Auch nach Jahrhunderten ist mit dem Rattenfänger (Götz Otto) nicht zu spaßen
Bild: ZDF/Roland Guido Marx
Der Fundus an deutschen Sagen und Legenden ist reichhaltig. In jeder Gegend gibt es lokale Geschichten über Gestalten, die den Menschen Angst einjagen und ihnen eine Lektion erteilen. Film- und Fernsehmacher finden eigentlich ein weites Feld an Inspirationsquellen vor. Bis vor zehn Jahren wollte dieses aber fast niemand bestellen. Mystery, Grusel und Fantasy aus heimischer Produktion hatten eine schweren Stand – nicht nur beim Publikum, auch und vor allem bei den Senderverantwortlichen. Lieber stampfte man den x-ten Regionalkrimi aus dem Boden, anstatt sich in Horrorgefilde vorzuwagen. Das Aufkommen der Streaming-Dienste und die Ausdifferenzierung der Zuschauerinteressen stießen glücklicherweise eine Entwicklung an, die uns heute in eine andere Lage versetzt. Schauerstoffe aus Deutschland sind zwar nach wie vor unterrepräsentiert. Die Bereitschaft, unheimliche Erzählungen anzubieten, wird aber immer größer. Recht umtriebig zeigt sich dabei der Sender ZDFneo, der mit dem Seuchendrama „Sløborn“, dem Thriller „Der Schatten“, der Gruselmär „Was wir fürchten“ und der Vampirromanze „Love Sucks“ in den letzten Jahren gleich vier ungewöhnliche Genreserien produzieren ließ. Es tut sich etwas, das ist schön! Umso ärgerlicher jedoch, wenn dann ein Beitrag wie der ZDFneo-Sechsteiler „Hameln“ alle Vorbehalte gegen deutsche Horrorwerke zu bestätigen scheint.
Was erst einmal positiv auffällt: Die kreativen Köpfe rund um Schöpfer, Headautor und Regisseur Rainer Matsutani („Spides“) meinen es mit der oft beschworenen, aber noch immer schleppend umgesetzten Diversität ernst. Protagonisten mit Beeinträchtigungen sind in der Welt von „Hameln“ völlig selbstverständlich. Ebenso gibt es mit dem Mutter-Tochter-Gespann Jamila (Florence Kasumba) und Romy (Pia Amofa-Antwi) eine schwarze Ärztin und eine schwarze Bundeswehrsoldatin. Bei vielen Fernsehproduktionen sieht es mit der Vielfalt nach wie vor anders aus.
(v. l. n. r.) Finja (Caroline Hartig), Ruben (Riccardo Campione), Jannik (Constantin Keller) und Sam (Jonathan Elias Weiske) versuchen, Licht ins Dunkel zu bringen. ZDF/Roland Guido Marx
Erzählerisch leitet sich der Fokus auf Menschen mit Behinderung sogar aus der berühmten Rattenfängersage, der Serienvorlage, ab, die hier in die Gegenwart verlängert wird. Als Hameln im Jahr 1284 unter einer Nagetierplage litt, bot, so besagt es die Legende, ein mysteriöser Fremder seine Dienste an und führte die unliebsamen Plagegeister allein mit den magischen Klängen seines Flötenspiels in die Fluten der Weser. Nach getaner Arbeit versagten ihm die Stadträte jedoch den versprochenen Lohn, weshalb der Retter grausame Rache nahm. Ein zweites Mal kehrte er nach Hameln zurück und verzauberte mit seiner Musik nun Mädchen und Jungen, 130 an der Zahl, die auf Nimmerwiedersehen in einem nahen Berg verschwanden. Je nach Version blieben lediglich bis zu drei Kinder verschont; eines blind, eines lahm und eines taub.
Genau hier setzt die im heutigen Hameln spielende ZDFneo-Miniserie an. Gleich zu Anfang lernt die nur noch ein Minimum an Sehkraft besitzende Finja (Caroline Hartig, verkörperte schon in der ARD-Reihe „Weingut Wader“ eine blinde Person) den charmanten Sam (Jonathan Elias Weiske) und seinen gehörlosen Bruder Jannik (Constantin Keller, der auch im wahren Leben taub ist) kennen. Letzterer wird wie Finja von rätselhaften Träumen geplagt und hat darin auch die junge Frau gesehen. Grund genug, fortan gemeinsam abzuhängen und einer seit kurzem in der Stadt grassierenden Mordserie nachzugehen. Vierter im Bunde der Hobbydetektive ist der im Rollstuhl sitzende Basketballer Ruben (Riccardo Campione), dessen entfremdeter Vater Erik (Christian Erdmann) die polizeilichen Ermittlungen leitet. Aus heiterem Himmel auftauchende Horrorvisionen, von denen nur manche der Figuren heimgesucht werden, lassen erahnen: Der einst betrogene Rattenfänger (Götz Otto) ist mit Hameln noch nicht fertig. Doch was genau führt er im Schilde?
