2023, Folge 405–419

  • Folge 405 (45 Min.)
    Für jeden Handgriff braucht er einen Pfleger, nachts, wenn er sich umdrehen will, zum Naseputzen, Zudecken, Tränentrocknen. Harald Mayer lebt in totaler Abhängigkeit. Multiple Sklerose hat ihn bewegungsunfähig gemacht. Der ehemalige Feuerwehrmann hat Angst, dass er bald weder schlucken noch atmen kann. Und trotzdem weiterleben muss. Bei vollem Bewusstsein. „Das Leben, das ich habe, das ist kein Leben mehr!“ Harald Mayer will Sterbehilfe. Die hat er nie bekommen. Denn 2015 hatte der Bundestag aktive Sterbehilfe weitgehend verboten. Doch das Bundesverfassungsgericht erklärte dieses Gesetz später für grundrechtswidrig, der Bundestag muss die Sterbehilfe neu regeln.
    Darauf hofft Harald Mayer. Der Schwerstkranke kämpft seit Jahren vor Gericht um die Herausgabe eines Medikaments, das ihn sanft im Kreis seiner Familie entschlafen ließe. Einer Sterbehilfe-Organisation möchte er sich nicht anvertrauen. Karl-Heinz Pantke wollte nie sterben, obwohl er nicht einmal mehr den kleinen Finger bewegen konnte: Locked-in-Syndrom lautete die Diagnose vor fast 30 Jahren. Doch der Physiker kämpfte sich zurück ins Leben.
    „Ich hatte heftige Suizidgedanken. Und bin froh, dass mir niemand geholfen hat.“ Pantke war immer gegen eine Liberalisierung der Sterbehilfe: „Sie sollte per Gesetz stark eingeschränkt sein.“ Karl-Heinz Pantke ist nach den Dreharbeiten leider an Corona verstorben. Käthe Nebel glaubt nicht, dass der Bundestag Sterbehilfe frei zugänglich machen wird. Die ziemlich fitte über 90-Jährige will aber nicht eines Tages in die Schweiz fahren müssen, um selbstbestimmt sterben zu dürfen. Deshalb übt sie, so makaber das klingen mag, den Freitod ohne Hilfe: in ihrem Schlafzimmer, mit einem Glas in der Hand und einer Plastiktüte über dem Kopf.
    „Der Suizid ist mein letzter Ausweg, wenn es unerträglich wird. Und den soll man mir überlassen. Und mir nicht erschweren. Ich bin empört!“ Die vielfach preisgekrönte Autorin Tina Soliman hat den unheilbar kranken Harald Mayer vier Jahre lang mit der Kamera bei seinem Kampf um einen selbstbestimmten Tod begleitet. Entstanden ist ein eindringlicher, oft sehr berührender Film, der die Sterbehilfe aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 16.01.2023NDRDeutsche Online-PremiereSa 14.01.2023ARD Mediathek
  • Folge 406 (45 Min.)
    Seit dem Krieg in der Ukraine zittern viele, ob der nächste Winter in eine wirtschaftliche Katastrophe führt. Gleichzeitig ist klar: Wenn wir weiter fossile Energien verfeuern, heizt sich unser Planet dramatisch auf. Wir brauchen dringend einen Plan B – doch wie kann der aussehen? Wohl kaum jemand ist von den politischen Entscheidungen, woher unsere Energie kommt, so direkt betroffen wie Barbara Ziemann-Oberherr und ihre Nachbar:innen im rheinischen Braunkohlerevier. Eigentlich sollte ihr Dorf abgebaggert werden. Dann kam der Braunkohleausstieg und Keyenberg durfte bleiben.
