„Die Gabe“: Toni Collette führt multikulturelles Ensemble in Amazons vielversprechender SF-Mysteryserie an – Review

Romanadaption um junge Frauen mit „Superkräften“ startet zu konventionell

Marcus Kirzynowski
Rezension von Marcus Kirzynowski – 30.03.2023, 17:30 Uhr

"Die Gabe": Toni Collette führt multikulturelles Ensemble in Amazons vielversprechender SF-Mysteryserie an – Review – Romanadaption um junge Frauen mit "Superkräften" startet zu konventionell – Bild: Amazon Prime Video

„I’ve got the Power“ – Die Älteren unter uns erinnern sich vielleicht noch an den 1990er-Jahre-Hit von Snap. Wie würde sich nun aber unsere Welt verändern, wenn von heute auf morgen nicht nur eine Frau plötzlich eine übernatürliche Kraft entwickeln würde, sondern ein Großteil der weiblichen Bevölkerung weltweit? Wenn also auf einmal diejenigen alle physische Macht hätten, die bisher gar keine Macht hatten: Teenagerinnen, vernachlässigte Ehefrauen und unterpriviligierte Frauen. Auf diesem Gedankenexperiment basiert ein Roman von Naomi Alderman und die gleichnamige Serienadaption für Prime Video „The Power“, deutscher Titel „Die Gabe“. Dabei geht es nicht um eine Superheldengeschichte im herkömmlichen Sinn, wie sie inzwischen in Massen nicht nur die Kinoblockbuster-, sondern auch die Serienlandschaft beherrschen. Sondern eben um ganz normale Töchter und Schwestern, denen auf einmal elektrische Blitze aus den Fingerkuppen strömen, mal mehr, mal weniger absichtlich.

Die Auftaktfolge der ersten Staffel führt zunächst vier junge Frauen (und einen Mann) ein, die alle noch bei ihren Eltern, Pflegeeltern oder einem Elternteil leben: Da ist die Afro-Amerikanerin Allie Montgomery (Halle Bush), die in ihrem Leben von einer Pflegefamilie zur anderen weitergereicht wurde und nun bei einem streng religiösen Ehepaar in einer Provinzstadt gelandet ist. Kirchgang und Gehorsam stehen hier an oberster Stelle, wie bigott die Pflegeeltern wirklich sind, wird aber schnell klar, als Allie wagt, beim Essen das Fleisch abzulehnen. Die „Bestrafung“ des Pflegevaters entpuppt sich als Missbrauchsversuch, die offenbar daran gewöhnte Ehefrau schaltet im Untergeschoss das Radio ein, um nichts mehr davon mitzubekommen. Aber Allie weiß sich diesmal mit ihren neugewonnenen Kräften zu wehren und ist danach auf der Flucht aus dem vermeintlichen Zuhause.

In London besucht unterdessen Roxy Monke (Ria Zmitrowicz) die pompöse Hochzeit ihres Halbbruders. Sie lebt in eher ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Mutter, während ihr Vater Bernie (Eddie Marsan) ein gefürchteter Unterweltboss ist, den sie nur selten zu Gesicht bekommt. In Lagos, Nigeria versucht der junge Tunde Ojo (Toheeb Jimoh), sich seine ersten Sporen als Videojournalist zu verdienen, während sein wohlhabender Vater ihn als potentiellen Nachfolger in seinem Unternehmen ausbilden will und für die anderweitigen beruflichen Ambitionen seines Sohns kein Verständnis aufbringt. Tunde sieht allerdings seine Chance gekommen, seinen Traum zu verwirklichen, als er Augenzeuge wird, wie seine Freundin und Kollegin Ndudi (Heather Agyepong) selbst Opfer der neuen Kraft wird – und sein Video von dem Vorfall viral geht.

Rebellin ohne Grund: Bürgermeisterintochter Jos (Auli’l Cravahlo) Ludovic Robert/​Amazon Studios

In Seattle rebelliert indessen Jos (Auli’l Cravahlo), die Teenagertochter der Bürgermeisterin Margot Cleary-Lopez (Toni Collette), auf zunächst noch ganz durchschnittliche Weise gegen ihr gutbürgerliches Elternhaus. Sie träumt davon, ein normales Leben ohne Politiker-Mutter zu führen, zieht aber noch mehr Aufmerksamkeit auf sich, als sie beginnt, unbeabsichtigt Dinge in Brand zu setzen. Bürgermeisterin Margot wird durch die Betroffenheit ihrer eigenen Tochter zur weltweit ersten Politikerin, die mit dem Wissen über das neue Phänomen an die Öffentlichkeit geht.

Die Grundidee ist zweifellos faszinierend, leider sind die ersten Episoden aber etwas zu konventionell geraten. In mehreren parallel laufenden Handlungssträngen, zwischen denen meistens an der jeweils spannendsten Stelle hin und her gewechselt wird, werden die zahlreichen Figuren und ihre Lebenswelten etabliert. Dabei krankt die Serie daran, dass die ausgewählten Frauenfiguren nicht besonders zur Identifikation geeignet sind: Zu introvertiert-unterkühlt und zudem leicht religiös verblendet wirkt die geschundene Allie, zu permanent aggressiv die illegetime, zu kurz gekommene Gangstertochter Roxy. Lediglich Jos kommt ganz sympathisch rüber, obwohl man ihre ständige Genervtheit angesichts ihres heilen Elternhauses und ihrer insgesamt privilegierten Lebensverhältnisse nicht so recht nachvollziehen kann. Aber das kennt man zumindest aus zahlreichen Coming-of-Age-Serien und vielleicht auch aus eigener Jugend.

