Das Beste aus dem Serienjahr 2020: Christophers Highlights

Was mich im letzten Jahr begeistert hat

Christopher Diekhaus – 06.01.2021, 17:30 Uhr

Lily (Sonoya Mizuno) untersucht in der Science-Fiction-Serie „Devs“ den Tod ihres Freundes. – Bild: hulu
Lily (Sonoya Mizuno) untersucht in der Science-Fiction-Serie „Devs“ den Tod ihres Freundes.

2020 wird vermutlich als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem die Menschen in ihren heimischen vier Wänden so ausgiebig wie nie zuvor Filme und Serien konsumierten. Während der Kinomarkt im Zuge der Lockdowns zwischenzeitlich komplett zum Erliegen kam, boomte fortlaufend das Geschäft der Streaming-Dienste, die allen Widrigkeiten zum Trotz ausreichend Material zur Zerstreuung offerieren konnten.

Der immer größer werdende Pool an Playern im Bereich der fiktionalen Unterhaltung zieht, zumindest gefühlt, immer mehr Neuankündigungen nach sich. Was es den potenziellen Rezipienten wiederum schwerer macht, den Überblick zu behalten. Obwohl viel Masse statt Klasse produziert wird, ständig von Remakes und Spin-Offs zu lesen ist, gibt es im weiten Ozean der Serienwelt zahlreiche gelungene Beispiele, die den Zuschauer fesseln, zum Lachen oder Nachdenken bringen und manchmal auf erstaunliche Weise herausfordern. Auch 2020 überraschte mit einigen ungewöhnlichen, sehenswerten Arbeiten – nicht wenige davon entstanden abseits der großen Streaming-Portale. Meine persönliche Top 5 des abgelaufenen Jahres bezieht sich ausschließlich auf Neustarts, wenngleich es sicherlich einige famose Serienfortsetzungen gab.

