„Liebes Kind“ auf Netflix: Thriller startet mit vermeintlichem Happy End – Review

Miniserie nach Romy Hausmanns Bestseller hat internationales Format

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 06.09.2023, 17:30 Uhr

In „Liebes Kind“ leiden (v. l.) Mama (Kim Riedle), Jonathan (Sammy Schrein) und Hannah (Naila Schuberth). – Bild: Courtesy of Netflix
In „Liebes Kind“ leiden (v. l.) Mama (Kim Riedle), Jonathan (Sammy Schrein) und Hannah (Naila Schuberth).

Unzählige Krimis zeigen, wie Psychopathen hilflose Frauen oder Kinder entführen und anschließend quälen. Nach der Befreiung ist nicht mehr viel zu sehen. Hingegen springt „Liebes Kind“ sofort zum vermeintlichen Happy End. Ein Opfer (Kim Riedle) entkommt zusammen mit dem zwölfjährigen Mädchen Hannah (Naila Schuberth, „Gefährliche Nähe“): Zum Abschluss ihrer Gefangenschaft hat Mama den fiesen Papa mit einer Schneekugel umgehauen. Allerdings wurde ein Junge namens Jonathan (Sammy Schrein, „German Crime Story“) zurückgelassen, der nun verdursten könnte. Das Publikum erlebt den wachsenden Schrecken auf Netflix – in der sechsteiligen Miniserie aus Deutschland. Romy Hausmann hat die aufwühlenden Wendungen in ihrem Bestseller vorgezeichnet. Das Team von Isabel Kleefeld, Friederich Oetker („Die Wannseekonferenz“) und Tom Spiess („Der Vorname“) verwandelt den Roman in eine eigene Welt – mit beeindruckenden Figuren und Ereignissen.

Papa ruft zum Appell …

Ein Mann zählt seine Schritte auf einem staubigen und steinigen Platz. In einem ungemütlichen Zimmer spielt eine Mutter mit ihrer Tochter und ihrem Sohn. Die Kinder rennen von Wand zu Wand. Dabei ruft die blondierte Frau einen Buchstaben, mit dem die Kinder ein schwieriges Wort bilden. Das Mädchen erklärt sogar den Begriff, wie im Lexikon. Der Spaß ist bald vorbei. Mit freudiger Stimme und ängstlichem Unterton verkündet Hannah den hohen Besuch: Papa!. Die Gruppe tritt zum Appell an. Für die Zuschauerinnen und Zuschauer ist der Kerl nicht zu erkennen, der die Räume aufschließt. Er kontrolliert die Hände des Mädchens und des Jungen. Sehr schön, ihr beide – mit diesem Lob streicht der Typ den Kindern über den Kopf und gibt ihnen je einen Energieriegel.

Jonathans (Sammy Schrein) geliebte Schneekugel wird das Leben verändern.Courtesy of Netflix

Gefangene flieht im Nachthemd

Danke Papa!: Hannah und Jonathan mampfen den Leckerbissen auf dem Boden vor einem Heizofen. Sie beobachten, wie Mama vor ihrem Gebieter strammsteht. Er rügt: Du weißt doch, dass du nicht vor den Kindern weinen sollst, Lena. Etwas später läuft die gepeinigte Frau im Nachthemd durch den Wald. Für Papa ist etwas Unerwartetes geschehen. Auf der Straße erwischt ein Auto die bisherige Insassin des isolierten Hauses. Begleiterin Hannah irritiert die Besatzung vom Rettungswagen.

Polizistin Ines Reisig (Seraphina Maria Schweiger) berichtet am Telefon über die Fahrerflucht. Langsam erkennen sie und ihre Vorgesetzte Aida Kurt (Haley Louise Jones, „Einstein“) einige Details. Das Unfallopfer ist mit zwei Kindern gefangen gehalten worden. Die drei Bewohner der unbekannten Unterkunft haben nach Stundenplan und nach Regeln gelebt. Der Wächter hat etwa Essen, Toilettengänge und Schlafenszeiten festgelegt. Zusammen mit ihrer Mama haben Hannah und Jonathan gehorcht.

Albtraum nimmt Fahrt auf

Über die weiteren Vorgänge liefern die beiden Ausbrecher spärliche Informationen. Hannah spricht und handelt intelligent, aber teilnahmslos. Das Mädchen wirkt wunderlich. Gerd Brühling (Hans Löw) arbeitet beim Landeskriminalamt LKA in Nordrhein-Westfalen. Er recherchiert aus persönlichen Gründen. Zudem informiert er Karin (Julika Jenkins) und Matthias Beck (Justus von Dohnányi, „Breaking Even“), deren Tochter Lena vor 13 Jahren verschwand. Im Krankenhaus entgleisen die Gesichtszüge von Schwester Ruth (Birge Schade), als Hannah ein lautes Geräusch kommentiert: So hört es sich an, wenn man jemandem auf den Schädel haut.

