„Dark“: Erste deutsche Netflix-Serie sucht das Grauen in der Provinz – Review

Internationale Mysterytropen verknüpft mit typisch deutschen Themen

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 30.11.2017, 13:44 Uhr

Louis Hofmann als Jonas Kahnwald – Bild: Netflix/Julia Terjung
Louis Hofmann als Jonas Kahnwald

Unterhalten sich zwei Jugendliche, die sich nachts zufällig während eines apokalyptisch wirkenden Unwetters an einer einsamen Bushaltestelle an der Landstraße zum (fiktiven) Städtchen Winden treffen: „Was würdest du dir wünschen, wenn alles neu anfangen würde?“ – „Eine Welt ohne Winden.“ – „Auf eine Welt ohne Winden!“ Es ist ein Moment des Verstehens zwischen zwei jungen Menschen, die sich nicht besonders gut kennen, die unterschiedlich alt sind, einem rebellischen Jungen und einem eher braven Mädchen. Aber sie teilen den Hass auf diesen kleinen Ort, in dem sie aufwachsen müssen, dieser beschränkten Welt, in der jeder jeden kennt und aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint, bis man endlich erwachsen ist und die Schule hinter sich hat. Das ist ein Gefühl, das viele Jugendliche teilen, die irgendwo in der Provinz aufwachsen und von der weiten Welt träumen. Ungewöhnlich sind allerdings die äußeren Umstände, denn nicht überall auf der Welt gibt es bei solchen Gewittern Vögel, die massenhaft tot vom Himmel fallen.

Winden ist in der ersten deutschen Netflix-Produktion „Dark“ ein Ort, der zwar einerseits prototypisch für die deutsche Provinz steht, mit seiner Lage am Rande eines dunklen Waldes und dem alles überragenden Atomkraftwerk. Andererseits ist es aber auch ein Ort, der viele Geheimnisse zu bergen scheint, in dem schon seit Jahrzehnten immer mal wieder merkwürdige, bedrohliche Dinge geschehen. Jetzt scheint es wieder so weit zu sein, denn vor einigen Tagen ist ein kleiner Junge verschwunden. Das reißt bei den Bewohnern der Stadt alte Wunden wieder auf, denn vor 33 Jahren ist so etwas schon einmal passiert: 1986 verschwand der kleine Mads, Bruder von Ulrich Nielsen (Oliver Masucci), der heute als Kriminalbeamter auf der örtlichen Polizeiwache arbeitet und mit der Schuldirektorin Katharina (Jördis Triebel) verheiratet ist. Der Junge wurde bis heute nicht gefunden. Während Ulrich und seine Kollegen im aktuellen Fall ermitteln und die Eltern der Stadt auf einer Schulversammlung ihrer Angst Ausdruck verleihen, ein Kindsentführer und eventuell -mörder könne in ihrer Gemeinde umgehen, irren einige der Schüler nachts mit Taschenlampen durch den Wald. Das erinnert an Klassiker wie „Fünf Freunde“, vor allem aber an den internationalen Netflix-Erfolg „Stranger Things“. Es wird nicht das einzige Déjà-Vu in Bezug auf die 1980er-Retro-Mysteryserie bleiben.

Der Kriminalbeamte Ulrich Nielsen (Oliver Masucci) mit seiner Ehefrau Katharina (Jördis Triebel)

Am Eingang einer geheimnisvoll wirkenden Höhle geht schließlich auch noch Mikkel (Daan Lennard Liebrenz) verloren, der jüngste Sohn von Ulrich und Katharina Nielsen. Hatte die Polizei zuvor bei ihrer Suche im Wald nur eine leere Raider-Verpackung gefunden – ein erster verstörender Hinweis darauf, dass längst vergangene Zeiten bei der Lösung des Falls eine wichtige Rolle spielen könnten -, stößt sie am Ende der Auftaktfolge auf die Leiche eines Jungen. Nur: Es kann keiner der beiden jüngst Vermissten sein, da er offensichtlich schon länger tot ist.Es dauert eine Weile, bis man halbwegs verstanden hat, wer in „Dark“ wer ist, wie die komplexen Verwandtschafts- und Liebesbeziehungen der zahlreichen Protagonisten geknüpft sind. An der Stelle, wo man denkt, diese grob durchschaut zu haben, macht die Serie plötzlich einen gewagten Zeitsprung ins Jahr 1986, in dem wir die jüngeren Versionen vieler Figuren kennenlernen. So etwas muss man sich erst einmal trauen, bereits in der dritten Folge einer neuen Serie das gerade erst eingeführte Ensemble bis auf einen Darsteller komplett auf die Ersatzbank zu schicken und durch jüngere (und meist unbekanntere) Schauspieler in den gleichen Rollen zu ersetzen. Und es wird wohl nicht der einzige solche Wechsel bleiben, tauchen doch in der Besetzungsliste im Internet auch Rollen mit dem Namenszusatz 1953 auf. Zunächst nutzt „Dark“ aber das schon etwas abgenutzte 80er-Jahre-Sujet auf gelungene Weise, indem diesmal typisch deutsche Merkmale dieser Epoche auftauchen. Neben einem Werbespot für den schon erwähnten Schokoriegel ist das der vielleicht zweitbekannteste Nena-Song „Irgendwie, irgendwo, irgendwann“, dessen Text in diesem Kontext eine ganz neue Bedeutung bekommt.

