75 Jahre ARD: Trau dich was! – Vier Produktionen jenseits von Fernsehkonventionen

Mutige Genreexperimente aus der ARD-Geschichte

Christopher Diekhaus
Christopher Diekhaus – 12.04.2025, 09:00 Uhr

Ulrich Tukur im preisgekrönten „Tatort: Im Schmerz geboren“ – Bild: hr/Philip Sichler
Ulrich Tukur im preisgekrönten „Tatort: Im Schmerz geboren“

In diesem Jahr feiert die ARD ein großes TV-Jubiläum, nämlich ihr 75-jähriges Bestehen. Den Geburtstag nimmt auch die Redaktion von fernsehserien.de zum Anlass, um der ARD zu gratulieren: In den kommenden Wochen teilen Redakteure und Mitarbeiter der unterschiedlichsten Generationen ihre persönlichen Erinnerungen und Gedanken rund um die ARD. Heute erinnert unser Serienreviewer und Newsredakteur Christopher Diekhaus an vier mutige ARD-Produktionen jenseits von Fernsehkonventionen.

Beginnen wir mit einem Geständnis: Auch ich gehöre zu den Menschen, die gerne über die Hasenfüßigkeit der deutschen Fernsehsender lamentieren. Es fehlt der Mut, innovative Filme und Serien auf den Weg zu bringen, Dinge auszuprobieren, die Komfortzonen und das Formatdenken hinter sich zu lassen. Da ich vor einigen Jahren noch für eine Produktionsfirma tätig war, weiß ich nur zu gut, dass diese Vorstellung kein an den Haaren herbeigezogenes Klischee ist. Im Gegenteil, leider sieht die Realität oft deprimierend aus. Stoffe, die zu stark an Konventionen rütteln, die das Publikum überfordern könnten, haben es schwer. Selbst heute, in Zeiten, in denen der Bedarf an Inhalten für die Mediatheken einige Genreexperimente ermöglicht.

Aber: Muss man immer das Negative betonen? Lohnt es sich nicht vielleicht, zur Abwechslung das Positive hervorzuheben? Über Beispiele zu schreiben, die meine Ausgangsthese zumindest etwas widerlegen? Versuchen wir es einfach! Ein guter Anlass ist da der 75. Geburtstag der ARD. Natürlich hat auch diese Fernsehanstalt reichlich Konfektionsware im Angebot (man denke nur an all die über Europa verteilten Krimireihen!). Allerdings gilt: Wer suchet, der findet! Zwischen stereotypen Produktionen gibt es durchaus Filme und Serien, die etwas wagen, die andere Wege gehen, ungewöhnliche Schauplätze aufsuchen und mit originellen Figuren überraschen.

Schauen wir am Anfang unseres Exkurses zurück ins Jahr 1970, genauer gesagt auf den 18. Oktober. Auf jenen Tag, an dem die von TV-Visionär Wolfgang Menge geschriebene und von Tom Toelle inszenierte Mediensatire „Das Millionenspiel“ ihre Erstausstrahlung in der ARD feierte. Der Plot: Ein Mann nimmt an einer fiktiven Spielshow teil und muss, um den stattlichen Gewinn einzustreichen, sieben Tage vor einer Killerbande quer durch Deutschland fliehen. Aus heutiger Sicht ein geradezu prophetischer Film, der die Auswüchse des Reality-Fernsehens überspitzt vorwegnimmt und noch dazu die Verquickung von Unterhaltung und Konsumsteuerung aufspießt. Da sich das Werk einen dokumentarischen Anstrich gibt, waren viele Zuschauer nach der Premiere irritiert und machten im Glauben, eine reale Menschenjagd gesehen zu haben, ihrem Ärger Luft. Rechtsstreitigkeiten – Menges Drehbuch basiert auf einer Kurzgeschichte des US-Autors Robert Sheckley – sorgten dafür, dass „Das Millionenspiel“ nach der zweiten Ausstrahlung rund 30 Jahre lang im Giftschrank verschwand. Erst Anfang der 2000er-Jahre kam der Film wieder ans Tageslicht – und wurde von mir mit großem Interesse verschlungen.

Woran ich sofort denken muss, wenn es um innovative ARD-Produktionen geht, ist der „Tatort“ mit Ulrich Tukur. Nicht alle Folgen seines Felix Murot haben mich mitgerissen und überzeugt. Erfrischend ist dennoch die Experimentierfreude, die der auftraggebende Hessische Rundfunk immer wieder demonstriert. Eine Tragödie mit Shakespeare-Wucht und Italowestern-Anleihen? „Tatort: Im Schmerz geboren“ macht’s möglich! Ein Krimi mit Zeitschleifenstruktur? Bühne frei für „Tatort: Murot und das Murmeltier“! Grenzen scheint es hier nicht zu geben. Warum auch? Wenn nicht in einer etablierten Reihe, wo dann soll man das Fenster öffnen, um frischen Wind hereinzulassen? Und überhaupt: Wer seine Krimis am liebsten klassisch serviert bekommt, wird bei diversen anderen „Tatort“-Teams fündig.

