„Generation V“: Herrlich hemmungsloser Ableger mit eigenen Akzenten – Review

„The Boys“-Spin-Off bringt jede Menge Irrwitz und sympathische Figuren

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 28.09.2023, 17:00 Uhr

Blutige Sache: Marie (Jaz Sinclair) hatte sich ihr erstes Semester an der Godolkin University definitiv entspannter vorgestellt. – Bild: Amazon Prime Video
Blutige Sache: Marie (Jaz Sinclair) hatte sich ihr erstes Semester an der Godolkin University definitiv entspannter vorgestellt.

Menstruationsblut als Waffe, platzende Geschlechtsteile, bizarre Masturbations-Montagen: „Generation V“, das erste Spin-Off zur intelligent-bösen Anti-Superheldenserie „The Boys“, hat keine Mühe, das Original in Sachen Sex und Gewalt noch zu übertrumpfen. Auf Basis des vierten Bandes der dem Franchise zugrunde liegenden Comics von Garth Ennis und Darick Robertson geht es diesmal um den Superhelden-Nachwuchs, der auf der Uni finsteren Machenschaften auf die Spur kommt. Die Serie bleibt dem hartgesottenen Grundrauschen der Mutterserie auf herrlich hemmungslose Weise treu, setzt mit dem Fokus auf ein weiblicheres und jüngeres Personal aber eigene Akzente.

Wer sich „Generation V“ ansieht, hat, na klar, von „The Boys“, einem der absoluten Zugpferde von Amazon Prime Video, aller Wahrscheinlichkeit nach wenigstens schon einmal gehört. Dennoch schadet es nicht, sich das Worldbuilding der Mutterserie, deren vierte Staffel demnächst zu erwarten ist, noch mal kurz ins Gedächtnis zu rufen: Die Welt, in der sie spielt, ähnelt der unseren, mit dem Unterschied, dass es darin Superhelden und -heldinnen mit besonderen Fähigkeiten gibt (liebevoll „Supes“ genannt) und ihre Existenz allgemein bekannt ist. Mehr noch: Die prominentesten unter ihnen sind Bestandteil der Popkultur, sie werden kultisch verehrt, nicht nur als weltrettende Problemlöser, sondern auch als Celebritys, deren Romanzen und Verfehlungen tagtäglich in den Medien diskutiert werden. Sieben dieser Superhelden werden vom Konzern Vought International, der die Supes exklusiv vermarktet, in der Elitetruppe „Seven“ gebündelt, eine Art „Avengers“-Alternative, die in „The Boys“ allerdings weit mehr Abgründe als heldenhafte Züge blicken lässt. Korruption, Eitelkeit, brutaler Zynismus: Weiter entfernt vom alten Superman-Ideal können die meisten Supes kaum verortet werden.

Wo in „The Boys“ die titelgebende Widerstandsgruppe versucht, den Supes und vor allem dem Vought-Konzern an den Kragen zu gehen, steht in „Generation V“ („V“ wie „Vought“) der Nachwuchs im Zentrum – junge Superheld*innen, die auf der Vought-eigenen Godolkin University aufs Supe-Leben vorbereitet werden sollen.

In dieser Kaderschmiede soll sich die Spreu vom Weizen trennen. Also jene, die mit ihren Special Skills allenfalls für einen Job in der Entertainment-Branche infrage kommen (etwa als „Let’s Dance“-Kandidat), von jenen, die in die begehrte „Crimefighting“-Fakultät aufgenommen werden. Und die und dadurch die Chance haben, eines Tages zu den „Seven“ zu gehören.

Detektivarbeit an der Bildungsanstalt: Marie und ihre Supe-Kolleginnen Emma (Lizze Broadway, l.) und Cate (Maddie Phillips, r.) schweben mal wieder in Gefahr. Amazon Prime Video

In der Pilotfolge werden diverse Student*innen nacheinander eingeführt. Zunächst ist da Marie Moreau (Jaz Sinclair aus den „Chilling Adventures of Sabrina“), die ihr eigenes Blut kontrollieren, formen und wahlweise als Wurfgeschoss oder Fessel einsetzen kann. Als Kind wurde sie in das aus „The Boys“ bereits bekannte Red River Institute eingeliefert, ein Internat für Kinder-Supes, von dem aus sie nun als Erstsemesterin auf die Godolkin University wechselt, um sich, wie es einmal heißt, als „schwarze Starlight“ zu positionieren.

