder weniger in einem Raum, mal aber werden diverse, nicht eben nah beieinanderliegende Schauplätze angesteuert, zu Fuß oder im Auto. Wochenlang wurden die Abläufe jeder Episode geprobt, dann jeweils mehr als zehnmal gedreht, ehe Regisseur Philip Barantini den finalen Take im Kasten hatte. Erstaunlich, dass vor allem die jungen Schauspieler die Intensität nach so vielen Durchläufen derart hochhalten konnten. Das „One Shot“-Verfahren, das Barantini bereits (mit Graham in der Hauptrolle) im gefeierten Küchenthriller „Yes, Chef!“ ausprobiert hatte und man etwa auch aus dem deutschen Kinofilm „Victoria“ oder zuletzt einer Episode von „The Studio“ kennen könnte, hat große Vorteile, aber auch einen unbestreitbaren Nachteil. Beides ist in den letzten Wochen im Zusammenhang mit dieser Serie diskutiert worden.

Der wohl größte Vorteil ist die atemlose Dringlichkeit dieser Inszenierungsweise: Durch die Real-Time-Atmosphäre hat man das Gefühl, den Geschehnissen hautnah beizuwohnen, die allmähliche Erschöpfung der Figuren (und ihrer Darsteller) überträgt sich aufs Publikum. Gerade in der ersten Episode, die mit dem martialischen Eindringen der Polizei ins Häuschen der Familie beginnt und danach den Transport aufs Revier und die Prozeduren nachvollzieht, denen sich der Junge und seine Familie unterziehen müssen, wirkt auch auf alle Zuschauer zehrend. Im Grunde präsentieren sich alle vier Episoden wie einstündige Theaterstücke, bei denen alle technischen „Umbauten“ genauso sitzen müssen wie die Auf- und Abtritte der Figuren, die zur rechten Zeit wieder „auf der Bühne“, also: im Bild sein müssen. Die niederschmetternde Zerstörtheit, die Stephen Graham in der letzten Episode zeigt, am Bett des Jungen im Kinderzimmer des Familienhauses, zeigt auch das letzte Aufbäumen eines von der Vorstellung erschöpften Bühnendarstellers, der weiß, dass gleich der Vorhang fällt.

Wird Zeugin eines im Internet antrainierten Dominanzgebarens: Rechtspsychologin Briony Ariston (Erin Doherty) interviewt Jamie. Netflix

Problematisch kann das „One Shot“-Verfahren allerdings dann werden, wenn es Gimmick-hafte Züge annimmt – und das tut es in den vier Episoden tatsächlich immer mal wieder. Wenn die Kamera einem flüchtenden Schüler durchs Fenster hinterherhechtet, dann an einer Drohne über den halben Ort fliegt, nur um am Tatort auf einem Parkplatz anzukommen und nah an die sekundengenau losfließenden Tränen von Graham heranzufahren; oder wenn sie zwischen den Etagen des Reihenhauses hoch- und runterfährt, um dann auf der Kühlerhaube eines Lieferwagens zum Baumarkt und im Fond wieder zurückzufahren, dann ist die Gefahr groß, dass das Publikum sich vor allem fragt, wie zum Henker die Macher das alles gemacht und organisiert bekommen haben. Das Formale, das Technische wird in diesen Momenten zur Attraktion, die sich ungut vor das eigentliche Drama des Erzählten schiebt. Nicht immer wird dabei deutlich, ob der One Shot wirklich die beste Wahl war, das Erzählte ins Bild zu bekommen.

Was folgt auf „Adolescence“?

Trotz dieses Einwands besteht kein Zweifel, dass es sich bei „Adolescence“ um ein bleibendes Werk handelt, um ein sogenanntes „Must-See“, bei dem jeder, der vom kulturellen Zeitgeschehen eine Ahnung zu haben vorgeben möchte, mitreden möchte. Der Erfolg hat schon jetzt dazu geführt, dass eine zweite Staffel im Gespräch ist – die sich wohl einem anderen Fall widmen dürfte.

Während sich rechte Aktivisten erwartbar daran stören, dass in der Serie Protagonisten der manosphere wie der frauenfeindliche Influencer Andrew Tate (der in Rumänien wegen Vergewaltigung angeklagt ist), beim Namen genannt werden, und Autor Thorne einen durch Elon Musk ausgelösten Shitstorm über sich ergehen lassen musste (die Serie würde „anti-weiße Propaganda“ verbreiten), hat die Diskussion über die Serie längst die oberen Reihen der Politik erreicht. Der britische Premierminister Keir Starmer etwa, der die Serie nach eigenen Angaben mit seinen eigenen Teenagerkindern ansah, begrüßt, dass „Adolescence“ in England nach einem Agreement mit Netflix kostenfrei in Schulen gezeigt werden kann.

Generell hat die Serie die Debatte über Social-Media-Altersgrenzen (wie sie Australien dieses Jahr einführen will) zusätzlich befeuert – wobei Verbote bekanntermaßen neue Anreize schaffen. Auch deshalb nagt die Frage, die die Serie aufwirft, am Ende nicht nur an Jamies verzweifelten Eltern: Wie streng hätten sie das Onlineverhalten ihres Sohnes überprüfen müssen? Und hätte es die Tat wirklich verhindern können?

Dieser Text basiert auf der Sichtung aller vier Episoden von „Adolescence“.

Meine Wertung: 4,5/​5

Alle vier Folgen der Miniserie „Adolescence“ sind seit dem 13. März bei Netflix verfügbar.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kom­mu­ni­ka­tions­wis­sen­schaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am via tvforen.de

    erste Folge gut. dann wird es mitunter zäh
    • am

      Ich habe mir die Serie angesehen. Die Machart ist ungewöhnlich ("RealTime"), die Darsteller eindringlich und die Figur des Jungen abgebrüht und unheimlich - und das mit 13!

      Für mich eine dramatische Miniserie, die eine gefährliche Entwicklung bei Jugendlichen (in England) zum Thema hat, aber kein Kandidat für eine erneute Sichtung.

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