The Night Of – Review

Gut inszenierte Qualitätsserie für Cineasten – von Marcus Kirzynowski

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 25.07.2016, 13:30 Uhr

Klient (Riz Ahmed; l.) und Anwalt (John Turturro) in „The Night Of“

Eigentlich wollte sich Nasir „Naz“ Khan nur einen schönen Abend machen. Mit dem von seinem Vater ausgeliehenen Taxi fährt der pakistanischstämmige, aber in New York geborene und aufgewachsene Student von Queens nach Manhattan, wo er auf eine Party gehen will. Zum Verhängnis wird ihm, dass er auf dem Weg eine junge Frau mitnimmt. Statt einer unbeschwerten Nacht folgt für den jungen Mann ein Albtraum, als er zum Hauptverdächtigen an deren Ermordung wird.

Es war eine selbst für die bei Fernsehserien üblichen langen Entwicklungszeiten schwere Geburt, bis „The Night Of“ bei HBO tatsächlich auf Sendung gehen konnte. Bereits 2012 hatte der US-Bezahlsender zum ersten Mal eine Pilotfolge für das Projekt bestellt, das eine Adaption der britischen Serie „Criminal Justice“ darstellt. Damals war „Tony Soprano“ James Gandolfini als Hauptdarsteller des Rechtsanwalts vorgesehen, der den Mordverdächtigen unter seine Fittiche nimmt. Als der „Sopranos“-Star 2013 überraschend verstarb, sollte zunächst Robert de Niro die Rolle übernehmen, schließlich wurde es mit John Turturro, den man eher aus Kino-Nebenrollen kennt, doch eine Nummer kleiner.

Das Original „Criminal Justice“, geschrieben vom Theater- und Fernsehautor Peter Moffat („The Village“), war ein Anthologieformat: Ähnlich wie in „True Detective“ oder „Fargo“ behandelte es in jeder Staffel – es gab allerdings nur zwei – einen abgeschlossenen Kriminalfall, bei dem jeweils ein Individuum zwischen die Mühlen des Justizsystems geriet. Die HBO-Adaption übernimmt nun weitgehend den Plot der ersten Staffel von 2008, verlegt die Handlung aber in den Big Apple und macht aus dem damals von Ben Whishaw gespielten Angeklagten einen Muslim mit Migrationshintergrund.

Der Ärger für diesen naiven Studenten beginnt, als er während seiner Fahrt durchs nächtliche Manhattan bemerkt, dass das Taxilicht auf seinem Autodach eingeschaltet ist. Da er den Ausschalter nicht findet, muss er mehrere Menschen abwimmeln, die mitfahren wollen. Als jedoch eine attraktive, junge Frau einsteigt, wird Naz schwach und lässt sich überreden, sie mitzunehmen. Sie will eigentlich an den Strand, aber Naz kann sie überzeugen, dass das Ufer des Hudson es auch tut. Die sich geheimnisvoll gebende Frau namens Andrea (Sofia Black-D’Elia) bringt ihren Fahrer erst dazu, ganz gegen seine Gewohnheit Ecstasy mit ihr zu nehmen und sie dann in ihre Wohnung in der schicken Upper West Side zu begleiten. Dort beginnt sie, mit einem scharfen Küchenmesser herumzuspielen und überredet Naz, es zwischen ihre auf dem Tisch gespreizten Finger zu stechen – was auch prompt schiefgeht. Das bisschen Blut hält die beiden aber nicht davon ab, miteinander zu schlafen.