Auch mit dabei: Andre Anderson (Chance Perdomo, ebenfalls aus dem „Sabrina“-Cast), dechjr über magnetische Superkräfte verfügt und im Schatten seines Supe-Vaters steht; Emma Meyer (Lizze Broadway, „Here and Now“), die sich in einen Däumling verwandeln kann und die Fähigkeit in YouTube-Streams vermarktet; Cate Dunlap (Maddie Phillips von den „Teenage Bounty Hunters“), die anderen Leuten ihren Willen aufzwingen kann, sie also zum Beispiel dazu bringen kann, sich mit einem Baseballschläger in die Weichteile zu schlagen; schließlich noch Jordan Li, die/​der genderfluid zwischen einer männlichen und einer weiblichen Version hin- und herswitchen kann und entsprechend sowohl von einer weiblichen (London Thor) als auch einem männlichen (Derek Luh, „Shining Vale“) Darsteller*in verkörpert wird.

Wie sehr die Hauptautoren Eric Kripke, Craig Rosenberg und Evan Goldberg (sie alle kümmern sich auch um „The Boys“) darauf achten, das Schock-Niveau der Mutterserie in diesem Spin-Off beizubehalten, zeigt gleich die erste Szene, eine Rückblende, in der Marie ihre erste Monatsblutung erlebt und gleich darauf auf sehr unschöne Weise von ihrer Spezialfähigkeit erfahren muss. Später sehen wir Emma, wie sie von einem Kommilitonen dafür missbraucht wird, in Winzlingsgestalt an dessen erigiertem Penis herumzurutschen. Wer jetzt schon skeptisch abwinkt, dem/​der sei gesagt: Auf Szenen dieser Art hat man sich hier definitiv auf Dauer einzustellen. Fröhlich werden Gliedmaßen abgerissen, Gehirne durchpflügt und Fäuste durch Körper gerammt. Personen platzen, woraufhin es Organteile regnet, und immer wieder wird es auch sexuell transgressiv – das traditionell Verklemmte der meisten US-amerikanischen Serien- und Filmproduktionen übersetzt sich hier in eine Montage absurder Masturbationsszenen. Wer immer die Comic-Version der explizitesten Momente aus „Euphoria“ suchte: Hier ist sie.

Amüsanter Cameo: Als Dozent schaut auch Vought-Hausregisseur Bourke (P.J. Byrne) an der Uni vorbei. Amazon Prime Video

Was plotmäßig passiert – darüber soll man auf Wunsch von Amazon nichts schreiben. Die Geheimniskrämerei betrifft dabei vor allem die von Fans erhofften Gastauftritte des „The Boys“-Personals. Dass A-Train (Jessie T. Usher), Ashley Barrett (Colby Minifie) oder der Vought-Hausregisseur Bourke (P.J. Byrne) vorbeischneien, war bereits verlautbart worden, über die weiteren Cameos sei an dieser Stelle geschwiegen. Nur so viel: Es gibt prominente „The Boys“-Charaktere, die lediglich kurz zu sehen sind, aber auch Randfiguren aus „The Boys“, die hier eine größere Rolle spielen. Das Gute: Wohl und Wehe von „Generation V“ hängen nicht von diesen Querverbindungen ab. Die Serie kommt bestens alleine klar. „The Boys“-Fans können sich sogar auf Figuren freuen, die bislang nur in den Comics, nicht aber in der Mutterserie vorkamen – Tek Knight etwa, der mit Soldier Boy das Payback-Kommando gründete und jetzt als „World’s Greatest Superhero Detective“ durch die Gegend tingelt, an der Akademie eitle Vorträge hält und von Derek Wilson (aus Kripkes Vorgängerserie „Preacher“) wunderbar aasig gespielt wird.

Ob es stimmt, was derzeit gemunkelt wird, dass also die Geschehnisse aus „Generation V“ von zentraler Bedeutung seien für die kommende vierte Staffel von „The Boys“, kann natürlich noch nicht final eingeschätzt werden. Zu vermuten ist eher, dass durch solche Aussagen möglichst viele Fans der Mutterserie zum Spin-Off hinübergelockt werden sollen. Die lore des Originals wird hier aber durchaus vorausgesetzt – vom Crimson-Countess-Poster an der Wand bis zur Coladose mit Homelander-Etikett.

