„The Boys“: Wenn Superman & Co. Soziopathen wären – Review

Amazons Comicadaption dekonstruiert Idee des strahlenden Superhelden

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 25.07.2019, 18:30 Uhr

Die Titelfiguren von „The Boys“ – Bild: Amazon.com Inc./Prime Video
Die Titelfiguren von „The Boys“

Die erste Folge von „The Boys“ beginnt mit einem animierten Intro des Superhelden-Labels Vought, in dem dessen bunt kostümierte Figuren posieren, wie man es etwa auch von DC- oder Marvel-Serien kennt. Der Unterschied ist, dass einem diese Heldenfiguren völlig unbekannt sind, falls man nicht gerade die Comicserie gelesen hat, auf der die Serie basiert. Der zweite Unterschied ist, dass es das Label Vought in der Realität gar nicht gibt – „The Boys“ ist beim US-Verlag Dynamite Entertainment erschienen. Das fiktive Intro ist ein Gag auf der Metaebene, den man erst im Laufe der Auftaktepisode versteht. Denn innerhalb des Serienuniversums ist es eben dieses Unternehmen – Vought International -, das alle Geschäftsfelder, die mit kostümierten Helden zu tun haben, fest in seiner Hand hat.

Die Serie der Amazon Studios spielt in einer Welt, in der Superhelden wirklich existieren. Das ist nun wahrlich keine neue Idee mehr, gab es doch ähnliche Ansätze bereits in Comics und deren Verfilmungen von „Watchmen“ bis „Powers“. Neu ist hier allerdings der kapitalismuskritische Aspekt, denn der Großkonzern Vought vermarktet nicht nur die Comichefte, Kinoblockbuster und Merchandisingprodukte der Helden, sondern steuert auch die Aktionen der exklusiv bei ihnen unter Vertrag stehenden Helden selbst. Das Top-Team mit Namen „The Seven“ – vergleichbar mit den Avengers oder der Justice League – trifft sich in ihrem Versammlungsraum in der oberen Etage des Vought-Wolkenkratzers. Auch die Zusammensetzung des Teams klingt bekannt: Chef ist ein wie Captain America in eine US-Flagge gehüllter Supermann namens Homelander (Antony Starr), dessen Ex-Freundin Queen Maeve (Dominique McElligott, „Hell on Wheels“) erinnert an Wonder Woman, über den Fischmann The Deep (Chace Crawford) machen sich die anderen gerne lustig und A-Train (Jessie T. Usher) ist der schnellste Mann der Welt.

Letzterer bringt die Handlung in Gang, als er bei einem Einsatz versehentlich eine junge Frau tötet, die ihm im Weg steht – er rennt buchstäblich einfach durch sie hindurch, ihr Freund Hughie hält danach nur noch ihre abgetrennten Arme in den Händen. Die Arroganz des „Helden“, der nicht mal die Zeit für eine Entschuldigung findet, macht den ebenso nerdigen wie schüchternen Hughie (Jack Quaid) richtig wütend. Er entwickelt einen Hass nicht nur auf A-Train, sondern auf die übermenschlichen Wesen, die sich auch über das Gesetz stellen, im Allgemeinen. Das macht sich ein geheimnisvoller Fremder namens Billy Butcher (Karl Urban) zu Nutzen, der den trauernden Elektronikmarktverkäufer, der noch bei seinem Vater lebt, für eine inoffizielle CIA-Einheit rekrutiert – eben jene „Jungs“ des Serientitels. Von Butcher erfährt Hughie, dass auch die anderen Mitglieder der „Seven“ keinesfalls die selbstlosen Helden sind, als die sie von der Öffentlichkeit gefeiert werden.

Die neuen Seven: Starlight, The Deep, der unsichtbare Translucent, Queen Maeve, Black Noir, der tödliche A-Train und der Anführer, Homelander
Parallel erzählt Serienentwickler Eric Kripke („Supernatural“) die Geschichte von Annie January (Erin Moriarty), die in einem Casting ausgewählt wird, als Starlight das jüngste Mitglied der „Seven“ zu werden. Für die junge Frau geht damit ein Traum in Erfüllung, auf den sie mit ihrer ehrgeizigen Mutter lange hingearbeitet hat. Doch schon bei ihrer ersten Begegnung mit einem ihrer neuen Teamkollegen wird sie aufs Heftigste desillusioniert: The Deep lässt plötzlich die Hosen runter und zwingt sie zum Oralsex.