    Aber wie geht es jetzt weiter? Barbara Ziemann-Oberherr hat große Pläne für ihr Dorf. Es soll bei der Energie komplett unabhängig werden, mehr grüne Energie produzieren als verbrauchen. Doch der Weg dahin ist weit. Exemplarisch an den Bewohner:innen der geretteten Dörfer zeigt der Film, wie abhängig wir uns von billiger Energie gemacht haben und wie wir aus dieser Abhängigkeit wieder herauskommen können. Da ist der Bäcker, der seinen Backofen mit Öl heizt und der sich jetzt anhören muss, warum die Brötchen so teurer geworden sind.
    Da ist die Familie im ungedämmten Haus, der die Energiekosten über den Kopf wachsen. Da ist der Gärtner, der noch vor wenigen Jahren eine öffentlich geförderte Gasheizung in seine Gewächshäuser eingebaut hat. Jetzt fürchtet er, dass ihm im Winter der Gashahn zugedreht wird und seine Pflanzen eingehen. Die Probleme, vor denen die Menschen am Rand des Braunkohle-Lochs stehen, sind die Probleme, vor denen ganz Deutschland steht: Energie-Armut, Inflation, wirtschaftliche Einbrüche und Insolvenzen. Der Film macht sich auf die Suche nach Lösungen: Denn es gibt bereits den Bäcker, der ausschließlich mit erneuerbarer Energie backt und jetzt nicht nur Kuchen, sondern auch Strom verkauft.
    Er sagt: „Das Laden eines E-Autos passt wunderbar zu einer Pause mit Kaffee und Kuchen.“ Es gibt bereits Häuser, die komplett ohne Gas- und Stromanschluss auskommen. Über Josef Jenni, der sie vor 40 Jahren als Erster gebaut hat, wurde damals gelacht. Jetzt sind seine Auftragsbücher voll. Er sagt: „Mir kommt es so vor, als hätte ich es mit lauter Energie-Junkies zu tun, die auf kaltem Entzug sind.“ Es gibt bereits ganze Dörfer, die ihre eigene Energie herstellen und komplett autark von russischem Gas und fremden Strom sind.
    „Wir haben den ersten Windpark aus der Not heraus gebaut.“ sagt der Bürgermeister der Gemeinde Klixbüll. „Wir hatten hier keine Jobs, keine Perspektive. Aber wir haben Wind und Platz.“ Heute haben sie Energie im Überfluss und das Wasser im städtische Freibad bleibt so warm wie im vergangenen Jahr. Was können wir von diesen Beispielen lernen? Vor allem eines: Energiewende kostet Zeit, Geld, Beharrlichkeit und Mut. Und was machen wir kurzfristig vor diesem Winter? „Dämmen, sparen, bescheidener leben,“ sagt der Energieberater der Verbraucherzentrale.
    „Schweinescheiße, Kuhmist, Hühnerkacke,“ sagt ein Landwirt, der mit Biogas russisches Gas ersetzen will – und zwar sofort. Doch wie so oft steht hier die Bürokratie im Weg. Das kennen auch die Bewohner von Keyenberg und Umgebung. Immerhin hat Barbara Ziemann-Oberherr schon mal eine Photovoltaik-Anlage auf ihr Dach bauen lassen und für den nächsten Winter Energiespar-Fenster bestellt – gegen die Kälte und gegen den Klimawandel: „Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig“, sagt sie. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 23.01.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 20.01.2023ARD Mediathek
  • Folge 407 (45 Min.)
    Frauen, Männer, Kinder. Soldatinnen, Soldaten und Zivilisten. Es sind Hunderttausende Tote, zigtausende Verletzte, wie viele Menschen bisher genau Opfer des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine geworden sind, weiß noch niemand genau. Seit Februar 2022 dauert der Angriff auf die gesamte Ukraine mittlerweile an und hinterlässt unzählige Schicksale abseits der täglichen Kriegsnachrichten. So wie das von Oksana. Eine Mine riss der Mutter von zwei kleinen Kindern beide Beine und vier Finger ihrer Hand ab. Als sie im Krankenhaus aufwachte, wollte sie zuerst nicht mehr weiterleben, sagt sie.