Die erfahrene und einfühlsame Pflegekraft findet einen Draht zum Kind. So begreift sie langsam die Zustände, wenn Hannah über ihr Zuhause sagt: Man braucht keine Freunde, wenn man eine glückliche Familie ist. Schwester Ruth erschrickt, dass ein kleiner Bruder im Versteck zurückgeblieben ist. Derweil leugnen Karin und Matthias, dass die frisch operierte Frau ihre Tochter ist. Eine zufällige Begegnung mit Hannah schockiert Lenas Eltern. Nach langer Zeit nimmt ihr Albtraum wieder Fahrt auf. Die geretteten Personen irren durch die fremde Umgebung. Die Ermittler Aida und Gerd stolpern von Unglück zu Unglück.

Hannah (Naila Schuberth) malt ein Bild über ihre seltsame Familie. Courtesy of Netflix

Drehbuchautoren übertreiben

Sprengfallen schaden Polizisten, aber keinen Familienmitgliedern

Mitunter übertreiben die Drehbuchautoren Isabel Kleefeld und Julian Pörksen. Papa hatte seinen Hochsicherheitstrakt heimlich auf ehemaligem Militärgelände gebaut. In 13 Jahren hat also ausschließlich der Täter die ausgemusterte Einrichtung der Bundeswehr betreten. Ein Verwalter wäre bei einem Besuch verwundet oder getötet worden – durch verborgene Tretminen. Hübsch dramatisch, wenn Aida ihre Truppe auf das Grundstück schickt und eine Explosion dem Kollegen ein Bein abreißt. Als ein Polizist die Überwachungsanlage ausschaltet, macht es nochmal Bumm. Immerhin haben die flüchtigen Familienmitglieder unbeschadet die Sprengfallen überquert: Wunder gibt es immer wieder!

Abschluss mit Frieden, Freude, Eierkuchen passt für Jonathan

Bei einem verdächtigen Todesfall zucken die Ermittler mit den Schultern und murmeln etwas über Gefahren im Haushalt. Offenbar betäubt der Stress den gesunden Menschenverstand von Aida und Gerd: Wie sollten sie bei den bedrohlichen Vorfällen auch noch an einen Mord denken? Erst nach dem Showdown entspannt Gerd – und Matthias Beck entdeckt ihn nach einer stundenlangen Autofahrt. Welch toller Zufall! Oder das Schicksal hat Ort und Zeit punktgenau zusammengeführt. Der Serienabschluss mit Frieden, Freude, Eierkuchen passt nur für Jonathan. Hingegen ist kaum zu glauben, dass sich Hannah tatsächlich öffnet.

Aida Kurt (Haley Louise Jones, l.) und Ines Reisig (Seraphina Maria Schweiger) wollen das Militärgelände durchsuchen. Courtesy of Netflix

Genießen Sie das Kopfkino

Stimmung und Gewissheiten

Isabel Kleefeld jongliert mit überraschenden Umbrüchen und düsteren Rückblenden. Die Regisseurin bettet geschickt Phantasiereisen und Visionen ein. Papas sanfte Stimme erklingt in den Köpfen der Familienmitglieder, die unter seinem Bann stehen. Zwei mehrfach ausgezeichnete Kameramänner haben die beklemmenden Bilder eingefangen. Bei einem ähnlichen Thema vermittelte Alexander Fischerkoesen erdrückende Enge in „Die verlorene Tochter“. Martin Langer überzeugte zuletzt mit „Kleo“ auf Netflix. Solche Erfahrungen mit der Kamera veredeln „Liebes Kind“. Manche Eindrücke blitzen lediglich für Sekunden auf, um die mulmige Stimmung zu halten oder Gewissheiten zu vernichten.

Gedanken und Illusionen rauben Schlaf

Isabel Kleefeld hat die Miniserie teilweise als Mosaik angelegt – zusammen mit den Cuttern Renata Salazar-Ivancan und Christoph Cepok. Erstaunlicherweise helfen die wilden Sprünge und visuellen Reize, die Handlung zu verstehen. Das Publikum klebt am Geschehen. Es verzeiht Unfug schon alleine wegen der ausdrucksstarken Optik. Die Macher von „Liebes Kind“ dosieren sparsam Action. Zum Beispiel auf dem Militärgelände setzen sie auf vordergründige Effekte. Etliche Szenen entströmen den Einbildungen und Erinnerungen von Hannah, Jonathan und Mama. Gedanken und Illusionen rauben den zwei Hauptermittlern und Lenas Eltern den Schlaf. Ein individuelles Kopfkino startet bei den Zuschauerinnen und Zuschauern: Die Spekulationen beunruhigen stärker als die Abläufe auf dem Bildschirm.

