„Achtsam morden“ mit Tom Schilling verführt sogar kritische Geister – Review

Netflix übernimmt brutalen und lustigen Bestseller von Karsten Dusse

Stefan Genrich
Rezension von Stefan Genrich – 30.10.2024, 17:30 Uhr

Rechtsanwalt Björn Diemel (Tom Schilling) will „Achtsam morden“. – Bild: Julia Terjung / Netflix
Rechtsanwalt Björn Diemel (Tom Schilling) will „Achtsam morden“.

Manche Folterszenen sollten lieber der Phantasie überlassen bleiben: In seinem Roman „Achtsam Morden“ pflegt Karsten Dusse den schwarzen Humor, der auf den Bildschirmen verflacht und dadurch niedere Instinkte anspricht. Immerhin fasziniert Tom Schilling als Rechtsanwalt Björn Diemel, der Stress und Chaos durch Morde bewältigt. In der ersten Staffel einer möglichen Serie „Achtsam morden“ tötet Björn beiläufig Gangster Dragan Sergović (Sascha Geršak). Auf Netflix gehorcht er ab dem 31. Oktober den Ratschlägen von Joschka Breitner (Peter Jordan). Trotz seiner Klugheit übersieht der Coach die tödlichen Wirkungen.

Langsam kommt Björn (Tom Schilling) dem zerrissenen Verbrecher Sascha (Murathan Muslu) näher. Julia Terjung /​ Netflix

Anwalt verwöhnt Tochter und lässt Gangster im Kofferraum verenden

Die Verfilmung übernimmt Vorgaben des Bestsellers. Allerdings tritt ein früherer Studienfreund in den Hintergrund. Jetzt fällt Björn unter Verdacht seiner ehemaligen Geliebten Nicole (Britta Hammelstein), die ihre Fälle bei der Polizei löst. Seine Ehefrau Katharina (Emily Cox) setzt Björn unter Druck. Warum der liebenswerte Mistkerl die Beziehung retten will – keine Ahnung! Er wünscht mehr Lebensqualität und eine stabile Verbindung mit dem bezaubernden Töchterchen Emily (Pamuk Pilavci). Deshalb verwöhnt er das Mädchen mit einem Wochenende an einem See. Gleichzeitig krepiert Verbrecher Dragan im Kofferraum von Papas Auto. Später irritiert der Leichengeruch das ahnungslose Kind.

Björn verhindert Bandenkrieg und erpresst Kindergarten

Stets hat Björn nach eigenen Regeln gehandelt. Unbeabsichtigt liefert Joschka Vorwände. Katharina empfiehlt Björn das Coaching zur Achtsamkeit, um sein Gleichgewicht zwischen Karriere und Familie zu fördern. Dank der erlernten Techniken kann das Paar heilsamen Abstand einhalten. Nach anfänglichem Widerstand interpretiert Björn Achtsamkeit für seine Zwecke. Dabei verhindert er einen Bandenkrieg, gewinnt Dragans Helfer Sascha als Freund und erpresst die Betreiber eines Kindergartens. Weitere Morde helfen, Probleme zu sortieren und zu lösen. Gewalt und Gemetzel beunruhigen wiederum die Clans und die Polizei.

Nicole (Britta Hammelstein) grübelt über Leichen und Verdächtige. Courtesy of Netflix 2024

Blutrote Fontäne ergießt sich in See

Gleich zu Beginn lässt Tom Schilling den zwielichtigen Charakter von Björn Diemel schillern. Er vermittelt einen entspannten Eindruck, denn er genießt die Idylle an einem See. Eine verhüllte Schubkarre stört die Harmonie. Aus dem Hintergrund rechtfertigt der Naturliebhaber seinen Charakter: Ich bin kein gewalttätiger Mann – ganz im Gegenteil. Einer wehrlosen Schnecke ausweichend behauptet er, sich niemals geprügelt zu haben: Und den ersten Menschen habe ich auch erst mit 42 umgebracht. Gut, in der Woche darauf hatte ich dann schon das halbe Dutzend voll – aber in bester Absicht.

Sowohl unsichtbar als auch direkt zugewandt teilt Björn immer wieder seine Gedanken mit den Zuschauerinnen und Zuschauern. Nun trägt er Schutzkleidung. Er stopft einen abgetrennten Fuß in den Einfüllstutzen eines Häckslers. Dann ergießt sich eine blutrote Fontäne in den See, während weitere Überbleibsel den Serientitel „Achtsam morden“ formen. Dieser Exzess könnte manche Leute abstoßen. Andererseits ist das Lachen über die absurde Szene kaum zu unterdrücken. Ständig umgarnt die Hauptfigur ihre Mitmenschen mit Schalk und Charme – wie zuvor etwa in „Ich und die Anderen“ sowie „Der gleiche Himmel“.

Coach empfiehlt Achtsamkeit statt esoterischem Müll

Björn liebt den Wohlstand, den sein wichtigster Mandant Dragan Sergović beschert: Meine Familie lebte sehr gut davon – leider ohne mich, trauert der fleißige Anwalt über verpasste Geburtstage seiner Tochter Emily und Dauerstreit mit seiner Frau Katharina. Er betrachtet den Anführer mitsamt seinem Clan als Voll-Asis und Idioten. Trotzdem hübscht der Rechtsverdreher die Geschäfte mit Drogen, Prostitution und Waffenhandel auf. Zunächst bewertet er Achtsamkeit als esoterischen Müll. Ungeachtet solcher Vorurteile überrascht Joschka Breitner mit erhellenden Hinweisen. Rückblenden auf die Beratungsgespräche begleiten die Handlung. Sie wirken wie Botschaften aus überirdischen Sphären: Ins passende Licht gesetzt fesselt Peter Jordan durch Betonungen und Gesten.

