An der Supermarktkasse fängt ausgerechnet in der Schlange vor einem eine Kundin an, mit der Kassiererin über ein vermeintliches Sonderangebot zu diskutieren. Auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch trifft einen ein Vogeldreck mitten aufs Hemd. Und die Kontrolle im Zug kommt natürlich ausgerechnet dann, wenn man mal seine Monatskarte zu Hause vergessen hat. Eine Frage schießt einem in solchen Situationen sofort in den Kopf: „Warum ich?“ Drehbuchautor und Regisseur David Schalko („Braunschlag“, „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“) treibt das Spiel mit dieser Frage in seiner neuen Miniserie auf die Spitze: Bei ihm werden Menschen entführt, eingesperrt oder mit dem (vermeintlichen) Suizid eines gerade Entlassenen konfrontiert.
Das Ganze jeweils maximal schwarzhumorig, wie es zum Markenzeichen des österreichischen Serienmachers geworden ist. Nach der extrem aufwendigen Miniserie über Leben und Werk des Jahrhundertschriftstellers „Kafka“ ist „Warum ich?“ quasi der Gegenentwurf: sechs weitgehend eigenständige Kurzepisoden von jeweils 20 bis 30 Minuten Länge, die überwiegend in einem Raum oder an einem Ort spielen und bis auf die Abschlussfolge auf wenige Figuren beschränkt sind. Kleine Kammerspiele also, die meist auch noch mehr oder weniger stark die klassische Einheit von Raum und Zeit einhalten. Dabei konnte Schalko für die ARD-Produktion auf ein deutsch-österreichisches All-Star-Ensemble zurückgreifen, zu dem auch bekannte Gesichter aus seinen vorherigen Serien gehören.
In der ersten Episode namens „Cowboys“ verkörpert Charly Hübner einen runtergekommenen Countrysänger, der wohl nicht zufällig an Gunther Gabriel erinnert. Wie dieser hat er einen Haufen Schulden gemacht und gibt, um diesen abzuzahlen, Wohnzimmerkonzerte bei seinen Fans – in diesem Fall bei einer mittelalten Frau in einem Vorstadthäuschen. Aber irgendwas ist seltsam an dieser Monika (Andrea Sawatzki), die ihn mit Alkohol abfüllt und mit eindeutigen Angeboten umgarnt. Weder tauchen die angeblich eingeladenen Nachbarn zum Konzert auf noch ihr von der Arbeit zurückerwarteter Ehemann. Und am Ende wird der Auftritt für Jeff Kanter zu einer Reise ohne Wiederkehr.
Wenn der Fan dem Star zu nahe kommt: Monika (Andrea Sawatzki) und Jeff (Charly Hübner) ARD Degeto Film/Superfilm Filmproduktions GmbH
Auf halber Strecke nach „Regensburg“ (Episode 2) bleibt der Zug von Personalchefin Saskia (Nora Waldstätten, auch schon in Schalkos „Altes Geld“ dabei) liegen, die gerade mal wieder mehrere Angestellte entlassen musste. Als sie erfährt, dass sich wohl ein Selbstmörder vor die Bahn geworfen hat, verschärfen sich ihre Selbstzweifel: Kann es wirklich sein, dass das ein Mann war, den sie heute gefeuert hat? Ein Familiengeburtstag eskaliert in Folge 3 („Lebenskerze“), in der Polizist Hans (Robert Palfrader) zum 60. eingeladen hat. Hans begegnen wir auch in der nächsten Episode wieder, als der sozial isolierte Businessmann Dominik (Thomas Schubert) von einem Unbekannten (Merlin Sandmeyer) entführt wird – mit dem er sich nach einigen Tagen blendend versteht.