    Doch das hat sich geändert: Sie hat sich entschieden zu kämpfen. Mittlerweile sind Oksana, ihre beiden Kinder und ihr Mann nach Hamburg zur Behandlung gebracht worden. Regelmäßig werden Verletzte aus der Ukraine nach Polen gebracht und von dort per Flugzeug nach Hamburg geflogen. Von hier aus bringen Rettungswagen sie in Krankenhäuser in ganz Norddeutschland. Es ist ein komplexes Prozedere, an dem Helfende aus unterschiedlichen Nationen beteiligt sind. Auch Jevgenij ist so nach Hamburg gekommen. Er wird im Bundeswehrkrankenhaus behandelt, in seinem Schienbein fehlen 15 Zentimeter Knochen. Als die Russen den Angriff auf die gesamte Ukraine starteten, hatte Jevgenij sich freiwillig für die Armee gemeldet.
    In der Nähe von Charkiw wurde er durch eine Mörsergranate schwer am Bein verletzt. Seine Behandlung wird viele Monate dauern. Ein ständiger Begleiter: die Sorge um seinen Sohn, der auch freiwillig kämpft. Unterstützt werden die Verletzten von ehrenamtlichen Helfenden wie Lilia Ketler. Denn der Aufenthalt in Deutschland birgt viele Herausforderungen. Im Krankenhaus übersetzen sie, nach der Entlassung kümmern sie sich darum, dass die Verletzten als Geflüchtete registriert werden und eine behindertengerechte Unterkunft bekommen.
    Eine kräftezehrende Aufgabe für die Ehrenamtlichen, fast alle kommen selbst aus der Ukraine und sind wegen des Krieges seit einem Jahr selbst im Ausnahmezustand. Igor kannte den Krieg schon vorher. Er ist Berufssoldat, war seit 2014 schon häufiger an der Front im Donbas. Im April 2022 verlor er durch eine Mine ein Bein. Doch für ihn ist der Krieg damit nicht vorbei. Regelmäßig bekommt er grausame Nachrichten über gefallene Kameraden von der Front. Das lässt ihn nicht los. Der Vater von zwei Kindern will möglichst bald zurück in die Ukraine und weiterkämpfen. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 13.02.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 10.02.2023ARD Mediathek
  • Folge 408 (45 Min.)
    Go-go-Bars, halbseidene Massagesalons und jede Menge Open-Air-Bierbuden mit leicht bekleideten jungen Frauen. Und dazu amüsierwillige Sextouristen aller Altersklassen. Die thailändische Küstenmetropole Pattaya kehrt zurück zu dem, was hier als „Normalität“ gilt. Ein deutscher Tourist fasst es vor der Kamera so zusammen: „Warum wir alle hier sind? Hier kriegst du für weniger Geld mehr Sex!“ Das mag ein jüngerer Deutscher so nicht bestätigen: „Ich suche hier nicht Sex, sondern Liebe“, erzählt Stefan und beklagt sich darüber, dass seine zahlreichen Eroberungen am Ende doch immer nur auf sein Geld aus seien.
    Zwei Jahre lang haben die „Rotlichturlauber“ gewartet: Das riesige Vergnügungsviertel von Pattaya lag wegen Corona komplett brach. Für die etwa 60.000 Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter der Stadt eine bedrohliche Situation. Weil der thailändische Staat zwar mit dem Sexbusiness Milliarden Steuereinnahmen generiert, Prostitution aber offiziell verboten ist, waren die Beschäftigten des Gewerbes von sämtlichen staatlichen Hilfsprogrammen ausgeschlossen.