Finja (Caroline Hartig) hat die Angewohnheit, im Dunkeln allein durch menschenleere Straßen zu laufen. ZDF/Roland Guido Marx
Eine Schicksalsgemeinschaft mit drei beeinträchtigten Charakteren in den Kampf gegen eine übersinnliche Bedrohung zu schicken, ist eine spannende Idee. Nur leider unterfüttert die Serie ihre Prämisse in den für diese Kritik gesichteten ersten drei Kapiteln nicht mit ausreichend Substanz. Dass die erklärwütigen Dialoge mitunter gestelzt daherkommen, mag etwas nerven. Störender ist allerdings die flache Zeichnung unserer Helden. Wo stehen Finja, Jannik, Sam und Ruben in ihrem Leben? Was treibt sie jenseits ihrer Nachforschungen um? Gelegentlich werden uns Informationsfetzen vor die Füße geworfen. Facettenreiche Porträts ergeben sich daraus aber kaum. Am interessantesten ist noch Rubens Familiensituation, die tragische Verwicklungen zu Tage treten lässt. Verzichtbar scheint, zumindest zur Halbzeit, der Lovestory-Strang um Finja und Sam.
Für eine Horror-Mystery-Produktion ebenfalls problematisch: „Hameln“ schafft es nur ganz selten, das Flair des Settings zu transportieren. Obwohl teilweise an Originalschauplätzen gedreht wurde, will ein Gefühl für den sagenumwobenen Handlungsort, seine Atmosphäre nicht recht aufkommen. Da können noch so viele Bilder des Stadtpanoramas in das Geschehen eingewoben sein.
Knisternde Spannung und Gänsehaut halten sich auch deshalb in Grenzen, weil die Drehbücher von Rainer Matsutani und Sandro Lang („SOKO Stuttgart“) am laufenden Band Standardmotive des Horrorkinos abspulen: warnende Flüsterstimmen, exzessiv flackernde Lichter, Gruselkinder mit ausgestrecktem Finger, ein irre lachender Psycho, ein katatonischer Patient mit Panikattacke und eine aus Afrika stammende Figur, die – Achtung, Stereotyp!- dem Bösen mit schwarzer Magie beikommen will. Wer schon die ein oder andere Schauerproduktion gesehen hat, kann gleich in den ersten Minuten mit einer Strichliste beginnen.
Jannik (Constantin Keller, vorne rechts) taucht ins Hameln des Jahres 1284 ein. ZDF/Roland Guido Marx
Genreklischees allein wären freilich noch keine Katastrophe. Schließlich gelingt es manchen Autoren und Regisseuren erstaunlich gut, Altbekanntes so aufzubereiten, dass es trotzdem mitreißt und beunruhigt. In puncto Inszenierung performt „Hameln“ jedoch erschreckend schlecht. Wiederholt überzieht Matsutani maßlos. Etwa, wenn er Götz Otto mit gelbem Pupillen loschargieren lässt. Dass sich der Schrecken überraschend im Bild manifestiert, kommt so gut wie gar nicht vor. Stets wählt die Serie die naheliegendste Option. Figuren, die durch ein Fenster starren, werden beispielsweise unter Garantie von einer plötzlichen Erscheinung aufgeschreckt. Eine alte Schockkonvention, die ohne kleine Abwandlungen wirkungslos verpufft.