Eine Perle ist für mich auch die vom NDR verantwortete Serie „Der Tatortreiniger“, bei der ich gerne wüsste, wie lange die Macher mit ihrer Idee hausieren gehen mussten, bis sie endlich positive Rückmeldung erhielten. Das Konzept – ein Mensch, der Spuren des Ablebens an unterschiedlichsten Orten beseitigt und dabei mit immer neuen Personen ins Gespräch kommt – dürfte in vielen Redakteursohren nicht gerade nach perfekter Unterhaltung geklungen haben. Die aus den kammerspielartigen Situationen ein Maximum an Witz herausholenden Drehbücher Mizzi Meyers (im echten Leben hört sie auf den Namen Ingrid Lausund) und das herrlich trockene Spiel von „Stromberg“-Star Bjarne Mädel machen „Der Tatortreiniger“ aber zu einem knackig-geistreichen Zeitvertreib. Kein Wunder, dass das Format auch im Ausland Anklang fand und in Großbritannien gar adaptiert wurde. Welche deutschen Produktionen können das schon von sich behaupten?

Beschließen möchte ich meinen Ausflug in die Welt der unkonventionellen ARD-Arbeiten mit dem Film „Sechzehneichen“, der unverkennbar von Ira Levins Roman „Die Frauen von Stepford“ inspiriert ist. Ein Ehepaar zieht darin mit seiner kleinen, unter Hustenanfällen leidenden Tochter in die titelgebende Gated Community auf dem Land, wo der Mann schon bald in den Bann der anderen dort lebenden Herren gerät. Seine Gattin wiederum bleibt skeptisch, hat zunehmend das Gefühl, an einem Ort gelandet zu sein, an dem Frauen unterdrückt und gefügig gemacht werden sollen. Die Mischung aus Drama, Thriller und Gesellschaftssatire bietet mit ihrer umsichtig-stilvollen Inszenierung und ihrem offenen Ende in meinen Augen auf dem Sendeplatz des Mittwochsfilms eine willkommene Abwechslung zu den oft stark standardisierten, manchmal arg um Relevanz bemühten sozialen Problemwerken.

Laura (Heike Makatsch, links) erhält in der Gated Community plötzlich Besuch von ihrer Schwester Ella (Sandra Borgmann) ARD/​Thomas Rusch

Mein kleiner Streifzug erhebt – natürlich – keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Mir selbst führen die vier genannten Beispiele jedoch vor Augen, dass ich in meinem negativen Urteil über das Programm der deutschen Fernsehsender, in diesem Fall der ARD, vielleicht ein bisschen zu streng bin. Schaut man genau hin, findet man einige Schätze, Besonderheiten und Kuriositäten, die es verdient haben, stets aufs Neue (wieder)entdeckt zu werden. In diesem Sinne: Happy Birthday!

Siehe auch folgenden Beitrag aus der Artikelreihe: 75 Jahre ARD: Sender ohne Furcht und Stadl

Über den Autor

Christopher Diekhaus, Jahrgang 1985, erlebte seine TV-Sozialisation in den 1990er-Jahren. Seine echte Liebe für den Flimmerkasten entbrannte allerdings erst gegen Ende der Schulzeit. Nach seinem Studium landete er zunächst in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma. Seit 2013 schreibt Christopher als Freiberufler Film- und Serienkritiken. Das Portal fernsehserien.de unterstützt er seit Ende 2019. Im Meer der Veröffentlichungen die Perlen zu entdecken – diese Aussicht spornt ihn immer wieder an. Insgeheim hofft er, irgendwann eines seiner in der Schublade liegenden Drehbücher zu verkaufen. Bis er den Oscar in Händen hält, sichtet und rezensiert er aber weiter fleißig die neuesten Serien.

Lieblingsserien: Devs, Lass es, Larry!, Severance

Kommentare zu dieser Newsmeldung

  • am via tvforen.de

    "Millionenspiel", "Murot"-Tatorte und der "Tatortreiniger" - wo ist Nummer Vier der lobenswerten Produktionen abgeblieben?
    • am via tvforen.de

      Die vierte Produktion ist "Sechzehneichen" (vorletzter Absatz).

      Diese Frage wurde bereits gestern vom User Datenreisender (12.04.2025, 10:24) in den News-Kommentaren gestellt.

      Auf manchen Endgeräten wird anscheinend der vorletzte Absatz nicht angezeigt - habe ich tatsächlich auch so bei der Darstellung auf einem alten iPad gesehen. Falls es bei der Darstellung von wunschliste.de Probleme gibt, kann man alternativ auf fernsehserien.de ausweichen:
      https://www.fernsehserien.de/news/special/75-jahre-ard-trau-dich-was-vier-produktionen-jenseits-von-fernsehkonventionen.
    • am via tvforen.de

      Ah, danke schön. :) Ja, dieser Absatz wird mir wirklich nicht angezeigt.
      Nach

      Kein Wunder, dass das Format auch im Ausland Anklang fand und in Großbritannien gar adaptiert wurde. Welche deutschen Produktionen können das schon von sich behaupten?

      folgt da sofort

      Mein kleiner Streifzug erhebt - natürlich - keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
  • am

    Mindestens zwei weitere "Tatort"-Folgen mit Murot sind genauso gut wie "Im Schmerz geboren": "Murot und das Murmeltier", angelehnt an "Und täglich grüßt das Murmeltier" von Harold Ramis, sowie "Angriff auf Wache 08" nach John Carpenters "Assault - Anschlag bei Nacht".
    • am

      Beschließen möchte ich meinen Ausflug in die Welt der unkonventionellen ARD-Arbeiten mit dem Film „Sechzehneichen“, der unverkennbar von Ira Levins Roman „Die Frauen von Stepford“ inspiriert ist.
      • am

        Millionenspiel, Tatort und Tatortreiniger: Welches ist denn die vierte Produktion? Oder sind bei Tatort gleich zwei gemeint?
        • (geb. 1948) am

          "Sechzehneichen" mit Heike Makatsch ist gemeint.
      • am

        Jau das Totort-Gemetzel mit Murot ist schon stark! 👍

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