Blutige Hochzeitsparty: Gangstertochter Roxy Monke (Ria Zmitrowicz) Ludovic Robert/​Amazon Studios

Als Identifikationsfiguren für das erwachsene Publikum dienen Toni Collette („Taras Welten“) und ihr TV-Ehemann Rob (der ebenfalls aus zahlreichen Serien wie „Emergency Room“ bekannte John Leguizamo) als Musterelternpaar: liebe- und verständnisvoll gegenüber ihren Kindern, rational und mit klarem (demokratisch-progressiven) Wertekompass, wenn auch naturgemäß mit zuwenig Zeit für die Familie. Interessant sind auch die Bezüge zu realen uralten, gerade in den USA aber leider immer noch hochaktuellen bio- und frauenpolitischen Diskussionen, die die Bürgermeisterin in ihrer ersten Rede herstellt: Immer, wenn in der Vergangenheit Politiker versucht hätten, Frauen vorzuschreiben, ob sie über ihre eigenen Körper bestimmen dürfen, habe das für Frauen katastrophale Folgen gehabt.

Als leichter Gegenentwurf zur engagierten Demokratin Margot wird ihr Parteifreund und Governor des Bundesstaats Washington Daniel Dandon (Josh Charles, „Good Wife“) eingeführt, dem seine Wahlkampfkampagne wichtiger ist als die Aufklärung der Bevölkerung. So ganz klar verteilt sind die Rollen zwischen Gut und Böse allerdings nicht durchgehend. So erscheint eine von der katholischen Kirche exkommunizierte Schwesternschaft, bei der Allie Unterkunft findet, einerseits etwas suspekt, andererseits bezeugen Fotos, dass sie sich in der Vergangenheit für AIDS-Forschung und LGBT-Rechte eingesetzt hat. Eine junge Frau, die streng gläubig ist und über bemerkenswerte Kräfte verfügt, könnte für die Pläne einer solchen Gruppe jedenfalls höchst hilfreich sein.

Wird zum politischen Gesicht des Phänomens: Bürgermeisterin Margot Cleary-Lopez (Toni Collette) mit Gatte Rob (John Leguizamo) und Kindern Ludovic Robert/​Amazon Studios

Wirklich verzichtbar wäre die pseudowissenschaftliche Erklärung für die Kräfte gewesen, die überall auf der Welt bei jungen Frauen entstehen. Warum es diese „Gabe“ plötzlich gibt, ist für die Geschichte im Grunde irrelevant, geht es doch darum, wie sie sich ge- oder auch missbrauchen lässt. Der Trailer deutet hier einiges an, von religiösen bis politischen Zielen. In den ersten drei Folgen ist davon jedoch noch nichts zu sehen. Erschreckend sind aber schon die ersten Reaktionen der Verwaltung, wenn betroffene Schülerinnen erstmal mit Handfesseln versehen und isoliert werden. Auch die Behandlung einer weiteren Betroffenen im Krankenhaus erinnert tatsächlich an das, was die Wissenschaftler in dem Filmklassiker mit E.T. machten, worauf Margot einmal anspielt.

Die Inszenierung ist insgesamt gelungen (Regie führten unter anderen Logan Kibens, „Snowfall“, Ugla Hauksdóttir, „Hanna“ und Lisa Gunning, „Seven Psychopaths“): schnell, modern, aber auch mal mit Raum für leisere Charaktermomente und mit Gespür für Landschaften und Wetterphänomene. Auch der Soundtrack, der je nach Figur zwischen Rap und Indiepop changiert, überzeugt. Die JungdarstellerInnen haben Potential und etablierte Serienstars wie Collette und Leguizamo sieht man eigentlich immer gerne. So richtig mitreißend ist das erste Staffeldrittel leider noch nicht. Die richtigen Zutaten dafür sind aber vorhanden, dass sich „Die Gabe“ noch zu einer richtig spannenden und gesellschaftlich relevanten Serie entwickeln könnte.

Dieser Text basiert auf der Sichtung der ersten drei Episoden von „Die Gabe“.

Meine Wertung: 3,5/​5

Die neunteilige erste Staffel startet am Freitag, den 31. März mit drei Folgen bei Amazon Prime Video. Die weiteren Episoden folgen dann jeweils freitags.

Über den Autor

Marcus Kirzynowski ist Düsseldorfer Journalist und Serienfreund; wuchs mit „Ein Colt für alle Fälle“, „Dallas“ und „L.A. Law“ auf; Traumarbeitgeber: Fisher & Sons, County General Notaufnahme; die Jobs auf dem Battlestar Galactica und im West Wing wären ihm hingegen zu stressig; Wunschwohnort: Cicely, Alaska. Schreibt über amerikanische und europäische TV-Serien sowie andere Kultur- und Medienthemen, u.a. für fernsehserien.de und sein eigenes Online-Magazin Fortsetzung.tv.

Lieblingsserien: Six Feet Under, Emergency Room, The West Wing

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