Ausschnitt aus dem Poster zu „The Night Of“
Am nächsten Morgen kann sich Naz an Nichts erinnern, was danach passiert ist, findet zu seinem Entsetzen seine Liebhaberin aber tot, mit Wunden übersät und blutübertrömt in ihrem Bett. In Panik flieht er aus der Wohnung, macht dabei aber noch eine Reihe dummer Fehler, die später gegen ihn verwendet werden können. So steckt er etwa das Messer ein und lockt durch Lärm auch noch einen Nachbarn ans Fenster, der die Polizei ruft. Während Naz versucht, mit dem Taxi wieder nach Hause ins vermeintlich sichere Queens zu kommen, wird er wegen falschen Abbiegens von einem Streifenwagen angehalten. Das Schicksal nimmt seinen Lauf, als die Polizisten – mit Naz auf der Rückbank – ausgerechnet zu Andreas Haus geschickt werden, um dem Anruf des Nachbarn nachzugehen …

Das Bemerkenswerte an der 78-minütigen Auftaktfolge der achtteiligen Miniserie ist, dass die erste Folge immer interessant bleibt, obwohl im Grunde nichts passiert, das man nicht schon in zahlreichen anderen Serien und Filmen gesehen hätte: ein naiver (und mutmaßlich unschuldiger) Protagonist, der durch eine Verkettung unglücklicher Umstände zum Verdächtigen eines schweren Verbrechens wird, die Arbeit der Polizei, von den Streifenbeamten, die das Opfer finden, über die Spurensicherung bis zum am Tatort eintreffenden Chefermittler. Das Warten auf der Wache, das erste Verhör, schließlich das Eintreffen des Anwalts (Turturro hat seinen ersten Auftritt erst zehn Minuten vor Schluss). Okay, dieser John Stone, ein heruntergekommener Typ, der wegen eines Hautausschlags an den Füßen Sandalen ohne Socken trägt, wird nicht gerufen, sondern auf den festgenommenen Naz aufmerksam, als er nachts auf dem Polizeirevier herumstreunt – gut zu laufen scheint es für ihn beruflich nicht gerade. Was einen beim Zuschauen am Ball hält, ist die Art, wie diese wohlbekannten Vorgänge inszeniert werden (Regie: Steven Zaillian): detailliert, extrem langsam und mit einem realistischen Look, so wie man es etwa auch aus den HBO-Serien von David Simon kennt, allen voran natürlich „The Wire“. Zu diesem epischen Roman in Serienform gibt es einige personelle Parallelen: Krimibestseller-Autor Richard Price gehörte dort zum Drehbuchteam und ist hier der Hauptautor. In Nebenrollen sind liebgewonnene Gesichter aus „The Wire“ zu sehen: J.D. Williams alias „Bodie“ spielt in Folge 1 einen Zeugen, später wird auch noch Michael K. Williams alias „Omar“ auftauchen. Vor allem ist die Verwandtschaft zwischen den beiden Serien aber eine geistige, in der Sorgfalt und Genauigkeit des Erzählens begründete.

Riz Ahmed überzeugt mit großen, ungläubig blickenden Augen in der eigentlichen Hauptrolle des naiven Studenten, John Turturro („Barton Fink“, „The Big Lebowski“) hat sicher die schauspielerische Größe, die Rolle des etwas schmierigen, verschlagenen Anwalts auszufüllen, und auch Bill Camp („12 Years a Slave“, „Boardwalk Empire“) sieht man gerne zu, wie er als Chefermittler Dennis Box freundlich, aber fokussiert seiner Arbeit nachgeht. Weitestgehend unklar ist auch nach der zweiten Episode noch, wer die anderen Verdächtigen sein sollen, denn dass Naz nicht der einzige bleiben kann, ist eigentlich klar. Die Frage nach dem Täter steht aber bei dieser Geschichte ohnehin nicht im Fokus. Stattdessen wird sie wohl zeigen, was einem als bislang unbescholtenem Normalbürger passiert, wenn man „vom Wege abkommt“ und in die Fänge eines übermächtig erscheinenden Staatsapparats gerät. Wie diese nicht gerade originelle Story erzählt und in Szene gesetzt wird, ist Qualitätsfernsehen im besten Sinne, wie man es von HBO-Miniserien gewohnt ist: sicher nichts, was eine breite Zuschauerschaft begeistern wird, aber eine Produktion, die doch viele treue Anhänger des Senders in Verzückung versetzen wird.

Dieser Text basiert auf Sichtung der ersten beiden Episoden der Minniserie.

Meine Wertung: 3,5/​5

Marcus Kirzynowski
© Alle Bilder: HBO




Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

    weitere Meldungen