Tiere kennen keine Scham, nur der Mensch schämt sich. Gert Scobel spricht mit seinen Gästen über die existenzielle Bedeutung der Scham- und Schuldgefühle. Menschen schämen sich für ihre Körper und ihre Ausscheidungen, für ihre soziale Herkunft, für Misserfolge, Verfehlungen und für das Pflücken reifer Äpfel vom Baum der Erkenntnis. Sie schämen sich für ihre Hautfarbe, sexuelle Vorlieben und sogar für andere. Ihr Schamgefühl verweist schmerzlich auf – vermeintliche oder tatsächliche – Makel, die sichtbar geworden sind und dazu führen können, aus einer Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Die Fähigkeit, Scham zu empfinden, setzt beim Kleinkind erst mit der Entdeckung des eigenen Selbst ein. Ein Affekt, der die Grenze zwischen Ich und Anderen, dem eigenen Körper und der Umwelt markiert. Das Schamgefühl stört zwar die Selbstzufriedenheit, ist aber im Idealfall ein wichtiger Impulsgeber zur Persönlichkeitsentwicklung und zum Hineinwachsen in eine Gesellschaft. Gibt es universelle Auslöser von Scham, und wie regulieren Kulturen mittels Tabus ihre jeweiligen Schamgrenzen immer wieder neu? Und was geschieht, wenn dieses zentrale Regulativ für Würde und gemeinsame Werte von Politikern oder von ausgegrenzten Mitgliedern der Gesellschaft aufgekündigt wird? Etwa durch die Rede des AfD-Politikers Björn Höcke, in der er das
Berliner Holocaustmahnmal als „Denkmal der Schande“ entwürdigt? Oder durch Donald Trumps Rassismus und Frauenfeindlichkeit? Die beschämenden sexuellen Übergriffe in der Kölner Silvesternacht wurden aus Angst, die Dreistigkeit der Täter anzuprangern, von den Behörden zunächst heruntergespielt. Können solche Grenzverletzungen des gesellschaftlichen Konsens mit der Zeit die gültigen Schamgrenzen verändern? Sind sie eine Gefahr für Werte und Würde einer Gesellschaft? Sicher ist: Schamlosigkeit erregt Aufmerksamkeit und provoziert. Wer andere beschämt, gewinnt Macht. Das gilt für Politiker ebenso wie für ihre Anhänger, von denen sich viele als gesellschaftlich abgehängt betrachten. Gewalt und Aggression sind, wie Depressionen und im Extremfall Suizid, mögliche Reaktionen auf Beschämung. Man macht sich schuldig, um die eigene Würde zu retten. Durch Mobbing, Shitstorming und Shaming im Internet kann die öffentliche Beschämung Einzelner eine Dynamik gewinnen, die manch verzweifeltes Opfer in den Tod treibt. Das Schamgefühl trägt aber auch das Potenzial für Veränderung in sich: In ihrem Buch „Scham – Die politische Kraft eines unterschätzten Gefühls“ tritt die amerikanische Wissenschaftlerin Jennifer Jacquet dafür ein, öffentliches Beschämen als Waffe im Kampf gegen Umweltverschmutzung oder Menschenrechtsverletzungen einzusetzen. (Text: 3sat)