Der Schweizer Regisseur Baran bo Odar fiel 2010 zum ersten Mal durch sein atmosphärisches Thrillerdrama „Das letzte Schweigen“ mit Ulrich Thomsen auf, in dem es auch schon um vermisste Jungen ging. Schon damals konnte man in dem dichten Inszenierungsstil ein großes Talent für Bilder und Stimmungen erkennen. 2014 hatte Odar dann zusammen mit seiner Ko-Autorin Jantje Friese seinen bisher größten Erfolg mit dem Hackerthriller „Who Am I – Kein System ist sicher“ mit Elyas M’Barek. Nun zeichenen beide als AutorInnen und ausführende ProduzentInnen dieser ersten deutschen Netflix-Serie verantwortlich, die neben „Babylon Berlin“ zu den größten Prestigeprojekten des heimischen Serienjahrs gehört. Und die Erwartungen werden befriedigt: „Dark“ ist von Beginn an sehr spannend, unheimlich, mit atmosphärischen Bildern und einer dräuenden, ungewöhnlich stark in den Vordergrund gemischten Filmmusik von Ben Frost („Fortitude – Ein Ort wie kein anderer“). Dazu kommt ein hervorragendes Ensemble deutscher SchauspielerInnen, die man teilweise viel zu selten in Serien sieht: Neben Jördis Triebel (der Streifenpolizistin aus „KDD – Kriminaldauerdienst“) etwa auch Karoline Eichhorn als spröde Kriminalbeamtin und in einer Nebenrolle mit Angela Winkler eine der renommiertesten Darstellerinnen des Neuen Deutschen Films der 1970er Jahre, bekannt geworden als Katharina Blum. Vor allem ist aber Odar, der die Folgen selbst inszeniert hat, seinem Regiestil treu geblieben. So gibt es immer wieder Momente, die an „Das letzte Schweigen“ erinnern.

Im Örtchen Winden gehen seltsame Dinge vor sich

Handwerklich und schauspielerisch kann „Dark“ locker mit internationalen Serienproduktionen mithalten, bedient zugleich aber typisch deutsche Themen: von der Bedrohlichkeit des Waldes schöpfte bereits „Weinberg“, die Miniserie von TNT Serie, das AKW, das die Kleinstadt Winden nicht nur optisch dominiert, scheint nicht so sicher, wie dessen Betreiber nicht müde werden zu betonen, und die zweite Handlungszeit ist nicht zufällig kurz nach Tschernobyl angesiedelt, als gerade auch in Deutschland die Angst vor der atomaren Verstrahlung umging. Ob „Dark“ ein ganz großer Wurf wird, hängt wie bei jeder Mysteryserie vor allem davon ab, wie glaubwürdig die Autoren in den weiteren Folgen die Handlung weiterentwickeln (und schließlich irgendwann auflösen) werden. Die ersten Folgen sind aber schon einmal sehr vielversprechend.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten drei Episoden der Serie „Dark“.

Meine Wertung: 4/​5


Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: Netflix


Die zehnteilige Mystery-Serie „Dark“ ist bei Netflix weltweit ab Freitag, den 1. Dezember, um 9:01 Uhr (MEZ) zu sehen. Unser Redakteur Ralf Döbele führte im Rahmen der Europapremiere in Berlin Interviews mit den jungen Hauptdarstellern Louis Hofmann, Lisa Vicari („Luna“), mit den „verfeindeten Freundinnen“ Jördis Triebel und Maja Schöne („Tatort“) sowie den Showrunnern Baran bo Odar und Jantje Friese -> Zu den Interviews

