„High School“: Dramedy über Geschwister und Grunge gelingt mit leisen Zwischentönen – Review

Deutschlandpremiere für Coming-of-Age-Serie nach Memoiren des Indie-Duos Tegan and Sara

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 12.01.2023, 18:00 Uhr

Railey und Seazynn Gilliland in „High School“ – Bild: Michelle Faye/Amazon Freevee
Railey und Seazynn Gilliland in „High School“

Vororte größerer Städte sind irgendwie immer grau und eintönig. Jedenfalls, wenn man im Teenageralter ist und am liebsten ausbrechen möchte aus dem täglichen Einerlei aus Schule, Elternhaus und Nachbarschaft. Nicht gerade einfacher wird es, wenn man mitten in der Pubertät in eine neue Kleinstadt umziehen, die Schule wechseln und seinen Freundeskreis verlassen muss. Und wenn man dann noch eine Zwillingsschwester hat, die sich seit geraumer Zeit von einem entfremdet hat, fühlt man sich erst recht verloren.

Genauso geht es dem Zwillingspaar, das im Mittelpunkt der Coming-of-Age-Serie „High School“ steht, die Amazon für seinen noch recht neuen Gratis-Streamingchannel Freevee produziert hat. Die zunächst acht Folgen basieren auf den gleichnamigen Memoiren von Tegan and Sara (Quin). Die kennen sie nicht? Das ist nicht allzu verwunderlich, außer sie hätten mal in Kanada gelebt. Da sind die eineiigen Schwestern als Indiepopduo nämlich seit den späten 1990ern Stars und auch in den benachbarten USA recht erfolgreich. In den deutschen Albencharts reichte es hingegen nur für einen Platz 70 im Jahr 2013. Gemeinsam mit den Schwestern entwickelte die auch als Schauspielerin bekannte Clea DuVall („Heroes“, „Carnivàle“) ihre Lebensgeschichte zu einer TV-Serie, die uns in einen namenlosen Vorort der kanadischen Metropole Calgary Mitte der 90er Jahre führt.

Klassisch den Genreregeln folgend spielt die Auftaktepisode am ersten Schultag nach den Sommerferien an der neuen Schule. Statt ihren geschwisterlichen Vorteil zu nutzen und diesen schweren Tag gemeinsam durchzustehen, gehen die beiden 15-Jährigen weitgehend getrennte Wege. Tegan (Railey Gilliland) wird gleich von einem Bully gemobbt, lernt aber auch bereits potentielle neue Freundinnen kennen, etwa die tough wirkende Maya (Amanda Fix). Sara (Seazynn Gilliland) versucht hingegen, sich aus allem rauszuhalten. Erst am Ende der Episode erfahren wir, warum sich die Schwestern über den Sommer so voneinander entfernt haben: Sara verbringt ihre Freizeit am liebsten mit ihrer Freundin Phoebe (Olivia Rouyre), es weiß aber niemand, dass die Beiden ein Liebespaar sind – nicht einmal Tegan.

Zwillingsschwestern im Zoff: Tegan und Sara (Raily und Seazynn Gilliland) Freevee

Eigene Probleme hat die Mutter der Zwillingsschwestern, Simone (Cobie Smulders, „How I Met Your Mother“), die sehr jung Mutter wurde und nun, nach der Trennung von deren Vater David (Nate Corddry, zuletzt in „Paper Girls“ zu sehen), ihr Studium der Sozialen Arbeit nachholt. Da ist zum einen die Mehrfachbelastung durch Familie, Abschlussarbeit und Nebenjob bei der Telefonseelsorge. Zum anderen ist sich Simone generell unsicher, was ihre Lebenssituation und ihre Beziehung mit dem Bauunternehmer Patrick (Kyle Bornheimer) angeht. Der ist den Mädchen ein guter Stiefvater und möchte sich mit Simone ein dauerhaftes Leben aufbauen, aber die gesteht einer Freundin, sie denke abends im Auto oft daran, einfach weiterzufahren und nicht zurückzukommen.

