„Sex Education“: Gillian-Anderson-Dramedy hat zu wenig Saft und Kraft – Review

Britische Serie über das Sexleben von Teenagern bleibt in gewohnten Bahnen

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 23.01.2019, 18:00 Uhr

Mutter und Sexualtherapeutin Jean (Gillian Anderson, r.) erscheint ihrem Sohn Otis (Asa Butterfield) mal wieder zu aufdringlich – „Sex Education“ – Bild: Sam Taylor/Netflix
Mutter und Sexualtherapeutin Jean (Gillian Anderson, r.) erscheint ihrem Sohn Otis (Asa Butterfield) mal wieder zu aufdringlich – „Sex Education“

Wie beginnt wohl eine im Auftrag von Netflix produzierte Dramedyserie mit dem Titel „Sex Education“, in der es um die Liebesprobleme von Gymnasiasten geht? Genau so, wie man es erwartet, also mit einer ziemlich expliziten und zunehmend absurder werdenden Sexszene zwischen zwei Teenagern, an deren Ende der männliche Partner einen Orgasmus vortäuscht – was naturgemäß deutlich schwieriger glaubwürdig zu bewerkstelligen ist als von Frauen. So weiß nun nicht nur der Zuschauer, sondern auch Adams Freundin Aimee, dass er Ejakulationsprobleme hat.

Im Laufe der ersten Folge der achtteiligen Auftaktstaffel lernen wir Adam (Connor Swindells) besser kennen, einen zumindest auf den ersten Blick sehr unsympathischen Egozentriker, der in den Pausen den besten Freund des (Anti-)Helden der Serie terrorisiert, aber selbst unter der extrem strengen Erziehung seines Vaters leidet. Und der ist auch noch der Direktor der Schule irgendwo im beschaulichen Wales. Außerdem ist Adam – nun ja, außerordentlich gut bestückt, was weitere psychologische Hemmungen auslöst. Ausgerechnet dieser Adam landet in einer Lerngruppe mit Otis (Asa Butterfield), der vom Aussehen und Verhalten das genaue Gegenteil darstellt: Otis ist unscheinbar, unbeholfen, hat keinerlei sexuelle Erfahrungen (selbst Masturbation gelingt ihm nicht) und fühlt sich in seinem noch eher kindlich anmutenden Körper offensichtlich so unwohl, dass es einem schon beim Zugucken, wie er sich durch seinen Schulalltag windet, fast körperlich schmerzt. Absurderweise ist Otis aber auch der Sohn einer Sexualtherapeutin, der ebenso selbstbewussten wie offenherzigen Dr. Jean Milburn, mit der „Akte X“-Agentin Gillian Anderson eine ganz andere Seite ihrer Schauspielkunst zeigen darf. So muss der Teenager damit klarkommen, dass schon frühmorgens ständig wechselnde Patienten/​Liebhaber seiner Mutter im Morgenmantel versehentlich in sein Zimmer stolpern, das ganze Haus mit expliziten Gemälden und phallusartigen Kunstwerken vollgestopft ist, vor allem aber, dass die Mutter ständig ungefragt mit ihm über Sex sprechen will.

Diese krasse Diskrepanz zwischen der sexuell freizügigen Mutter und dem verklemmten Sohn sorgt für einen Teil des Witzes von „Sex Education“. Ganz nebenbei hat Otis durch dieses ungewöhnliche Elternhaus (in dem der Vater abwesend ist) aber auch ein großes – zumindest theoretisches – Wissen über sexuelle Störungen erworben. Dies kann er gegen Ende der Pilotfolge erstmals anwenden, um Adam zu helfen, der sich mit einer Überdosis Viagra ein überdimenisoniertes Problem geschaffen und auf dem Schulklo verschanzt hat. Mit psychologischen Expertenkenntnissen, aber auch entsprechendem Einfühlungsvermögen, schafft Otis es, dem Mitschüler über seine emotionale Blockade hinwegzuhelfen. Da auch Otis’ heimlicher Schwarm, die rebellische Außenseiterin Maeve (Emma Mackey), Zeugin des Beratungsgesprächs wider Willen war, entsteht die Idee für ein reichlich schräges Geschäftsmodell: Otis soll seinen Altersgenossen künftig bei deren sexuellen Problemen therapeutisch zur Seite stehen, während Maeve ihm die „Kunden“ beschaffen will. Als „Launch“ der Praxis soll eine Party bei Aimee dienen, auf der die Beiden Gratis-Probeberatungen anbieten wollen. Es versteht sich von selbst, dass dabei zunächst alles ganz anders läuft als geplant …