Gerd Brühling (Hans Löw) vom LKA entdeckt eine seltsame Traumlandschaft. Courtesy of Netflix

„Liebes Kind“ bewegt Zuschauerinnen und Zuschauer

Bitte nicht die Klappe aufreißen!

Schade, falls Leser über den Roman plaudern und die Auflösung des Falls verraten. Indes könnten die Tratschtanten falsche Hinweise liefern. Jedenfalls weicht die Miniserie von der Vorlage ab, denn Romy Hausmann erlaubte kreative Freiheit. Sie erklärt im Presseheft: Mir ist völlig klar, dass ein Buch, das ‚zum Lesen‘ bestimmt ist, angepasst werden muss, wenn es auch auf ‚Bewegtbild‘ funktionieren soll. Die Schriftstellerin liebt Aida Kurt, die gegensätzlich zur Vorstellung des Täters lebt. In den Augen von Romy Hausmann ist diese TV-Figur subtil und unheimlich gut erzählt. Warum ist mir das nicht eingefallen?.

Sogar wenn jemand die Klappe aufreißt, lohnen die ungefähr 45-minütigen Folgen. Ferner entdecken Fans vom Roman andere Seiten der Handlung. Ohnehin steigern enttarnte Einzelheiten die Gier auf Nachschub. Jeder weitere Kick erstaunt mehr als der Vorgänger. Erst die letzten Minuten der Schlussfolge erlauben die Erlösung.

Ich habe alles richtig gemacht. Ich bin ein großes Mädchen.

Hannah erfindet Legenden über ihre Eltern. Sie hilft Mama, ohne eigene Gefühle zu offenbaren. Abwechselnd behandelt sie ihren Bruder verständnisvoll oder herrisch. In der psychiatrischen Kinderklinik flüstert sie Jonathan ins Ohr: Wenn du dich nicht bemühst, dann kannst du nicht mit nach Hause kommen, wenn Papa uns holt. Hannah scheint irgendeinem Plan zu folgen. Dabei denkt sie: Ich habe alles richtig gemacht. Ich bin ein großes Mädchen. Das Kind jagt Gruselschauer über so manchen Rücken. Andererseits lechzt Hannah nach Zuneigung, sodass sie ihr Herz an Schwester Ruth hängt. Naila Schuberth veranschaulicht die Zerrissenheit des Mädchens. Ihre intensive Darstellung verblüfft die Zeugen der schauspielerischen Glanzleistung.

Neben Nachwuchstalent Sammy Schrein begeistert Haley Louise Jones

Sämtliche Charaktere beeindrucken. Als Mama verzichtet Kim Riedle auf Zuspitzungen, die zu ihren Auftritten in „Verbotene Liebe“ gehörten. Diesmal ist feine Mimik gefragt. Als Jonathan weckt Sammy Schrein allseits Beschützerinstinkte. Matthias Beck vereinnahmt Hannah und missachtet ihren Bruder. Der unberechenbare Ehegatte überfordert Karin. Justus von Dohnányi und Julika Jenkins präsentieren diesen Konflikt glaubwürdig. Hans Löw verkörpert die Widersprüche von Gerd Brühling. Der kaputte LKA-Ermittler passt zu seiner Kollegin Aida Kurt von der örtlichen Polizei. Haley Louise Jones gefällt in dieser abwechslungsreichen Rolle.

Miniserie schielt auf Krimis aus Großbritannien und Skandinavien

Romy Hausmann gesteht ihre anfängliche Skepsis, dass deutsche Produktionen oft mit angezogener Handbremse liefen. „Liebes Kind“ schielt auf hochwertige Krimis aus Großbritannien und Skandinavien. Das Ergebnis bewegt das Publikum, wie auch die Romanautorin meint: Es ist eine Serie geworden, die anspruchsvoll ist, Zug hat und gleichzeitig wahnsinnig viel Gefühl. Mit ihrer hohen Qualität könnte die Miniserie international einschlagen – wie bereits die Buchvorlage.

Dieser Text beruht auf Sichtung der kompletten sechsteiligen Miniserie „Liebes Kind“.

Meine Wertung: 4/​5

Am 7. September stellt Netflix alle sechs Episoden der Miniserie „Liebes Kind“ zum Streaming bereit.

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1967) am

    Ich kann es nur nochmals wiederholen: HAMMER!!! Wahnsinn!!
    • am

      Super spannende Miniserie. Hab sie ein einem Rutsch durchgeschaut. Alles Darsteller spielen hervorragend.Wurde nicht eine Minute langweilig.
      • (geb. 1967) am

        Laut den Kollegen von DWDL kann man sich wohl schon nach etwa 15 Minuten der Serie nicht mehr entziehen....momentan noch immer null Bedürfnis darauf.
        • (geb. 1992) am

          Uff, diese Kritik ist ja sehr schwer zu lesen.


          Will der Autor damit einen Preis gewinnen ?

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