„Painkiller“: Der größte Drogendeal der Geschichte – Review

Netflix-Miniserie mit Matthew Broderick kriegt das Thema Opioidkrise nur teilweise in den Griff

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 19.08.2023, 19:00 Uhr

Gestatten: Familie Rücksichtslos! Richard Sackler (Matthew Broderick) macht seine Sippe mit Opiumpillen reicht. – Bild: Netflix
Gestatten: Familie Rücksichtslos! Richard Sackler (Matthew Broderick) macht seine Sippe mit Opiumpillen reicht.

Die nordamerikanische Opioidkrise, der bis jetzt weit über 800.000 Menschen zum Opfer gefallen sind, ist noch nicht vorüber. Immerhin hat in den letzten Jahren ein Aufklärungsprozess eingesetzt, der über die Wege der Popkultur auch breitere Bevölkerungsschichten erreicht. Nach der bei uns auf Disney+ abrufbaren Miniserie „Dopesick“ mit Michael Keaton nähert sich nun auch „Painkiller“ dem Thema – ebenfalls auf mehrstimmige Weise und ebenfalls in Miniserienform. Die Netflix-Produktion ist satirischer angelegt, kann dem Vorgänger allerdings wenig Neues hinzufügen.

Glen Kryger (Taylor Kitsch) ist ein sympathischer Jedermann. Er führt eine kleine Autowerkstatt in North Carolina, lebt mit seiner Frau, einer kleinen Tochter und dem Stiefsohn zusammen und lebt das typische US-Provinzleben – hart arbeitend, aber irgendwie glücklich. Bis ein dummer Arbeitsunfall sein Dasein aus der Bahn wirft. Glen muss operiert werden, dann in die Reha, ganz der Alte wird er wohl nie mehr. Vor allem hat er starke Schmerzen, und die bislang verschriebenen Schmerzmittel reichen nicht aus. Da kommt sein Arzt mit einem neuen Medikament an: OxyContin. Das sei viel stärker und man müsse es nur alle zwölf Stunden nehmen. Bedenken? Die habe er nicht. Also nimmt Glen das Zeug fortan, und es hilft. Sehr sogar. Irgendwann möchte Glen es früher nehmen als erst nur nach zwölf Stunden, auch die Dosis lässt er sich schon bald erhöhen. Eines Tages wird er dann sehr nervös, als er seine Pillen mal nicht sofort findet. Steht schließlich sogar nachts auf, wirft hektisch Möbel um, wird jähzornig, panisch. Die Sucht tritt zutage, der Zusammenbruch seines bisherigen Lebens und auch des Lebens seiner Familie hat schon begonnen.

Steht hier noch kurz vor dem Desaster: Autoschrauber Glen Kryger (Taylor Kitsch) mit Familie. Netflix

An der fiktiven Figur Glen Kryger spielt die sechsteilige Miniserie „Painkiller“ exemplarisch das durch, was Hunderttausenden von Menschen seit den späten Neunzigerjahren widerfahren ist. Was sie alle nicht wussten: OxyContin macht hochgradig süchtig, das Opioid mit der anderthalbfachen Wirkung von Morphium ist „im Grunde nichts anderes als Heroin“, wie es einmal heißt. Mit den Menschen passierte folglich das, was normalerweise mit allen passiert, die nach gefährlichen Substanzen süchtig sind: Entzugserscheinungen, Folgeerkrankungen, dazu der Anstieg von Beschaffungskriminalität und gestiegene Suizidraten. Bilanzieren kann man diesen desaströsen gesundheitlichen Notstand vor allem in den USA (mehr als 80 Prozent aller Opioid-Schmerzmittel werden dort verschrieben). Die Folgen sind längst nicht überwunden, während der Coronazeit haben sie sich eher noch verstärkt.