    Zum Beispiel die Sexarbeiterin Aom. Sie wurde von einem deutschen Kunden schwanger, der ihr zunächst Treue schwor und sie dann mit dem Baby sitzen ließ. Jetzt versucht Aom über einen Anwalt, zumindest Unterhaltszahlungen durchzusetzen und arbeitet weiter im Sexgewerbe. „Mit deutschen Kunden habe ich abgeschlossen. Wenn die kommen, sag ich: auf Wiedersehen“, sagt sie. Die „45 Min“-Dokumentation taucht ein in die Rotlichtszene von Pattaya und erlebt viel Doppelmoral.
    Deutsche Sextouristen, die sich einreden, mit ihren Dates das Überleben verarmter Thaifamilien zu sichern. Und ein Restaurantbesitzer aus Norddeutschland, der erzählt, die Mädchen würden nur wegen des warmen Wetters hier mit so kurzen Röcken am Straßenrand stehen. Auch deutsche Reiseveranstalter verdienen am Geschäft mit Sex, auch wenn sie nicht gerne darüber sprechen. Alle haben Pattaya im Programm. Immerhin halten sich die deutschen Reiseunternehmen zugute, dass sie eine Selbstverpflichtung unterschrieben haben, gegen Kinderprostitution vorzugehen.
    Aber wer kontrolliert das? Der Coronalockdown hat auch das Problem des Missbrauchs massiv verschärft. Im Rotlichtviertel von Pattaya, in dem es nach offizieller Lesart keine Prostitution Minderjähriger mehr gibt, stößt das Filmteam auf die Spuren Pädokrimineller. Und auf einen Deutschen, der kurz nach seiner Festnahme das Land dennoch verlassen kann. Wie kann das sein und wie gut klappt die internationale Zusammenarbeit bei diesem wichtigen Thema? (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 27.02.2023NDRDeutsche Online-PremiereSa 25.02.2023ARD Mediathek
  • Folge 409 (45 Min.)
    „Ich habe keinen Platz mehr für neue Geflüchtete. Ich melde Fehlanzeige.“ Christian Vollpott beantwortet die Anfrage des Landkreises Stormarn Anfang Januar mit einer Absage. Menschen aus Afghanistan, Syrien, der Türkei: Neuankömmlinge kann der Flüchtlingsbeauftragte der Gemeinde Bad Oldesloe nicht mehr unterbringen. Vollpott arbeitet beim Ordnungsamt und verwaltet den fehlenden Platz für Geflüchtete. Seine 17 Unterkünfte in den neun Dörfern der ländlichen Gemeinde sind voll. Den letzten Platz hat er kurz vor Weihnachten vergeben: Ein Syrer soll bald in die abgewohnte alte Mühle, irgendwo im Nirgendwo einziehen.
    100 Millionen Vertriebene zählt die UN aktuell. Die Krisen der Welt sorgen dafür, dass Menschen ihre Heimat auf der Suche nach Sicherheit verlassen und täglich Hunderte von ihnen in Norddeutschland ankommen. Allein 2022 haben etwa 1,3 Millionen Menschen in Deutschland Schutz gesucht. Die meisten von ihnen kamen aus der Ukraine, aber im Herbst kamen auch wieder mehr Menschen aus Afghanistan, Syrien und anderswo. Eine große Herausforderung: für die von Corona gebeutelten Behörden, aber auch für die freiwilligen Helferinnen und Helfer und die Geflüchteten selbst.
    Denn allerorts fehlt es an geeigneten Unterkünften, Personal und Perspektiven. In Hamburg und Umgebung werden Schutzsuchende vorübergehend in Turnhallen, Zelten oder maroden Schulen untergebracht: Hauptsache nicht obdachlos. Aber auch viele Gemeinden und Kreise scheinen der Situation kaum gewachsen. Manche sorgen vor, andere reagieren nur noch. Was hat Deutschland aus der Situation 2015 gelernt? Was ist jetzt anders? Und worauf muss man sich in Zukunft einstellen? Diesen Fragen geht die „45 Min“-Dokumentation nach und begleitet dafür freiwillige Helfer, engagierte Verwalter und Geflüchtete, die ankommen wollen. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 06.03.2023NDRDeutsche Online-PremiereSa 04.03.2023ARD Mediathek
  • Folge 410 (45 Min.)
