Vor dem Start: „Tage, die es nicht gab“: Sehenswerte lakonisch-atmosphärische ORF-Miniserie startet im Ersten – Review

Weisz, Gerat, Krassnitzer und Speidel in starkem Ensembledrama mit skurrilem Humor

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 14.02.2023, 16:23 Uhr

Franziska Weisz, Diana Amft, Franziska Hackl und Jasmin Gerat in „Tage, die es nicht gab“ – Bild: ORF/MDR/ARD
Franziska Weisz, Diana Amft, Franziska Hackl und Jasmin Gerat in „Tage, die es nicht gab“

Miriams Ehemann Joachim (Andreas Lust) ist ein Arschloch. Das zeigt sich eindrucksvoll, als er den Reinigungsmann einer Waschanlage zurechtstutzt, der ihn nur gefragt hat, ob es sein Verpackungsfitzelchen ist, dass da auf dem Boden liegt und welches er eben aus dem Autofenster geworfen hat. Als Joachim Miriam (Franziska Weisz) dann während der Autowäsche noch genervt erklärt, er sichere schließlich den Arbeitsplatz des Putzmanns, hat die Frau endgültig die Schnauze voll. Mitten in der Waschanlage steigt sie aus, tritt mit durchnässter Bluse ins Freie, hebt das Papier auf, wirft es in den Mülleimer und geht.

Diese herrlich lakonische Szene sagt alles über den Zustand der Ehe des Staatsanwaltspaars Hintz, das kurz darauf schon um das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder streitet. Sie gibt aber auch schon früh in der Auftaktfolge den Tonfall der österreichischen Serie „Tage, die es nicht gab“ vor, die nach der ORF-Premiere im Herbst 2022 nun ihren Deutschlandstart im Ersten erlebt. Man muss sofort an ähnlich lakonische ORF-Produktionen wie „Braunschlag“ denken oder auch an die Verfilmungen von Wolf Haas’ Brenner-Romanen mit Josef Hader.

Dennoch ist der Tonfall hier insgesamt etwas anders, denn zum trockenen und manchmal skurrilen Humor kommt noch eine eisige Atmosphäre, tragen doch fast alle Figuren dunkle Geheimnisse mit sich herum. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen vier mittelalte Frauen, die seit ihrer gemeinsamen Schulzeit an einem Elitegymnasium beste Freundinnen sind: Miriam, die unkonventionelle Staatsanwältin mit den Eheproblemen, Doris (Diana Amft, „Doctor’s Diary – Männer sind die beste Medizin“), die sich als neue Geschäftsführerin des Familienunternehmens mit ihrer dominanten Mutter herumschlagen muss, Inès (Jasmin Gerat, „The Team“), deren Teeniesohn zu viele Drogen nimmt, sowie die Schriftstellerin Christiane (Franziska Hackl), die vor Jahren ihren Sohn verloren hat.

Die vier Jugendfreundinnen halten zusammen, auch beim BH-Verbrennen. ARD/​ORF

Parallel zur Einführung der vier Hauptfiguren mit ihren mehr oder weniger alltäglichen Problemen zeigt die Auftaktepisode ein besonders krasses Beispiel für die unbarmherzige Atmosphäre an der Eliteschule Sophianum: Der langjährige Direktor Paul Paulitz (gespenstisch: Harald Krassnitzer, „Tatort Wien“) demütigt den Schüler Balthasar, weil der seine Sportsachen vergessen hat. Er muss in der Unterhose alleine den Parcours des Zirkeltrainings durchlaufen, während der Rest der Klasse zuguckt. Später hält Paulitz ihm im Klassenraum noch eine Moralpredigt und bringt ihn dazu zu wiederholen, dass er ein Nichts sei. Als der kleine Junge dennoch ein Widerwort gibt, streicht er die Sportwoche, auf die sich die ganze Klasse schon gefreut hatte – wofür die natürlich dem Jungen die Schuld gibt. Mobbing deluxe also, das nicht ohne tragische Folgen bleibt: Es gibt Tote, darunter zwei Tage später auch der Schulleiter.