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1960) am

    Am überzeugendsten ist es in der Serie gelungen, die bleierne Schwere des deutschen Autorenfilms der 80er durch den Zeitkanal zu schleusen: Menschen scheitern, wenn sie in Beziehung miteinander geraten...
    Zugegeben, eine engagiert gemachte Erzählung; aber schon 'Die Hamburger Krankheit' von 1980 hatte mehr Biss.
    Regen als dramaturgisches Mittel mag ja ok sein, aber Deutschland wirkt hier fast wie eine Monsunregion.
    Die ausufernde Zahl an Charaktären(?) läßt vermuten, dass die Story auf etliche Staffeln aufgeblasen werden soll.
    Die schon zu früh offen gelegte Verbindung zum deutschesten aller Horte des Bösen, einem Atomkraftwerk, banalisiert die Bedrohung, denn die Gefahren der der Nukleartechnik werden durch deren Mystifizierung fast ins Lächerliche gezogen.
    Und dann dieser angedeutete 'verückte Professor', der mit seinen Experimenten noch hinter dem guten alten Dr Mabuse zurück bleibt...
    Ob ich noch mehr als die beiden ersten Folgen schaue ist unsicher.
    Aber vielleicht bin ich auch nur geschädigt, weil die Hype im Vorfeld völlig überdreht ist...
    • (geb. 1967) am

      Versteh ich auch garnicht, genausu ueberbewertet haben die Serie auch die Kollegen von Quotenmeter ( geben sogar volle 100 % !!!! ) und die Kollegen der Serienjunkies!!

      Kurioserweise habe ich, wenn Medien - Seiten beispielweise Serien so derart "hoch" bewerten, fast nie Beduerfnis, das Ding zu Sehen!

      Und, wenn die User hier schon Schreiben, das die Serie sehr zeah ist, dann erst Recht NULL!
      • am

        Ich bereue es eigentlich schon jetzt meine Zeit mit der 1. Staffel verschwendet zu haben. Das wird genauso laufen wie bei Lost. Immer mehr Rätsel die nie aufgelöst werden, weil sie sich schlicht nicht mehr auflösen lassen. Am Ende kommt dann irgend so ein Schwachsinn bei dem alle in ein helles Licht laufen ... zack Ende ... Gott steckt hinter allem. Sowas oder ähnlicher Schwachsinn. Ich kann eigentlich nur jeden warnen seine Zeit mit diese Serie zu verschwenden, außer es ist einem egal ob es jemals ein logisches oder zumindest halbwegs glaubwürdiges Ende geben wird.
        • am via tvforen.de

          Sehr zäh....sehr sehr zäh, zumindest Anfangs! Ich wollte der Serie aber eine Chance geben was wirklich nicht leicht ist. Ab Folge 3. konnte ich mich einigermaßen damit anfreunden....begeistert bin ich dennoch nicht.

          Der richtig beschissene Ton nervt gewaltig, Atmo Geräusche und Sound /Musik Effekte liegen über den Dialogen die Teilweise wirken, als würden die Protagonisten in ein Kissen sprechen, ganz übel.

          Bin jetzt bei Folge 5. und die "Vorschuss Lorbeeren" die durch die Medien gehen, sind meines Erachtens nichts weiter als ein Etikettenschwindel.

          Trotz Netflix Original , bleibt es doch eine Deutsche Serie die Krampfhaft versucht mit dem was mittlerweile Internationaler Standard ist mitzuhalten, leider will das nicht recht gelingen...schade!
          • (geb. 1960) am

            Na bin jetzt auch bei Teil3 aber 4 von 5 Punkten...schon etwas überbewertet. War was zum Essen holen, nebenbei Musikmagazin gelesen nebenbei Fenster verkleinert und gesurft aber viel verpasst scheine ich nicht zu haben.
            Wenn ich da an Stranger Things denke wo ich bis 4 Uhr früh durchgeguckt habe.

            Na ja klingt nach "geschmierter" Kritik. Muss Sentinel recht geben.
            • (geb. 1967) am

              Hallo Liebe Serien Fans: falls es Euch interessieren sollte, wie die 3 bekanntesten, deutschen Medien - Online Seiten ueber "Dark" "Reden", dann vergleicht doch mal die Kritiken....die ALLE kurioserweise fast im gleichen Tenor sooooo stark positiv kritisieren....hier, bei den Serienjunkies und Quotenmeter!
              • am via tvforen.de

                Entschuldigung, aber könntet ihr im Fall von Überlappungen wie die Interviews mit den Darstellern nicht alles in einen Thread packen? Das wäre übersichtlicher und "Normaluser" könnten auch hier mehr posten? Dankeschön. :)

                Gruß,
                Wicket

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