Das Beste aus dem Serienjahr 2020: Marcus’ Highlights

Fünf (teils nicht so geheime) Geheimtipps

Marcus Kirzynowski
Marcus Kirzynowski – 30.12.2020, 18:00 Uhr

Mark Ruffalo lieferte eine schauspielerische Tour de Force in „I Know This Much Is True“ – Bild: HBO
Mark Ruffalo lieferte eine schauspielerische Tour de Force in „I Know This Much Is True“

Es war ein seltsames (Serien-)Jahr. 2020 konnten viele liebgewonnene Serien wie „The Handmaid’s Tale“ oder „Die wunderbare Mrs. Maisel“ pandemiebedingt keine neuen Staffeln veröffentlichen. Andere wie „GLOW“, deren Fortsetzungen schon bestellt waren, wurden plötzlich doch noch abgesetzt. Und bei den Neustarts kam wenig wirklich Gehaltvolles nach. Lag es nur an Corona oder ist das sogenannte Goldene Zeitalter der Serien qualitativ betrachtet schon wieder vorbei? Gefühlt werden zwar immer noch Jahr für Jahr mehr Serien produziert und steigen weiterhin neue Player in das Geschäft ein, aber sehr viele Neustarts kopieren nur erfolgreiche Konzepte oder sind gleich Spin-Offs bekannter Franchises, Adaptionen von Buch-, Comicreihen oder Filmen oder Neuauflagen gut abgehangener Serienklassiker.

Wirklich originelle Stoffe, die eine Geschichte (und ihre Charaktere) über fünf, sechs oder sieben Staffeln entwickeln und dabei eine popkulturelle Wirkung erzielen wie „Mad Men“, „Breaking Bad“ oder „The Wire“ vor zehn bis 15 Jahren, sind nicht in Sicht. Gute bis sehr gute neue Serien finden sich natürlich trotzdem noch, es sind aber meist eher „kleinere“ Comedy- oder Dramedyformate, abgeschlossene Miniserien oder gleich nicht englischsprachige Serien mit ebenfalls wenigen Folgen pro Staffel aus Ländern wie Skandinavien, Belgien und inzwischen zunehmend auch Deutschland. Das spiegeln jedenfalls meine persönlichen Top 5 aus 2020 wider.