Die Aufarbeitung hat dagegen längst begonnen. Letztes Jahr etwa gewann der Kino-Dokumentarfilm „All the Beauty and the Bloodshed“ in Venedig den Goldenen Löwen. Darin berichtet die Künstlerin Nan Goldin von ihrer Sucht und ihrem Aktivismus gegen die Pharma-Familie Sackler, die sich lange darum bemüht hatte, unerkannt im Hintergrund ihre Kohle einzusammeln – inzwischen aber längst als hauptverantwortlich für die Opioidkrise gilt und als milliardenschwere „Bande von Drogendealern“ bezeichnet wird. Die Sacklers hatten das Opioid-Schmerzmittel OxyContin Mitte der Neunzigerjahre auf den Markt gebracht, nach Bestechung offizieller Stellen und Pro-Forma-Testläufen mit ungeeigneten Patientengruppen. Die Suchtgefahr liege bei höchstens einem Prozent, hieß es damals offiziell – ein schlechter Witz natürlich, der zahllose Menschen das Leben kosten würde.

„Painkiller“ erzählt denn auch keineswegs nur von Glen Krygers Schicksal. Allerdings ist der Handlungsstrang mit ihm der eindeutig beste, weil er sich zwar stereotyp, aber doch sehr ergreifend um die Auswirkungen dieser Katastrophe bemüht: im Kleinen, beim einzelnen Patienten und seinem Umfeld. Die anderen Plot-Linien, die sich ebenfalls über alle sechs Episoden ziehen und zwischen denen beständig hin- und hergeswitcht wird, können das nicht immer von sich behaupten – zumal sie denen aus „Dopesick“ (der Emmy- und Golden-Globe-gekrönten Miniserie von 2021) teils durchaus ähneln. Wiederum geht es also neben denen, die süchtig werden, auch um diejenigen, die die Droge vertreiben helfen, um jene, die sie ohne Not verschreiben, um jene, die gegen die Verantwortlichen ermitteln und auch um die Familie Sackler selbst.

Verticken Pillen: Shannon (West Duchovny, l.) und Britt (Dina Shihabi) sind die blonden Eisvögel im Außendienst. Netflix

Gerade der Sackler-Plot wirkt in „Painkiller“ befremdlich. Im Mittelpunkt steht der Arzt und Milliardär Richard Sackler, Chef der familieneigenen Pharmafirma Purdue, der OxyContin als kalkulierten Gewinnbringer entwickeln und auf den Markt bringen lässt. In „Dopesick“ wurde Richard Sackler von Michael Stuhlbarg als düsterer Strippenzieher gespielt, „Ferris macht blau“-Star Matthew Broderick legt ihn nun ganz anders an: als leicht autistisch wirkenden Sonderling und Einzelgänger, der seine ebenso bahnbrechenden wie gemeingefährlichen Ideen im Stillen entwickelt, dann aber bei der Durchsetzung seiner Vorhaben an der Seite seines Onkels Mortimer (John Rothman aus „One Mississippi“) die Attitüde eines Gangsterbosses an den Tag legt. Am Ende (das hier am Anfang steht) tappt der Mann, der für das Elend so vieler Menschen verantwortlich ist und für niemand anderen so viel Empathie aufzubringen vermag wie für seinen Hund, als Greis im Seidenpyjama (und mit erkennbar angeklebter Glatze) durch seine menschenleere Villa, umhergescheucht vom Piepen eines Feuermelders. Zur Seite steht ihm in allen Episoden ein tatsächlicher Geist: Arthur Sackler, der legendäre Gründer des Familienunternehmens, ein Charmeur und Menschenfänger, der die Pharmaindustrie einst via Marketing revolutionierte und am Beispiel von Valium das fertigbrachte, was seither Branchengrundlage ist: eine Nachfrage nach bestimmten Medikamenten herzustellen. „Agents of S.H.I.E.L.D.“-Star Clark Gregg spielt die gespenstische Mentorenfigur angemessen charismatisch.