Dessen Sturz von einem Staudamm wird als Unfall eingestuft, doch Jahre später rollt die Wiener Kommissarin Grünberger (herrlich skurril: Sissy Höfferer) mit ihrem jungen Kollegen Leodolter (Tobias Resch) den Fall wieder auf und stößt dabei auf einige Ungereimtheiten. Warum war zum Beispiel Staatsanwältin Miriam Hintz damals schon vor der Polizei am Unfallort? Später kommt noch heraus, dass Paulitz stiller Teilhaber an der Spedition von Doris’ Mutter war. Und die vier Freundinnen wissen definitiv mehr über den Tod des verhassten Schulleiters, unter dem sie wahrscheinlich als Schülerinnen schon selbst leiden mussten. Kurze Rückblenden zeigen jedenfalls, dass sie sich damals schworen, nie eines ihrer eigenen Kinder aufs Sophianum zu schicken (ein Schwur, den sie jedoch alle gebrochen haben).

Unkonventionelles Ermittlerduo aus Wien: Kommissarin Grünberger (Sissy Höfferer) und ihr junger Kollege Leodolter (Tobias Resch) ARD/​ORF

Es sind ganz schön viele Themen und Handlungsstränge, die Mischa Zickler („Walking on Sunshine“) in die Drehbücher der acht Folgen gepackt hat. Wie die einzelnen Stränge und Erzählebenen zusammenhängen, wird erst schrittweise und sehr langsam aufgeklärt. Nach der Hälfte der Episoden liegt vieles noch im Unklaren, was die Spannung hoch hält. Interessanter als diese Krimiebene, die leider teilweise fast in ein konventionelles Whodunit mit Kommissar-Fragen wie „Wo waren Sie am …?“ abgleitet, sind die zwischenmenschlichen Aspekte. Die schon geschilderten, langen Mobbingsequenzen sind beinahe brutal anzuschauen und erinnern in ihrer schonungslosen Intensität an andere bekannte Österreicher wie Michael Haneke und Ulrich Seidl. Für die eher humoristischen Elemente sorgen die ständigen Machtkämpfe von Doris mit ihrer Mutter (grandios: Jutta Speidel als Patriarchin, die nicht loslassen kann) und der von ihr „geerbten“ Chefsekräterin.

Neben der atmosphärischen Inszenierung von Anna-Katharina Maier und Mirjam Unger und den weitgehend gelungenen Dialogen, die so irgendwie nur österreichische AutorInnen hinbekommen, überzeugt „Tage, die es nicht gab“ mit dem durchweg hervorragenden Ensemble: ob die erfahrene Charakterdarstellerin Weisz oder Altstars wie Krassnitzer und Speidel, denen man anmerkt, wie sehr es sie freute, mal für sie untypische Fernsehrollen spielen zu dürfen. Auch Hackl ist toll als leidende Mutter, die versucht, nach dem Tod ihres Kindes ins Leben zurückzufinden.

Tyrannischer Schulleiter: Paul Paulitzer (Harald Krassnitzer) regiert mit harter Hand ARD/​ORF

Auch wenn die Folgen 2 bis 4 das hohe Niveau der ersten Episode nicht durchgehend halten können, hat sich die ARD hier eine Serie gesichert, die sich erzählerisch und inszenatorisch wohltuend vom üblichen deutschsprachigen Serieneinerlei im Ersten abhebt. Unsere südlichen Nachbarn können moderne Serien doch immer noch besser.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten vier Episoden von „Tage, die es nicht gab“.

Meine Wertung: 4/​5

Alle acht Folgen stehen ab Sonntag, den 12. Februar in der ARD Mediathek bereit. Die lineare Ausstrahlung im Ersten startet am 14. Februar um 20:15 Uhr mit einer Doppelfolge, die weiteren Episoden sind dann jeweils dienstags zur gleichen Zeit zu sehen.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1963) am

    Eines der besten Serien die ich seit langem gesehen habe nach Wendehammer und Vorstadtweiber

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