Es ist was fischig mit The Deep (Chace Crawford)

Man merkt schnell, dass „The Boys“ keine normale Superheldenserie sein will – was bei einer Comicvorlage von Garth Ennis („Preacher“) auch nicht zu erwarten war. Vielmehr ist es eine Serie, die aus den Studios von Marvel oder DC völlig unvorstellbar wäre: voller krasser Sex- und Gewaltdarstellungen und den Mythos vom kostümierten Helden gnadenlos dekonstruierend. Einer nach dem anderen der bunt Gewandeten entpuppt sich als egozentrischer Soziopath, den die Rechte und Bedürfnisse normaler Bürger nicht im Geringsten interessieren. Einzige Ausnahme ist die schnell ihre anfängliche Naivität verlierende Annie, die quasi stellvertretend für die Zuschauer hinter die strahlende Oberfläche schauen kann – und von dem, was sie da sieht, einfach nur angeekelt ist. Und über allem steht der allmächtige Konzern, der die Heldentaten seiner Schützlinge hemmungslos vermarktet, gleichzeitig die Helden entsprechend seiner eigenen kommerziellen Interessen lenkt und auch noch mit Lobbyarbeit (und Erpressung) die Politik dazu bringen will, die Supermenschen als Soldaten einzusetzen.

Queen Maeve (Dominique McElligott) und der Homelander (Antony Starr) bei einem Publicity-Auftritt

Eric Kripke gelingt insbesondere bei den ersten beiden Folgen eine dichte Geschichte, bei der man sich nie sicher sein kann, was als Nächstes passiert – außer, dass es wahrscheinlich nichts Gutes sein wird. Ebenso wie Ennis hat er keine Hemmungen, die Grenzen des guten Geschmacks weit hinter sich zu lassen. Man muss das schon mögen, wenn Menschen explodieren oder Schädel zerquetscht werden. Die Splattereffekte erscheinen hier allerdings weniger als Selbstzweck, da sie immer im Kontext des gesellschaftskritischen Grundtons der Serie stehen. „The Boys“ profitiert auch von dem überzeugenden Ensemble, zu dem gleich zwei Crewmitglieder der neuen „Star Trek“-Filme gehören: neben Karl Urban auch Simon Pegg in der wiederkehrenden – und gänzlich unlustig angelegten – Nebenrolle von Hughies Vater. Elisabeth Shue, die die ebenso einnehmende wie kühle Unternehmensvertreterin Madelyn Stillwell (mit dem schönen Jobtitel Senior Vice President for Heroes Management) spielt, war immerhin für „Leaving Las Vegas“ für den Oscar nominiert, den Israeli Tomer Kapon könnte man aus den bei Netflix verfügbaren Serien „Die Geiseln“ und „Fauda“ kennen. Aber auch die jüngeren Darsteller Quaid (Sohn von Dennis Quaid und Meg Ryan) sowie Moriarty überzeugen.

Symbolbild: Hughie (Jack Quaid) lauscht den Einflüsterungen von Billy Butcher (Karl Urban) über Superhelden

Im Vergleich zur anderen auf einer Comicvorlage von Ennis basierenden Serie „Preacher“ wirkt „The Boys“ stringenter erzählt und suhlt sich weniger in ihren Gewaltexzessen. Die gelungene Musikauswahl, die in der Auftaktfolge aus hinlänglich bekannten Punksongs wie „London Calling“ und „The Passenger“ besteht, trägt ihren Teil zum gelungenen Gesamteindruck bei. Jedoch fällt spätestens ab der dritten Episode auf, dass die Szenen mit mindestens einem der ambivalenten Superhelden wesentlich interessanter sind als die, in denen nur deren Gegner um Billy Butcher agieren. Wer comichaft inszenierte Serien mag, aber von den glattpolierten Marvel-Verfilmungen genug hat, dürfte hier trotzdem richtig sein.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten fünf Episoden der Serie „The Boys“.

Meine Wertung: 3,5/​5


Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder:


Die achtteilige erste Staffel von „The Boys“ wird weltweit am 26. Juli 2019 bei Prime Video veröffentlicht, in Deutschland gibt es dann auch schon die Synchronfassung. Zudem wurde auch die Bestellung einer zweiten Staffel schon bestätigt.


Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Endlich mal was ganz Neues!! Genau das Richtige, auch wenn man "Superheldenmüde" geworden ist.:-))
    • am via tvforen.de

      Ich habe vor 2 Wochen die erste Staffel regelrecht inhaliert und war ziemlich begeistert.
      Es ist auch keine Superhelden-Serie in "dem" Sinne, sondern es geht eher darum, wenn solche Superhelden wie Superman (Homelander) oder Flash (A-Train), Aquaman (The Deep) von einem Konzert gemanagt werden, der sich u.a. um Kollateralschäden, wie zb Schwerverletzte oder Tote nach einem Superheldeneinsatz kümmert.
      Ein Entschädigungsscheck für jemanden, der einen geliebten Menschen verloren hat und im Gegenzug eine Schweigeerklärung unterschreiben soll, das ist schon sehr zynisch.

      Ebenso gibts natürlich Merchandising, an dem die Helden finanziell beteiligt sind, die Rechtsabteilung kümmert sich und kehrt Dreck unter den Teppich.

      Und Homelander, der große amerikanische Held, ist ein schmieriger Drecksack par Excelence :-)

      Snake
      • am via tvforen.de

        Hat jemand sonst noch die Serie geschaut?
        Sie bekommt gute Kritiken von vielen Seiten.
        Ich bin einfach Superhelden-müde.

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