Hier in weiblicher Gestalt zu sehen: Gender-Switcher Jordan (London Thor). Amazon Prime Video

Widerlegen können wir jedoch die im Vorfeld des Serienstarts verbreitete Annahme, bei „Generation V“ handele es sich um eine Art „Hunger Games“, bei denen sich der Supe-Nachwuchs in Gladiatorenkämpfen misst, „Bundesjugendspiele brutal“ sozusagen: Abgesehen von einer kurzen Kampfsequenz in der Pilotfolge, in der der als kommender Supe-Star („Bigger than Homelander!“) gehandelte Golden Boy (Patrick Schwarzenegger, Arnolds Sohn) einem Statisten im Armumdrehen die Grenzen aufzeigt, kommt in den ersten sechs (der acht) Folgen, die der Presse zuvor gezeigt wurden, nichts dergleichen vor. Vielmehr geht es um ein zynisches Mysterium, das sich hinter den Kulissen des Akademiegeschehens abspielt und sich symbolisch im Bild eines geheimnisvollen Waldes manifestiert. Verraten darf man darüber, wie erwähnt, nichts, außer vielleicht, dass die von Anfang an ohnehin suspekte Dekanin der Godolkin University (Shelley Conn aus „Love Sarah“) damit zu tun hat und der angeblich psychisch kranke Supe Sam (gut: Asa Germann) dabei als Schlüsselfigur fungiert.

Während Andre, Marie und Kommiliton*innen nun detektivisch tätig werden, präsentieren sich die Episoden als höchst unterhaltsamer Gemischtwarenladen: Einige sehr spannende (Abenteuer-)Sequenzen stehen neben Young-Adult-kompatiblen Campus-Szenen und den erwähnten Schock-Momenten. Alles wird musikalisch energisch angetrieben von Girl-Punk à la The Donnas oder Hole. Später kommen formalästhetische Sonderwege (bis hin zum Puppentrick) hinzu, die es erstaunlicherweise fertigbringen, nie sonderlich bemüht zu wirken, sondern tatsächlich für abwechslungsreiches Entertainment zu sorgen.

Am interessantesten ist „Generation V“ aber immer dann, wenn sich Kripke und Co. mit bewährt ätzendem und kapitalismuskritischem Witz an den Auswüchsen von Social Media, populistischem Fernsehen, politischer Korruption und pervertiertem Celebrity-Kult abarbeiten. Das auf Polarisierung ausgerichtete Trump-Amerika, dessen Strategien längst auf andere Länder überschwappen, steht hier eindeutig Pate.

Was ist mit Sam (Asa Germann)? Der Supe-Student fürchtet sich vor einem geheimnisvollen Wald. Amazon Prime Video

Vor diesem Hintergrund funktionieren denn auch die leiseren Momente am besten. Neben Marie erweist sich in den ersten Episoden Emma als wichtigste Figur (und Lizze Broadway als beste Darstellerin). Um sich in Winzlingsgestalt zu bringen, muss sie jedes Mal eine erniedrigende Prozedur hinter sich bringen, die das Konkurrenzsystem der Supe-Welt noch brutaler erscheinen lässt als ohnehin schon (und vielgestaltige Bezüge in unsere „echte“ Welt erlaubt). Dass die Superkräfte der Supes einer von Vought selbst hergestellten Droge namens Compound V zu verdanken sind, ist aus der Mutterserie bekannt, wirft hier aber verstärkt die Frage nach der Rolle der Elternschaft auf: Alle Eltern der Protagonisten waren schließlich damit einverstanden, dass ihre Kinder dem Experiment unterworfen wurden. Ausnahmslos alle in der Serie auftauchenden Elternfiguren spielen eine mindestens zwiespältige Rolle.

Wie auch „The Boys“ schrammt „Generation V“ natürlich immer wieder haarscharf an jener Grenze entlang, an der die ausgestellten Brutalitäten und Full-Frontal-Schlüpfrigkeiten zum bloßen Selbstzweck geraten; bislang aber kriegt die Serie stets die Kurve und erweist sich so als deutlich mehr als ein bloßes Nebenprojekt. Mit jeder Menge Irrwitz und genügend sympathischen Figuren wirkt „Gen V“ stattdessen wie ein sehr eigenständiges Kapitel in diesem bodenlos fiesen Superheldenuniversum.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten sechs Episoden von „Generation V“.

Meine Wertung: 4/​5

„Generation V“ startet mit den ersten drei Folgen am Freitag, den 29. September bei Amazon Prime Video. Danach wird jeweils wöchentlich eine weitere Episode der insgesamt achtteiligen ersten Staffel veröffentlicht.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • (geb. 1987) am

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    • am

      „mit dem Fokus auf ein weiblicheres und jüngeres Personal“, „genderfluid“ und noch kein Aufschrei, dass ja heute alles „woke“ sein muss? Die Ewiggestrigen-Kommentatoren hier sind auch nicht mehr was sie mal waren! :-D

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