Dennoch: Inszeniert werden Aufstieg und Fall der Familie Sackler, die sich so gern als Philanthropen, Wohltäter und Kunstsponsoren betätigten, stark karikaturesk, ganz so, als wolle das kinofilmerprobte Autoren-Duo Micah Fitzerman-Blue und Noah Harpster („Maleficent 2“) bekannteren Politsatiren der letzten Jahre nacheifern, etwa „The Big Short“ über die Finanzkrise von 2008. Dazu passt auch der Handlungsstrang um die Collegestudentin Shannon Schaeffer (West Duchovny), die es aus Geldnot ins Außendienst-Team von Purdue verschlägt. Gegroomt, trainiert und harsch angetrieben von der eiskalten Teamleiterin Britt Hufford (Dina Shihabi aus „Jack Ryan“ und „Altered Carbon“), mausert sie sich rasch zur Meisterin darin, der mal arglosen, mal eigennützigen Ärzteschaft das neue Medikament unterzujubeln – ehe sich in den späteren Folgen Zweifel in ihr regen. Wie Glen Kryger ist Shannon Schaeffer keine real existierende, sondern eine fiktionalisierte Figur. An ihr wird beispielhaft (und leider auch sehr vorhersehbar) durchgespielt, wie die Menschen ticken mussten, die dabei halfen, das Mittel so weitflächig zu vertreiben.

Peter Berg, Regisseur aller sechs Episoden und bekannt als Mastermind hinter „Friday Night Lights“ (wo er bereits mit Taylor Kitsch zusammenarbeitete), scheint beim Inszenieren der schrill-cartoonesken Sackler- und Schaeffer-Plotlines in einem völlig anderen Arbeitsmodus gesteckt zu haben als bei der Arbeit an den anderen Handlungsebenen: Unterlegt mit Popmusik und Rap folgen Partyszenen auf skurrile Gangstertreffen, rabiate Dialoge auf schamlose Übertreibungen. Fiktive und historische Figuren werden dabei munter gemischt – „in echt“ gab es etwa den Arzt Curtis Wright (hier gespielt von Mit-Autor Harpster), der als Mitarbeiter der Arzneimittelbehörde FDA erst die Zulassung von OxyContin blockierte, dann von Purdue kurzerhand angeworben wurde und lukrativ die Seiten wechselte. Ein absurdes Schelmenstück. Der Parforceritt durch die diversen Spielarten von Gier und Rücksichtslosigkeit, bei dem das omnipräsente lila Stofftier-Logo des beworbenen painkiller zur veritablen Horrorfratze mutiert, ist sicher unterhaltsam, sorgt aber in seiner Grellheit nicht immer für einen allzu hohen Erkenntnisgewinn, denn die selektiven Beimischungen à la „The Big Short“ oder „The Wolf of Wall Street“ beißen sich zu oft mit dem in aller Ernsthaftigkeit gezeigten Glen-Kryger-Schicksal. Und auch mit dem eigentlichen Kern der Story.

Sie entdeckt, ermittelt und berät: Anwältin Edie Flowers (Uzo Aduba, 3. v. l.) bekämpft die Sacklers. Netflix

Der findet sich nämlich bei der (fiktiven) Anwältin Edie Flowers, kompetent und engagiert gespielt von Uzo Aduba („Orange is the New Black“, „In Treatment“). Als Ermittlerin der Staatsanwaltschaft in Sachen Abrechnungsbetrug wird sie eingangs nur zufällig aufmerksam auf das neue Medikament, bald geht sie heftig dagegen an, ehe sie schließlich, in der Rahmenhandlung des Sechsteilers, ein juristisches Team berät, das den Sacklers persönlich an den Kragen will. Diese „Beratung“ präsentiert sich als ausführliches Nacherzählen der gesamten Vor- und Hauptgeschichte der Opioidkrise – in einem andauernden Voiceover, das sich streckenweise so anhört, als habe Aduba da die betreffenden Wikipedia-Artikel vortragen müssen. Immer wieder gerät die Serie damit an den Rand bleiernen Erklär- und Bildungsfernsehens – wobei sie inhaltlich keine neuen Aspekte auf den Tisch legt. (Als Grundlage des Drehbuchs dienten das Buch Pain Killer von Barry Meier und ein Artikel aus dem New Yorker.)