    Die Produktion von Fleisch und Milchprodukten gilt als Klimasünde. Sie verbraucht Unmengen an Fläche und Wasser und jagt dazu gehörige Mengen an Treibhausgasen in die Luft. Um dem entgegenzusteuern, wurde im Koalitionsvertrag die Ernährungsstrategie vereinbart. Die Deutschen sollen in Zukunft weniger tierische Produkte essen. Eine Schlüsselrolle wird dabei den sogenannten alternativen Proteinen zugeschrieben. Pflanzlicher Fleisch- Milch- oder Käseersatz, wie er zunehmend die Supermarktregale füllt. Alleine im letzten Jahr wurden nach Angaben vom amerikanischen Wirtschaftsinformationsdienst Crunchbase 5,8 Milliarden Dollar in die weitere Entwicklung investiert.
    Die Unternehmensberatung Kearney prophezeit bereits „das Ende der Fleischproduktion, wie wir sie kennen“. Doch was bedeutet diese Entwicklung für unsere Gesellschaft? Und ist das die Ernährungswende, die wir brauchen? Marlene Berger-Stöckl ist Projektleiterin der Ökomodellregion Waging und sieht die Entwicklung kritisch. Ihre Sorge: Der Hype könnte zu Lasten der ökologischen Wende in der Landwirtschaft gehen und so mit dem Ziel kollidieren, 30 Prozent Bio bis 2030 zu erreichen.
    Das Problem: Die wenigsten pflanzlichen Alternativen sind nachhaltig erzeugt – aus Preisgründen. In den Augen der Agrarwirtin fatal. Auch sei die Kuh nicht per se ein Klimakiller und stehe zu Unrecht am Pranger. Tierhaltung habe in vielen Regionen ihre Berechtigung- vorausgesetzt, es handele sich um extensive Weidehaltung. Diese erhalte die Artenvielfalt auf Wiesen und Almen, benötige kein zusätzliches Kraftfutter und mache mineralische Dünger überflüssig.
    Die Forderung der Agraringenieurin: mehr Differenzierung in der gegenwärtigen Debatte! DokThema Autorin Susanne Roser macht sich selbst ein Bild und taucht ein in die Zukunftslabore, wo an neuen Protein-Ersatzprodukten getüftelt wird. Wie gesund und nachhaltig sind sie? Sie begleitet Tierschützer bei ihren Protesten gegen die Fleischindustrie im Oldenburger Land. Wie stehen sie zu Fleischersatz, der zum Teil von denselben Herstellern – z.B. Tönnies oder der PHW-Gruppe (Wiesenhof) – vertrieben wird? Sie spricht mit Investoren, die mit ihrem Risikokapital die Welt retten wollen, wie sie sagen und mit der Politik.
    Ist es richtig, künftig Fleisch höher zu besteuern und pflanzliche Produkte geringer – ohne Ansehung ihrer Qualität und Nachhaltigkeit? Immer mehr Fleischalternativen füllen die Regale der Supermärkte. Doch taugen die pflanzlichen Ersatzprodukte wirklich dazu, den Klimawandel aufzuhalten? Und wie nachhaltig und gesund sind sie? DokThema schaut hinter die Kulissen von Produktion und Vertrieb und spricht mit Befürwortern und Kritikern. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 20.03.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 17.03.2023ARD Mediathek
  • Folge 411 (45 Min.)
    Volker Dohrmann verkauft Räder aus Leidenschaft. Der Ex-Rennfahrer und Marketingchef eines Hamburger Fahrradherstellers zeigt, wie ein Fahrrad ohne Teile aus China und Taiwan aussehen würde: ein kleines Häuflein weniger Komponenten, mehr nicht. „Wegen Corona haben wir unsere Fabrik in Bramsche drei Monate lang stillgelegt, weil aus Fernost keine Teile mehr kamen“, erzählt Dohrmann. Wer 2021 ein Rad bestellt hat, wartet zum Teil heute noch auf die Auslieferung. Lange wollte es kaum jemand wahrhaben: Deutschland hat sich in extreme Abhängigkeit von Pekings Gnaden manövriert und wird nun zunehmend erpressbar.
    Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine nimmt auch die Bundesregierung das volle Risiko wahr. Denn zwischen China und Taiwan schwelt ein weiterer Konflikt mit geopolitischer Sprengkraft. „Wenn der von heute auf morgen eskaliert, wäre das für uns der GAU,“ sagt Peter Bachmann, verantwortlich für den Bereich Customer Solutions und Business Development einer Photovoltaik-Firma. Bei der Suche nach einer neuen China-Strategie geht es um ganze Lieferketten, um Tausende Produkte.
    Manche Artikel aus China sind einfach nur preiswerter, andere unverzichtbar, einige sogar überlebenswichtig. Im Hamburger Hafen landet der „Container-Tsunami“ aus China schon am frühen Morgen an und wird dann über ganz Deutschland verteilt. „Natürlich sind wir erpressbar!“, sagt die Apothekerin Anke Rüdinger. Sie mischt neuerdings wieder eigene Rezepturen an. Denn auf Nachschub aus Asien ist kein Verlass. Manche Antibiotika wären ohne chinesische Vorprodukte sogar überhaupt nicht mehr erhältlich.
    In einem Windpark bei Aurich lassen sich die „45 Min“-Reporter zeigen, dass es schon ganz wenige Einzelteile aus China sind, ohne die die gesamte geplante Energiewende zusammenbrechen würde. Immerhin, es gibt erste Anstrengungen, um sich aus der Abhängigkeit von China zu lösen: In Portugal zum Beispiel wurden seit 2015 mit EU-Subventionen Fahrradfabriken gebaut. Inzwischen ist das Land zwar Europas größter Fahrradhersteller, doch mit einem EU-Marktanteil von nicht mal einem Prozent noch längst nicht auf Augenhöhe zu den Konkurrenten aus Fernost. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 27.03.2023NDR
  • Folge 412 (45 Min.)
    Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine fragen sich viele Menschen, was eigentlich wäre, wenn in Deutschland so etwas passieren würde. Bomben und Raketenangriffe: Ist Deutschland auf ein derartiges Szenario vorbereitet? „Ganz ehrlich, wenn wir wirklich einen Zivilschutzfall hätten, damit wären wir doch als Land überfordert“, räumt Sabine Sütterlin-Waack, CDU, Ministerin für Inneres, Kommunales, Wohnen und Sport des Landes Schleswig-Holstein, umstandslos ein. Seit Ende des Kalten Krieges hatte niemand mehr ernsthaft mit einer militärischen Bedrohung gerechnet, der Zivil- und Katastrophenschutz wurde systematisch vernachlässigt. „Wenn man sich sicher fühlt, heißt das nicht, dass man sicher ist.
    Und das erleben wir jetzt ganz dramatisch. Ich bin überzeugt, dieser Schock wird eine nachhaltige Wirkung haben“, meint Prof. Dominic Kudlacek, Sicherheitsexperte an der Hochschule Bremerhaven. Gemeinsam mit Verwaltungsbeamten proben seine Studierenden den sogenannten Blackout, einen lang anhaltenden Stromausfall. Eine Notlage bei Minusgraden wird durchgespielt. Stress für alle Beteiligten. „Wir müssen die Beherrschung des Unvorhersehbaren üben, um uns auf Krisen effizient vorzubereiten“, sagt Dominic Kudlacek. Doch wer gibt schon gerne Geld für Bunker und Sirenen aus statt für Bildung und Kultur? Christian Zierau, Stadtrat der Landeshauptstadt Kiel, führt „45 Min“-Reporterin Katrin Hafemann in den ehemaligen Luftschutzkeller unter dem Kieler Rathaus.