Ohnehin bieten sogar Nebendarsteller starke Leistungen. So ist zu genießen, wie Ekelpakete von der Kanzleisekretärin bis zu den Teilhabern auf Björns Verwandlung reagieren. Als Drogenhändler Toni weckt Marc Hosemann („Die Discounter“) Ängste vor solchen Typen. Als Dragans Laufbursche Sascha wechselt Murathan Muslu („Am Anschlag – Die Macht der Kränkung“) zwischen Einfühlungsvermögen und Rücksichtslosigkeit.

Dragan (Sascha Geršak, r.) treibt seinen Anwalt Björn Diemel (Tom Schilling) in die Enge. Julia Terjung /​ Netflix

Drehbuchautor kommt von „Hagen – Im Tal der Nibelungen“

Wesentliche Ideen stammen aus Karsten Dusses Original. Der leitende Autor Doron Wisotzky setzt seine Duftmarken, so wie zuletzt im Kinofilm mitsamt der zugehörigen Miniserie „Hagen – Im Tal der Nibelungen“. Bislang bevorzugt er einteilige Formate – gerne für die Leinwand. Matthias Schweighöfers Kumpel hat den Sinn für Gags in gemeinsamen Projekten trainiert. Dabei sind die Hits „What a Man“ und „Schlussmacher“ entstanden. Auch der mehrfach ausgezeichnete Knüller „Contra“ von Sönke Wortmann belegt das Talent von Doron Wisotzky, der sich erstmals auf eine Serie konzentriert. Seinem Team mit Annekke Janssen („How to Dad“) und Michael Kenda gelingen die Drehbücher schon alleine dank der gefälligen Vorlage.

Romanautor Karsten Dusse mischt bei „Ladykracher“ mit

Als zugelassener Rechtsanwalt beherrscht Karsten Dusse das Fachgebiet seiner Hauptfigur. Im Studium startet er als Kabelträger und Anheizer bei TV-Shows. Später unterhält er sein Publikum als Fernseh- und Radiomoderator. Den Zuschauerinnen und Zuschauern von „Freitag Nacht News“ gefällt sein Straßenreporter namens Wulf Assols. Karsten Dusse kassiert den Deutschen Fernsehpreis und den Deutschen Comedypreis – zum Beispiel für seine Verantwortung bei „Ladykracher“. Ausgefeilte Szenen überzeugen die Leserinnen und Leser von „Achtsam morden“. Indes vermeidet er den Fehler, im Drehbuch zu pfuschen.

Coach Joschka Breitner (Peter Jordan, l.) überrascht Björn Diemel (Tom Schilling) mit frischen Einsichten zur Achtsamkeit. Julia Terjung /​ Netflix

Qualitätsserien verharmlosen oder verherrlichen Gewalt

Björn entwickelt eine sonderbare Strategie, widerliche oder bloß störende Menschen zu ermorden. Er begründet seine Aktivitäten mit der Notwendigkeit, zur Ruhe zu kommen und seine Liebsten zu schützen. Der Jünger der Achtsamkeit will sich nicht mehr verzetteln, sondern ankert im Hier und Jetzt. Dann befreit der motivierte Vater eben nicht den Kerl aus dem Kofferraum, wenn Tochter Emily sämtliche Aufmerksamkeit an einem schönen Wochenende benötigt.

Solch perverse Situationen und brutale oder eklige Stellen verunsichern einige Zuschauerinnen und Zuschauer. Vorwürfe lasten zum Beispiel auf „Dexter“ und „Breaking Bad“, Gewalt und Selbstjustiz zu verharmlosen oder gar zu verherrlichen. Letztlich kann uns niemand die Entscheidung abnehmen, fragwürdige Erfolgsserien zu verschlingen oder zu vermeiden. Jedenfalls verführt „Achtsam morden“ selbst kritische Geister.

Dieser Text beruht auf der Sichtung von drei aus acht Folgen „Achtsam morden“.

Meine Wertung: 4/​5

Netflix zeigt alle Episoden von „Achtsam morden“ ab Donnerstag, dem 31. Oktober. Die Staffel zum Start verwertet den ersten Roman der Reihe, die bislang aus fünf Teilen besteht: Diese Bestseller bieten also Stoff für mögliche Fortsetzungen bei Netflix – sie sind als Taschenbücher, E-Books und Hörbücher erschienen.

Über den Autor

Seit 2016 hat Stefan Genrich Websites entwickelt und an einer Hochschule unterrichtet. Vor einer siebenjährigen Pause bei fernsehserien.de würdigte er das weihnachtliche TV-Programm im United Kingdom: Sein Herz schlägt für britisches Fernsehen. Daher verfolgt er jeden Cliffhanger von „Doctor Who“. Der Journalist kritisiert nebenberuflich Serien. Ihn ärgern Mängel bei ARD und ZDF – oder er genießt „Tagesthemen“ sowie „Nord bei Nordwest“. Frühe Begegnungen mit „Disco“ und „Raumschiff Enterprise“ haben Spuren hinterlassen. Später scheiterte Stefan beim Versuch, die Frisur von „MacGyver“ zu kopieren. Wegen „Star Trek: Strange New Worlds“ und „1923“ mag er Paramount+.

Lieblingsserien: Frasier, Raumpatrouille, Star Trek – Deep Space Nine

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