Womöglich hätte einer der beiden von den Machern gewählten Zugänge der Serie am Ende mehr Ertrag gebracht. Im Vergleich zum düsteren „Dopesick“ (von manchen als überambitioniert und inhaltlich überladen kritisiert) bietet „Painkiller“ mehr Entertainment, bleibt aber zwischen den Stühlen hängen: Buntscheckige Karikatur trifft auf ernstes Engagement. Zu Letzterem gehören auch die Angehörigen von Opfern, die jede einzelne Folge mit einem Disclaimer einleiten, den sie frontal in die Kamera sprechen: Das Folgende sei zwar eine fiktionalisierte Bearbeitung des Geschehens, einige Dinge seien aber sehr real. Ihre toten Kinder beispielsweise. Das sind Wirkungstreffer, die jeder sich anschließenden Episode zunächst eine gewisse Wucht verleihen. Diesen Punch aber entwickelt diese tonal so unausgeglichene Serie ansonsten zu selten.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten Miniserie „Painkiller“.

Meine Wertung: 3/​5

Die sechsteilige Miniserie „Painkiller“ steht seit dem 10. August bei Netflix zum Abruf bereit.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am

    Opioide wieder besseres Wissens zu verharmlosen und dann mit optimierter Marketingstrategie unter die Leute zu bringen, hat vielen das Leben versaut.

    Gut dass es Serien wie Painkiller und Dopesick gibt, die diesen Mechanismus aufzeigen.

    Die bereits initiierte Krise wird gesteigert durch den Schmuggel von Fentanyl durch die organisierte Kriminalität.

    Da in den USA jedoch gerade Wahlen am Anlaufen sind, erfolgt von Trump-Anhängern gerne die pauschaliserte Schuldzuweisung in Richtung Flüchtlinge.

    Dieses Narrativ schützt nur die Kriminellen, weil es den Blick auf die eigentlichen Drahtzieher vernebelt.
    • (geb. 1987) am

      Ich weiß nicht ob hier unabsichtlich eine gepimpte Wahrheit erzählt wird, oder ob man aus politischen Gründen die Hälfte, wenn nicht sogar 90%, verschweigt.
      Ja, es gab Ärzte, die das starke Schmerzmittel, dass man auch in Deutschland bekommt und das sehr vielen Menschen hilft, viel zu fahrlässig verschrieben haben und natürlich, wie bei allen Schmerzmitteln oder Medikamenten, die man als Drogen missbrauchen kann, gab es schwache Menschen, die das auch taten.
      ABER: Die Opiodkrise in den USA auf Standardfeind Pharmaindustrie und das Oxycodon zu schieben, soll davon ablenken, dass es eigentlich um Fentanyl geht, welches das Oxycodon ersetzte, das im kommunistischen China und von mexikanischen Kartellen hergestellt und mit den Flüchtlingen über die Südgrenze in die USA gebracht wird.
      Also nochmal, damit das klar ist: Für die Bekämpfung dieser Krise hilft es nicht, dass man Pharmafirmen, Apotheken oder Ärzte aus den 90ern verfolgt, sondern dass man die Grenze zu Mexiko abschotten MUSS, um Leben zu retten!
      Da aber Wahlkampf in den USA ist und einige von "Build the wall" ablenken wollen, wird man eben nur die Hälfte der Wahrheit hören - wenn nicht eben gerade mal 10%...
      Wer sich tatsächlich für die hundertausende Toten in den USA interessiert, sollte besser den Wikipedia-Artikel über die "Opioidkrise in den USA" lesen, als dem abgelutschten Narrativ zu glauben, man müsse nur den "abggrundtief bösen, schnurrbartzwirbelnden und hämisch lachenden reichen, weißen Pharmabossen" auf die Füße zu treten.

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