In Folge 5 („Mondfenster“) stellt sich ein Teenager (Oscar Kehlmann) die Frage „Warum ich?“, wächst er doch bei Eltern (Detlev Buck, Sarah Bauerett) auf, die Verschwörungstheorektiker sind und sich abseits der Gesellschaft ein kleines Refugium geschaffen haben. Eines Abends stehen zwei Männer vor der Tür, die behaupten, dass die Welt tatsächlich schon untergegangen sei. Und zum Schluss kulminiert ein halbes Dutzend kleiner Geschichtchen in dem Luxusrestaurant „Casa Carmen“, in dem sich nicht nur an jedem Tisch, sondern auch zwischen dem Personal eigene kleine Dramen abspielen. Bis der bärtige Mann (Bjarne Ingmar Mädel) wieder auftaucht, der auch schon Nora Waldstätten im Zugabteil verwirrte.
Wie es bei solchen Anthologieserien meistens der Fall ist, sind die einzelnen Episoden mal etwas mehr, mal etwas weniger gelungen. Im Großen und Ganzen zeichnen sie sich aber alle durch Schalkos unnachahmlichen – negativer formuliert könnte man auch sagen: sehr speziellen – Humor aus. Ganz so absurd wie in seinem Seriendurchbruch „Braunschlag“ geht es diesmal allerdings meist nicht zu. Abgesehen von dem Szenario der Prepper-Eltern, die an eine Alien-Invasion glauben, beginnen die Folgen jeweils mit alltäglichen Situationen, die sich dann zunehmend vom Erwartbaren entfernen.
Dabei sind es immer einzelne Personen, die eben gerade nicht so reagieren, wie es „normal“ wäre: die gutbürgerliche Gastgeberin, die ihren „Stargast“ nicht mehr gehen lassen will, die erwachsenen Kinder des Jubilars, die ihren Eltern völlig übertriebene Vorwürfe machen, der junge Mann, der plötzlich ganz froh ist, aus seinem langweiligen Alltag entführt worden zu sein, ein zehnjähriger Junge, der im Restaurant seine Mutter terrorisiert …
Familienfest mit mieser Stimmung: Hans (Robert Palfrader) und Gertraud (Sylvie Rohrer) ARD Degeto Film/Superfilm Filmproduktions GmbH
Teilweise dreht Schalko dann die Absurditätsspirale so weit, dass die Folgen fast im Surrealistischen enden, wenn etwa nach dem Einschreiten des Polizisten nicht mehr klar ist, wer eigentlich gerade wen entführt. Manchmal lässt er die Rollen einzelner Figuren auch bewusst im Unklaren, was ganz am Ende zu einem grandiosen Enthüllungsmoment führt, der ein komplett anderes Licht auf eine der vorhergegangenen Geschichten wirft. Meistens bleiben die menschlichen Schwächen und Abgründe hinter aller Skurrilität aber doch irgendwie aus eigener Erfahrung vertraut.
Inszeniert ist das alles betont unspektakulär, die Dialoge werden trocken und meist fast schon unemotional vorgetragen. Die einzelnen SchauspielerInnen bekommen dabei wenig Platz zu glänzen, ordnen sich eher der kühl-fatalistischen Grundstimmung unter. Wie auch der Humor eher zum ungläubigen Schmunzeln als zum laut Loslachen anregt.
Ende des Alltags: Ein Unbekannter (Merlin Sandmeyer) entführt Dominik (Thomas Schubert) an dessen Geburtstag ARD Degeto Film/Superfilm Filmproduktions GmbH
In Schalkos Gesamtwerk ist „Warum ich?“ eher eine Übergangsarbeit wie schon „Ich und die Anderen“ – diesmal aber deutlich kurzweiliger und insgesamt gelungener. Unbedingt gesehen haben muss man das sicher nicht, aber andererseits kann man von diesem speziell österreichischen Humor ja nie genug bekommen.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie „Warum ich?“.
Meine Wertung: 4/5
Alle sechs Episoden stehen ab dem 20 Juni in der ARD Mediathek zum Abruf bereit.
Über den Autor
Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.