Reproducts-Fernsehmuseum Hamburg & Berlin

Spiegelkabinett mit doppeltem Boden

Jutta Zniva – 23.10.2006

Sexualität bei „Lieber Onkel Bill“? Alte Tierfilme als Spielfelder der Propaganda? Die Talkshow als seelischer Geschlechtsakt bei Jürgen Fliege? Kokain bei Quincy? Haschisch bei Percy Stuart. Ja, gar beim Kommissar? Seit fast zehn Jahren wirft das Reproducts-Fernsehmuseum sozioanalytische, kultur- und ideologiekritische Blicke aufs Kraftfeld Fernsehen. Altes Fernsehmaterial aber auch ganz aktuelle TV-Schätzchen werden gesammelt, archiviert, recycelt und regelmäßig gezeigt.

Einblicke in die hinreissenden Ergebnisse gibt es nicht nur auf reproducts.de, sondern auch ganz real in Hamburg und Berlin. Wunschliste.de befragte Stefan Eckel, Medienkünstler und -analytiker, Autor und TV-Museumswart bei Reproducts, nach den so genannten Tagungen des Fernsehmuseums und ihren thematischen Schwerpunkten:

Stefan Eckel: Jeden ersten Dienstag in Hamburg und jeden ersten Freitag in Berlin treffen Besucher, Raum und Fernsehsendungen aufeinander, um gemeinsam eine soziale Plastik im Beuys’schen Sinne zu gestalten. Das jeweilige Thema wird von uns, Reproducts, vorgegeben. Nach einer kurzen Einführung sehen sich die Teilnehmer gemeinsam die ausgewählten Sendungen an. Danach besteht die Möglichkeit, wegzugehen, sich über das Erlebte auszutauschen oder einfach nur so zu verweilen.Mit der Sozialen Plastik des Reproducts-Fernsehmuseums verfolgen wir zwei Ziele: Zunächst die Wiederentdeckung des konzentrierten Sehens in einer Gemeinschaft. Zu diesem Zweck werden nur komplette Sendungen angesehen, aus denen lediglich eventuelle Werbeblöcke herausgenommen wurden. Weiterhin soll die thematische Zusammenstellung des Materials Muster im Fernsehen aufzeigen, eigene Sehgewohnheiten irritieren und Querbezüge herstellen, die so vielleicht noch nicht gesehen wurden. Wir nennen das die „Schule des selektiven Sehens“. Anders gesagt: Wir leisten dem Gehirn Starthilfe dabei, genauer zu sehen und zu hören, was es da eigentlich aufnimmt. So gelingt es möglicherweise, einen überlegteren Bezug zu der äußerst artifiziellen TV-Realität herzustellen – die trügerischer Weise so nah und so natürlich wirkt. Die besondere Herausforderung ist dabei das gemeinsame Sehen, das den Einzelnen entweder in der kollektiven Euphorie fortreißt oder im Falle eines Dissenses auch die Frage nach dem Verhältnis vom Individuum zur Gruppe aufwirft.

Da wir selbst große Freunde des Seriellen sind, beschäftigen wir uns viel mit typischen Serien-Plots. So wird zum Beispiel in fast jeder klassischen Serie der 60er bis 90er Jahre ein Protagonist entweder blind, gelähmt oder hat Gedächtnisschwund. Wir stellen dann Folgen zusammen, die große Unterschiede oder große Ähnlichkeiten in der Umgangsweise mit diesem Problem zeigen. Ein anderes Thema sind Gaststars, die einer Serie aus einem Quotental heraushelfen sollen. Gemein ist diesen rekurrierenden Plot-Strukturen, dass sie immer auch Anzeichen einer in Auflösung befindlichen Serie sind. Wie jeden Wissenschaftler oder Künstler interessieren uns natürlich besonders diese Brüche. Brüche in der glatten Oberfläche des medialen Daseins, die wir allerdings auch gern selbst erzeugen. Daher beschäftigen sich viele Abende mit der Abbildung von Realität, insbesondere Alltagsrealität im Fernsehen.

Mehr über das Reproducts-Fernsehmuseum im ausführlichen Interview.

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