Versuchen, der Elternrolle gerecht zu werden: Patrick (Kyle Bornheimer) und Simone (Cobie Smulders) Freevee

Genug Potential für dramatische Situationen bringt die Konstellation also mit. Die Serie beginnt aber zunächst reichlich unspektakulär und etwas unterkühlt. Tegan und Sara (von den Gilliland-Schwestern in ihren ersten TV-Rollen kongenial gespielt) sind nicht gerade die emotionalsten Menschen, laufen meist mit heruntergezogenen Mundwinkeln, versteinerter Mimik und eher schweigsam durch ihren Alltag und behalten ihre wahren Gefühle für sich. So dauert es einige Episoden, bis man mit den Figuren warm wird.

Auch der Inszenierungsstil von Clea DuVall, die bei den ersten Folgen auch selbst Regie führte, ist eher zurückhaltend. Erst im Laufe der Staffel merkt man, wie sorgfältig das Setting umgesetzt wurde, wie genau die Atmosphäre und der Lifestyle der frühen bis mittleren 90er Jahre hier getroffen wurden. Das reicht von der Kleidung der Teenagerinnen, die meist mehrere Lagen von T-Shirts (mit Bandlogos), (Holzfäller-)Hemden und Jacken übereinander tragen, über die Poster an ihren Zimmerwänden bis hin zur Musikauswahl.

Letztere wird natürlich von Grunge- und Postpunk-Bands wie Nirvana und Green Day dominiert, aber auch eine großartige, fast vergessene Ballade wie Sinéad O’Connors „The Last Day of Our Acquintance“ kommt an prominenter Stelle zum Einsatz. Dass Musik im Leben der Hauptfiguren eine wichtige Rolle spielt, wird schon in den ersten Folgen klar, ob jeweils ein Green-Day-Konzert oder eine illegale Rave-Party im Mittelpunkt steht. So richtig entscheidend wird das Thema aber ab Episode 5, als die zum Hausarrest verdonnerten Schwestern Patricks alte Akustikgitarre finden. Zunächst ist es Tegan, die sich selbst anhand eines Nirvana-Videos ein paar Akkorde beibringt und gleich beginnt, einen eigenen Song zu schreiben. Als sie den Sara vorspielt, entdecken die Schwestern endlich wieder eine gemeinsame Leidenschaft.

Heimliche Liebe: Sara und Phoebe (Olivia Rouyre) Freeform

Die wiedergefundene Nähe bringt aber auch neue Probleme mit sich, fühlt sich doch Tegans neue beste Freundin Maya zurückgesetzt. Ein weiteres, sich durch die ganze Staffel ziehendes Thema ist die wechselhafte Beziehung zwischen Sara und Phoebe, die auch durch Phoebes konservative Mutter erschwert wird. Homosexualität ist in den 90ern eben auch im liberalen Kanada noch nicht selbstverständlich und es ist bezeichnend, dass Sara sich nicht einmal gegenüber ihrer Zwillingsschwester outet.

„High School“ ist eine Serie der leisen Zwischentöne und damit fast ein Gegenentwurf zu schrilleren aktuellen Coming-of-Age-Serien wie „Euphoria“ oder der Neuauflage von „Heartbreak High“. Vom Tonfall her erinnert sie eher an Klassiker des Genres wie „Willkommen im Leben“ (OT: „My So-Called Life“), das ja etwa zur gleichen Zeit spielte. Hier kommt natürlich der Retrofaktor hinzu, der aber nie aufgesetzt oder dominant wirkt. Das melancholische Lebensgefühl, das der Grunge so perfekt widerspiegelte, wird ohnehin jedem Teenager vertraut sein, egal, in welchem Jahrzehnt er oder sie aufwächst.

Typische Kleinfamilie mit Teenagerkindern: Simone, die Zwillinge und Patrick Freevee

Insgesamt ist Clea DuVall gemeinsam mit Tegan und Sara Quin eine einfühlsame, manchmal witzige, manchmal traurige Serie gelungen, die wichtige Themen unaufdringlich behandelt und mit der sich jedeR identifizieren können sollte, dessen oder deren Schulzeit nicht aussah wie in „Beverly Hills, 90210“ oder ähnlichen Hochglanzserien. Auch wenn wir nach der Schule nicht alle (Indie-)Popstars geworden sind.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der kompletten ersten Staffel von „High School“.

Meine Wertung: 4/​5

Die komplette achtteilige Auftaktstaffel von „High School“ wird bei Amazon Freevee am Freitag, den 13. Januar als Deutschlandpremiere veröffentlicht. Über eine Fortsetzung der Serie ist noch nichts bekannt geworden.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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