Die Grenze zur unfreiwilligen Komik ist da schnell überschritten. Exemplarisch: der Moment, in dem die Protagonisten in den Bann einer mäßig getricksten, wie eine Zeitmaschine funktionierenden Lichtinstallation geraten. Besonders unangenehm wird es in den überbelichteten, billig anmutenden Alpträumen und Rückblenden, die uns in tief in die Vergangenheit führen. Die Bewohner des historischen Hameln sehen aus, als wären sie einer Freilichtbühne oder einem Mittelaltermarkt entsprungen, wodurch jegliche Ernsthaftigkeit – Verzeihung für das Wortspiel – flöten geht. Am Anfang mögen gute Absichten und interessante Einfälle gestanden haben. So moniert Rainer Matsutani im Pressematerial des ZDF, dass die Sage um den Rattenfänger noch nie adäquat verfilmt worden sei. Er selbst aber tut dem berühmten Flötenmann mit „Hameln“, einem kruden Mix aus Kirmesgrusel, „Ghostbusters“ und „Fünf Freunde“, spätestens in der Umsetzung ganz schön Unrecht.
Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei von insgesamt sechs Folgen der Miniserie „Hameln“.
Meine Wertung: 2/5
Alle sechs Episoden der Miniserie „Hameln“ werden am Montag, den 30. Dezember ab 21:45 Uhr am Stück in ZDFneo gezeigt. Ab dem selben Tag stehen alle Folgen außerdem in der ZDFmediathek zum Abruf bereit.
Über den Autor
Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.
Da sieht man wieder, wie unterschiedlich die Auffassungen sein können. Denn mir hat die Serie ausgesprochen gut gefallen und ich werde sie mir ein zweites Mal ansehen. Ich war begeistert. Ok, manches war ein wenig wirr oder übertrieben, aber im Gesamten für mich ein ausgezeichnetes Fernseherlebnis.
User 1759009 am
Ich habe mir Hameln angesehen und mir hat der Film sehr gut gefallen.
Wulfen am
Danke für die Warnung. Fast hätte ich mir die Serie angetan, das Thema ist ja wirklich interessant. Aber Erziehungsfernsehen muss dann doch nicht freiwillig sein.
Eichelkäse am
Das Problem mit der Diversität im deutschen öffentlich rechtlichen (und internationalem) Fernsehen ist, das sie dem Zuschauer mit aller Macht nur so um die Ohren geballert wird, das sie keiner mehr ernst nehmen kann. Zum größten Teil wirkt es unglaubwürdig und aufgesetzt. Angefangen bei z.T. fragwürdigen Besetzungen (ich rede hier nicht von Hameln) und rumgendern bis die Schwarte kracht. Zur Info: Die überwältigende MINDERHEIT von 86% lehnt das gendern konsequent ab. Wer will schon freiwillig stottern. Trotzdem meinen die linken Wahrheitsphobiker, einen Kulturwandel herbeiführen zu müssen. Da kann man nur noch abschalten.
Peter_D (geb. 1977) am
Kleiner Hinweis an Dich Christopher, die woke-Welle ist vorüber. Dein Text ist nur schwer erträglich!
der_alte_oesi (geb. 1963) am
Ich fürchte, das ist leider Wunschdenken. Der Wokeismus wächst sich vielmehr zu einer neuen Religion aus, um es einmal so zu umschreiben. Meine ehrlich Meinung zu diesem Thema zu veröffentlichen ist in diesem Land mittlerweile gefährlich geworden.
Ich lebe seit rund vierzig Jahren offen schwul, also bereits zu einer Zeit, als das in der BRD offiziell als Straftat galt. Aber es wäre uns im Traum nie eingefallen, die deutsche Sprache derart zu verunstalten und das auch noch den Menschen fast schon gewaltsam aufzuzwingen. Das wäre so ziemlich das Letzte gewesen, was wir jemals hätten erreichen wollen. Gerechtigkeit und Gleichstellung entstehen nicht durch Sprachdiktate und neue Wortschöpfungen. Im Gegenteil, das ist Heuchelei in seiner schlimmsten Form.
Torsten S am
Und wiedermal zeigt es sich, dass selbst solche Sagen aus Deutschland doch besser von amerikanischen Studios verfilmt werden sollte. Neben dieser Serie gibt es nämlich noch einen Film, dessen Trailer sehr vielversprechend und weit besser aussieht, als diese Serie. Warum überhaupt wieder eine Serie? Der Stoff reicht für einen Film, aber nicht für eine langegezogene Serie dessen Handlung sich wie Kaugummi zieht. Dann doch lieber der Film "Der Rattenfänger" mit Elizabeth Hurley. Hier der Trailer: https://www.youtube.com/watch?v
Flapwazzle am
Das ist ja wirklich schade. Laut Beschreibung klang die Serie vielversprechend. Aber da Rainer Matsutani auch den SciFi-Flop Spides zu verantworten hat, ist Fantasy vielleicht nicht sein Genre.