Bully Adam (Connor Swindells, l.) nimmt Otis (Asa Butterfield) auch nach dessen Holfe noch in die Mangel

Bei einer britischen Teenager-Serie über Sex, Drogen und die Schwierigkeiten des Heranwachsens kommt einem als Fan des Genres natürlich unweigerlich „Skins“ in den Sinn, jene großartige Produktion des Jugendsenders E4, die so offen, aber auch so einfühlsam wie selten zuvor diese so wichtige Lebensphase behandelte. Was damals neu und erfrischend wirkte – das ständige explizite Sprechen über sexuelle Praktiken und die gelegentliche Inszenierung entsprechender Akte -, hat inzwischen jedoch deutlich an Reiz verloren. Nach „Californication“, „House of Lies“ und fast 20 Jahren HBO-Serien von „Six Feet Under“ bis „Girls“ hat man in dieser Hinsicht sowieso quasi schon alles gesehen. Zur Skandalserie taugt „Sex Education“ also nicht mehr, aber ihr geht leider auch jegliche Originalität ab, zumal sie das Coming-of-Age-Genre nicht gerade neu erfindet. Das muss auch nicht jede Serie versuchen, wie gelungene Beispiele des Genres aus jüngerer Zeit wie „Red Oaks“, „Everything Sucks!“ oder „Riverdale“ bewiesen haben. Was es aber zwingend braucht, sind differenzierte Charaktere, Protagonisten, in die man sich einfühlen kann, die eben wirken wie Menschen aus Fleisch und Blut. Gerade das gelingt den Autoren um Serienschöpferin Laurie Nunn hier jedoch in den ersten Folgen überhaupt noch nicht. Sowohl Hauptfigur Otis als vor allem auch die Nebenfiguren bleiben stereotyp: der verklemmte Nerd, der großspurige Bully, das „Bad Girl“ in Lederjacke, der überdrehte schwule beste Freund.

Otis (Asa Butterfield) und Maeve (Emma Mackey) – man muss kein Hellseher sein um zu erkennen, worauf es nach dieser Schaukel-Szene hinausläuft ….

Zudem fehlt es den Geschichten an Glaubwürdigkeit. Wenn sich am Ende der Auftaktfolge alle vorherigen Animositäten und sozialen Schranken zwischen den Mitschülern auflösen und die Rebellin, der Nerd und der Bully urplötzlich ernsthaft und einfühlsam über die sexuelle Krisensituation des Letzteren sprechen – auch noch untermalt von emotionaler Musik -, wirkt das eher wie aus einem Lehrbuch für Hollywood-Drehbuchschreiber als wie eine Situation, die sich so an einer echten Schule ergeben könnte. Letztlich scheint hier hinter der Dramaturgie zu deutlich die Botschaft durch, die Nunn den – anscheinend überwiegend ebenfalls als jugendlich vermuteten – Zuschauern vermitteln möchte: „Hey Leute, vergesst doch eure gegenseitigen Sticheleien und Vorbehalte, wir sind doch alle nur Menschen mit unseren kleinen Problemen und wollen als solche von anderen akzeptiert werden.“ Die dramatische Seite der Serie funktioniert also nicht allzu gut. Auf der humoristischen Ebene wechseln sich gelungene Pointen mit eher peinlichen Gags ab. Dass man etwa für eine lustige Teenager-Serie zwingend Szenen braucht, in denen sich einer nach dem anderen übergeben muss, sollte eigentlich längst als widerlegt gelten.

Otis (Asa Butterfield) und Kumpel Eric (Ncuti Gatwa) tun sich schwer daran, zu wachsen, ohne auseinanderzuwachsen

Im Vergleich zu der neulich ebenfalls bei Netflix aufgetauchten irischen Coming-of-Age-Comedy „Derry Girls“ über vier Schülerinnen und ihren einzigen männlichen Mitschüler zu Zeiten des Nordirlandkonflikts in den 90ern zeigt sich einmal mehr, dass die zugekauften „Netflix Originals“ oft gelungener sind als die Serien, die der Streamingdienst selbst in Auftrag gibt. Ganz unterhaltsam ist „Sex Education“ zwar durchaus, bietet aber nichts, was man nicht in anderen Serien schon deutlich besser gesehen hätte.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten beiden Episoden der Serie „Sex Education“.