Meine Serienhighlights des Jahres
Netflix machte 2020 „Die zwölf Geschworenen“ einem internationalen Publikum zugänglich. Nein, nicht der Filmklassiker ist gemeint, sondern eine belgische – besser gesagt flämische – Miniserie von den DrehbuchautorInnen, die uns schon die famose arte/​Netflix-Serie „Zimmer 108/​Beau Séjour“ bescherten. Im Mittelpunkt des Justizdramas steht eine einzige Frage: Hat die Schuldirektorin Frie Palmers (Maaike Cafmeyer) ihre kleine Tochter umgebracht und vor Jahren auch schon ihre Jugendfreundin? Wie damals bei Sidney Lumet sind sich die Geschworenen anfangs weitgehend einig. Doch während des Strafprozesses machen sich immer mehr Zweifel breit, hatten doch auch andere Beteiligte durchaus eigene Motive. Insbesondere der Vater des Kindes gerät durch seine widersprüchlichen Aussagen zunehmend selbst ins Zwielicht. Aber auch die für die Jury ausgewählten Bürger sind teilweise voreingenommen und bringen ihre eigenen Probleme mit, ob die Vertuschung eines tödlichen Unfalls oder eine traumatische Entführung als Jugendliche. Das alles ist spannend erzählt und toll gespielt und zeigt einmal mehr, dass anspruchsvolle Serienunterhaltung längst nicht mehr immer aus englischsprachigen Ländern kommen muss.VRT/​Eyeworks, Thomas Nolf
Syd (Sophia Lillis) ist scheinbar eine ganz normale, wenn auch ziemlich pessimistische Teenagerin. Der Suizid ihres Vaters hat die 17-Jährige aus der Bahn geworfen, außerdem hat sie heimliche Gefühle für ihre beste Freundin. Bald merkt sie jedoch, dass sie eine unheimliche Gabe hat: Was sie sich im Geheimen wünscht, wird Wirklichkeit. So bringt sie Nasen zum Bluten, Wände zum Einstürzen und – da sie ihre übernatürlichen Kräfte nicht kontrollieren kann – schließlich sogar Köpfe zum Platzen. Irgendwie aus dem Nichts tauchte kurz vor dem ersten Lockdown bei Netflix die ebenso charmante wie komische Dramedy „I Am Not Okay with This“ nach einer weitgehend unbekannten Comicvorlage auf. Mit einem Tonfall irgendwo zwischen Stephen Kings „Carrie“ und John Hughes’ „Breakfast Club – Der Frühstücksclub“ sollte sie allen gefallen, die schräge Coming-of-Age-Serien mögen. Die geplante zweite Staffel fiel leider dem Corona-Virus zum Opfer.Netflix
Bisher eher als Ulknudel verschrien, bewies Ricky Gervais mit der ersten Staffel seiner selbst geschriebenen Netflix-Serie „After Life“, dass er auch wesentlich sensiblere Töne beherrscht. Die Versuche eines trauernden Witwers, sein Leben ohne die geliebte Frau fortzusetzen, waren zwar manchmal auch absurd komisch, vor allem aber einfühlsam und berührend. In Staffel 2 bemüht sich der von Gervais gespielte Tony, ein besserer Mitmensch zu werden. Dabei geht weiterhin so ziemlich alles schief, was nur schiefgehen kann: Die Lokalzeitung, bei der er arbeitet, steht vor dem Aus, die Ehe seines Schwagers und Chefs ebenfalls und es gibt einen weiteren Todesfall zu verkraften. Mit den Kollegen und anderen Einwohnern der Kleinstadt schafft Gervais einen Mikrokosmos skurriler Individuen, die einem trotz aller Übertreibung ins manchmal schmerzhaft Komische doch ans Herz wachsen.Netflix
Man wusste schon länger, dass Anke Engelke eine Frau mit vielen Talenten ist. Als Charakterdarstellerin war sie bisher aber eher weniger aufgefallen. Alle Zweifel, ob sie eine Dramedyserie als Hauptdarstellerin tragen könne, waren aber schon nach der ersten Folge von „Das letzte Wort“ verflogen. Nicht nur die Grundidee erinnert an den modernen Serienklassiker „Six Feet Under“, auch an einzelnen Handlungssträngen daraus orientierten sich die Drehbuchautoren um Aaron Lehmann, setzten aber auch genügend eigene Akzente. Engelke wechselt als plötzliche Witwe, die von der Hausfrau zur professionellen Trauerrednerin wird, um ihre Kinder zu ernähren, scheinbar mühelos zwischen Lebensfreude und tiefer Verzweiflung hin und her. Mit Thorsten Merten als grummeligem Bestattungsunternehmer am Rande des Bankrotts bildet sie ein echtes komödiantisches Dreamteam. Netflix traut sich mit dem schwarzen Humor, der manchmal jede Pietätsgrenze überschreitet, ohne jemals respektlos gegenüber den Figuren zu werden, (mal wieder) mehr als jeder deutsche TV-Sender. Ein Plädoyer dafür, das Leben zu feiern – über den Tod seiner Liebsten hinaus.Netflix
Die wohl deprimierendste Serie (nicht nur) dieses Jahres ist zugleich die vielleicht berührendste: „I Know This Much Is True“. In sechs Teilen verfilmte der sonst aus dem Indiekino bekannte Derek Cianfrance für HBO (in Deutschland bei Sky) einen Roman von Wally Lamb, der einen weiten Bogen über etwa ein Jahrhundert schlägt. Im Mittelpunkt der Familiengeschichte stehen zwei ungleiche Zwillingsbrüder: der psychisch kranke Thomas und der fürsorgliche Dominick. Während der eine zunehmend zur Gefahr für sich selbst wird, kommt auch der andere nicht heraus aus der Spirale von familiären Traumata und Schicksalsschlägen, die sein Leben dominieren. Für seine differenzierte und bewegende Darstellung der beiden Brüder wurde Mark Ruffalo völlig zu Recht mit einem Emmy ausgezeichnet, in Nebenrollen überzeugen unter anderem Kathryn Hahn und Melissa Leo. Dass einen die Miniserie nicht am Boden zerstört zurücklässt, ist dem verhaltenen Happy End zu verdanken, mit dem sie dann doch noch ausklingt.HBO

In einer lockeren Reihe blicken die Serienkritiker von fernsehserien.de zum Jahresende auf die Formate, die sie in den vergangenen zwölf Monaten gesehen haben. Das können neue Serien sein, aber auch neu entdeckte.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1963) am

    Danke. Eine andere Seite, die ich hier nicht nenne, ist leider dazu nicht mehr in der Lage.

    Meine Top 5:

    Better Call Saul
    After Life
    Tarzan mit Ron Ely
    The Break (Staffel 2)
    Barkskins
    • am

      Wenn ich so nachdenke: Mrs. America war wirklich eine klasse Serie 2020.

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