Meine Serienhighlights 2020
Platz 5: „Sløborn“ (ZDF): Eine Katastrophenserie wie gemacht für das Seuchenjahr 2020! Obschon einige Zeit vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie entwickelt, zeichnen sich in der von Christian Alvart („Dogs of Berlin“) erdachten ZDF-Produktion beängstigende Parallelen zur Wirklichkeit ab. Ein tödliches Virus, hier Taubengrippe genannt, erreicht in „Sløborn“ die titelgebende fiktive Insel im deutsch-dänischen Grenzgebiet und stürzt das Leben der Bewohner ins Chaos. Wie man es von Thriller- und Horrorfan Alvart kennt, scheut er nicht vor drastischen Überspitzungen zurück. Und schon zur Hälfte zeigt sich, dass die Handlung thematisch überfrachtet ist. Der Serie gelingt es aber dennoch vortrefflich, die Spannung stetig anzuheizen und den Zuschauer in das Krisenszenario hineinzuziehen. Bemerkenswert ist neben den überzeugend aufspielenden Jungdarstellern – besonders erwähnenswert: Emily Kusche – der für deutsche Verhältnisse beachtliche Ausstattungsaufwand, der die Dramatik der Lage glaubhaft zu vermitteln hilft. Einige am Ende in der Luft hängende Handlungsfäden könnten übrigens in der bereits angekündigten zweiten Staffel weitergesponnen werden.ZDF
Platz 4: „I Am Not Okay with This“ (Netflix): Serien über Teenager mit Superkräften gibt es nicht gerade wenige. Deren Hauptfiguren sind aber selten so faszinierend wie die 17-jährige Sydney Novak in der Comic-Adaption „I Am Not Okay with This“. Nach dem Selbstmord ihres Vaters kämpft die Jugendliche nicht nur mit ihrer Trauer und ihrer Mutter. Auch die heimliche Liebe zu ihrer besten Freundin und die Erkenntnis, dass sie mit ihren Gedanken und Gefühlen außergewöhnliche Dinge vollbringen kann, sorgen für handfeste Verwirrung. Die an Stephen Kings Coming-of-Age-Horrorroman „Carrie“ erinnernde Geschichte ist zum Teil herrlich sarkastisch, schlägt in der Auseinandersetzung mit typischen Teenagerängsten aber auch berührende, ernste Töne an. Dass einen die in knackig-kurzen Folgen dargebotene Serie in ihren Bann zieht, liegt vor allem an Hauptdarstellerin Sophia Lillis („Sharp Objects“), der eine große Karriere bevorstehen dürfte. Rotzigkeit und Verletzlichkeit paaren sich in ihrem Spiel auf mitreißende Weise.Netflix
Platz 3: „The Eddy“ (Netflix): Im Veröffentlichungsfluss des Streaming-Riesen ging die achtteilige Dramaserie leider etwas unter. Jack Thorne („His Dark Materials“) und Damien Chazelle („La La Land“) entführen uns auf eine ungemein stimmungsvolle Reise in ein multikulturelles Pariser Musikermilieu jenseits üblicher Postkartenklischees. Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist der titelgebende, in wirtschaftlichen Schwierigkeiten steckende Live-Club, mit dem diverse Lebenskünstler verbunden sind. Ein Verbrechen sorgt zwar für dramaturgischen Dampf. Packend ist „The Eddy“ jedoch meistens dann, wenn die Netflix-Produktion ihre Figuren genauer ausleuchtet und zu ausgedehnten Jam-Sessions ansetzt. In herausragender Weise etwa bei einer unkonventionellen Trauerfeier. Die kreative Energie der Jazz-Nummern ist mit Händen zu greifen und könnte auch diejenigen mitreißen, die dieser Musik sonst eher reserviert gegenüberstehen.
Netflix
Platz 2: „The Third Day“ (HBO/​Sky): Schon das Setting sorgt für ein mulmiges Gefühl: „The Third Day“ spielt auf der real existierenden Insel Osea, die nur über einen schmalen, lediglich bei Ebbe passierbaren Schotterweg erreichbar ist. Eben hierhin verschlägt es den von Jude Law („The New Pope“) in einer Tour-de-Force-Performance verkörperten Sam, nachdem er eine junge Frau vor dem Selbstmord bewahrt hat. Während die Episoden eins bis drei seine Konfrontationen mit den Insulanern schildern, die archaische Bräuche pflegen, schlägt sich in den Folgen vier bis sechs die von Naomie Harris („Moonlight“) dargestellte Helen mit den unheimlichen Bewohnern herum. Dass die beiden „Sommer“ und „Winter“ betitelten, zeitlich voneinander getrennten Stränge in einer Verbindung stehen, liegt auf der Hand. Die grauenhaften Dimensionen der Beziehung offenbaren sich allerdings erst nach und nach. Kenner des britischen Schauerkinos dürfte die Miniserie unweigerlich an „The Wicker Man“, den Klassiker des Folklorehorrors, erinnern. Ein billiger Abklatsch ist „The Third Day“ aber mitnichten. Vielmehr entspinnt sich vor unseren Augen eine atmosphärisch ungemein dichte Mischung aus Psychothriller und Drama, die bestürzend eindringlich von Verlust, Trauer, Schuld und familiärer Verantwortung erzählt. Formal sticht der Jude-Law-Abschnitt hervor, der durch Unschärfe, seltsame Kamerawinkel, eigenartige Farbspiele, extreme Nahaufnahmen und ein experimentelles Sounddesign eine komplett aus den Fugen geratene Welt heraufbeschwört. Sams Erleben kommt einem Abstieg in die Hölle gleich. Die Harris-Passage ist deutlich klassischer gefilmt, deshalb aber nicht weniger spannend. Neben den Sommer- und Winter-Teilen gibt es auch ein zwischengeschaltetes, „Herbst“ genanntes Kapitel, das als zwölfstündiges, in einer einzigen Einstellung gedrehtes Live-Event ausgestrahlt wurde. Für das Verständnis der Serie ist dieses Mittelstück nicht notwendig. Als innovatives, den Inselschauplatz noch genauer erforschendes Erzählelement ist es jedoch allemal reizvoll.
Sky
Platz 1: „Devs“ (FX on Hulu): Dass er drängende Zukunftsfragen in eine fesselnde, optisch berauschende Geschichte verpacken kann, stellte Alex Garland unter anderem in seinem Regiedebüt „Ex Machina“ unter Beweis. Ähnlich eindrucksvoll ist auch seine Science-Fiction-Miniserie „Devs“, die es dem Zuschauer mit ihrem langsamen, manchmal meditativen Tempo sicherlich nicht allzu leicht macht. Sind alle Ereignisse vorbestimmt? Oder besitzt der Mensch etwas so Wirkmächtiges wie einen eigenen Willen? Garland packt große Fragen an und bindet sie in eine unaufgeregt dahinfließende detektivische Erzählung ein: Die Softwareingenieurin Lily Chan (Sonoya Mizuno) will den vermeintlichen Selbstmord ihres Freundes Sergei (Karl Glusman) aufrollen, der kurz vor seinem Tod in eine geheime Spezialabteilung des in San Francisco beheimateten Tech-Konzerns „Amaya“ versetzt wurde. Der Protagonistin hätte man sicherlich noch mehr Profil verleihen können. Nichtsdestotrotz fiebert man sehr schnell mit der misstrauischen Lily mit, zumal der Betrachter, anders als die Hauptfigur, schon in der ersten Folge erfährt, was Sergei tatsächlich widerfahren ist. „Devs“ lebt von einer seltsam unwirklichen, diffus bedrohlichen Stimmung, liefert mit seinen deterministischen Überlegungen allerhand Diskussionsfutter, findet prägnante Bilder für die Wir-spielen-Gott-Visionen im Silicon Valley und sieht schlichtweg umwerfend aus. Allein das Innere der in einem Betonklotz sitzenden „Amaya“-Sondereinheit ist ein Meisterstück visueller Gestaltung.
hulu

In einer lockeren Reihe blicken die Serienkritiker von fernsehserien.de nach dem Jahreswechsel auf die Formate, die sie in den vergangenen zwölf Monaten gesehen haben. Das können neue Serien sein, aber auch neu entdeckte.

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