Meine Wertung: 3/​5


Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Netflix


Die achtteilige erste Staffel von „Sex Education“ ist seit dem 11. Januar 2019 im Angebot von Netflix verfügbar. Über eine Verlängerung ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht entschieden.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 2001) am

    Ich habe auch nur die ersten beiden Episoden gesehen und jetzt keine wirkliche Lust mehr weiter zu schauen. Jeder Charakter ist stereotyp und undifferenziert und die Story ebenfalls. Schade, da ich so viel gutes darüber gehört habe, nun aber feststellen musste, dass ich ganz anderer Meinung bin, als viel der Kommentarschreiber hier.
    • (geb. 1960) am

      Hm: die Serie beeindruckt mich mehr als die darüber verfasste Rezension; und obwohl Gillian Anderson eher ein Zugpferd im Cast ist läßt sie es zu die jungen Akteure nicht an die Wand zu spielen sondern ihre abgehobene Rollenüberlegenheit gelungen in Szene zu setzen. Hätte ich mir vor 40 Jahren mehr als gewünscht, eine solche Serie!!!
      • (geb. 1994) am

        Finde die Serie ganz ok. Vorallem.Hab erst jz durchs Lesen gemerkt,dass Gillian Anderson die Mutter gibt gelungende Wandlung. Hab die Serie auf einen Stück durch gesehen. Entwickelt sich gut mit überraschendens offens Ende. Macht Lust auf s2. Ein paar Figuren entwickeln sich gut. 
        • am

          Ich habe bislang nur die Pilotfolge gesehen und fühlte mich sehr gut unterhalten. Einen tieferen Anspruch hätte ich nicht erwartet, ich weiß nicht, warum der Autor dies von einer eher als Komödie angelegten Serie erwartet.

          Anderson hätte ich die Rolle nicht zugetraut, Respekt! Und mal ehrlich, wer hätte Sully erkannt?
          • am

            ich fand die ersten 3 Folgen wirklich gelungen
            • am

              Ich kann "Moonshade" nur zustimmen und finde es extrem unprofessionell, nach nur 2 gesehenen Episoden, eine so ausführliche Rezension abzugeben. 
              Jeder könnte aus dem Stegreif mehrere Serien nennen, die in den ersten zwei Episoden auch nicht so toll wirkten, sich aber dann zu wahren Reißern entwickelten.


              Ich finde die Serie mehr als erfrischend und müsste ich Sie beschreiben, so würde ich sagen : eine Mischung zwischen "Misfits" (GB 2009-2013) und "American Pie" (US 1999) und damit mehr als sehenswert.
              Wenn die Quoten stimmen gibt es ja auch eine Fortsetzung - ich für meinen Teil ,drücke die Daumen !!!
              • am via tvforen.de

                Ich hab die Kritik gelesen und ich denke, da wird von überhöhten Wunschanforderungen ausgegangen.
                SE soll nie wirklich realistisch sein, das legt ja schon die nebulöse Verortung nahe (es ist nicht Amerika, es ist aber auch definitiv nicht britisch, es spielt in einer zeitlichen Mische aus 80ern und Moderne), sondern die Themen leicht und unterhaltsam angehen.

                Die Serie verzichtet - erfreulich - auf bleischwere Realitätsansätze und fast jeglichen Grossouthumor, sondern präsentiert - natürlich - bekannte Archetypen in einer leicht variierten Versuchsanordnung.
                Wer die Reaktionen der Fans liest - die hauptsächlich im Alter der Figuren sind - merkt, wie gut so etwas ankommt, weil niemand idealtypisch gut/böse oder eben trottelig/erfolgreich gezeichnet wird.

                Die Serie will nicht die Welt verändern, aber sie sorgt für eine enorm gute Zeit, egal ob sie künstlich ist oder nicht.
                Die Kritik zielt aus meiner Sicht viel zu hoch über das anvisierte Ziel hinaus.

                Fand sie enorm unterhaltsam und kann sie nur weiterempfehlen - Altbekanntes muss man erst einmal so rund und perfekt modernisieren können, das ist hohe Kunst und kann gern fortgesetzt werden.

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