    Die Räume hat ein Clubbetreiber gemietet. Das Katastrophenschutzzentrum wurde provisorisch in eine Lagerhalle verfrachtet. Am ursprünglich angedachten Ort übt das Theater, das dringend eine neue Probebühne braucht. „Wenn kein Krieg ist und keine Katastrophe, ist Kultur wunderbar. Aber auch Katastrophen müssen wir wieder auf die Tagesordnung setzen“, warnt Christian Zierau. „45 Min“ liefert eine schonungslose Bestandsaufnahme. Und anders als früher: Abwiegeln geht nicht mehr, Bürgermeister und Minister sehen Handlungsbedarf. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 17.04.2023NDRDeutsche Online-PremiereSa 15.04.2023ARD Mediathek
  • Folge 413 (45 Min.)
    Viele Menschen geraten am Ende ihres Lebens in eine Krankenhausmaschinerie, der sie nicht mehr entkommen. Obwohl die meisten Menschen zu Hause sterben möchten, schaffen es doch nur die wenigsten, im Kreise der Familie friedlich einzuschlafen. Mehr als die Hälfte der Menschen sterben auf Intensivstationen, manche in Pflegeheimen, wenige im Hospiz. Woran liegt es, dass das, was die Menschen gerade am Lebensende nicht wollen, doch meistens die Realität ist? Ingrid L. liegt nach einem Herzstillstand seit drei Monaten im Koma und wird beatmet. Ihr Ehemann kämpft verzweifelt darum, dass die Ärzte ihrer Patientenverfügung folgen und sie sterben lassen.
    „Es ist ein Grauen! So monatelang an den Maschinen zu liegen, das hat sie nie gewollt“, sagt er. Die moderne Medizin macht es möglich, Menschen immer länger am Leben zu erhalten. Gerade auf Intensivstationen können Kliniken mit der Behandlung Schwerstkranker aber auch viel Geld verdienen. Intensivmediziner Uwe Janssens hält es für fatal, dass oft wirtschaftliche Aspekte im Vordergrund stünden. „Wir haben ein Überbehandlungsphänomen, das durch den ökonomischen Druck und durch das Fallpauschalensystem zustande kommt.“ Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) räumt ein, dass Kliniken gerade am Lebensende oft nach ökonomischen Gesichtspunkten entscheiden: „Krankenhäuser sind zum Teil auf diese Behandlungen angewiesen, um Defizite auszugleichen, die wieder dazu führen würden, dass man in anderen Bereichen nicht so gut behandeln kann.“ Er hofft, mit seiner Krankenhausreform diese wirtschaftlichen Anreize reduzieren zu können.
    Auf Janssens Intensivstation im St. Antonius Hospital Eschweiler sterben fast täglich Menschen. Immer mehr hochbetagte kranke Menschen liegen auf unbestimmte Zeit an Beatmungsmaschinen.
    Regelmäßig setzen sich Ärztinnen und Ärzte, Pflegende und der Seelsorger der Klinik deshalb zur Ethikbesprechung zusammen: Werden Schwerstkranke beim Sterben begleitet oder weiter künstlich am Leben gehalten? Was ist das Therapieziel? Wie ist der Patientenwille? Was ist medizinisch machbar, was sinnvoll? Auch für Ärzte sind die Entscheidungen am Lebensende eines Patienten nie einfach. Palliativmediziner Matthias Thöns möchte mehr Menschen vor der Krankenhausmaschinerie bewahren. Er stellt auch als Gutachter Überbehandlungen fest.
    „Das natürliche Sterben ist aus unserer Gesellschaft in die Kliniken verbannt worden. Viele Menschen sterben erst nach einer Entscheidung zur Beendigung der intensivmedizinischen Behandlung“, sagt der Anästhesist. Er begleitet Menschen beim Sterben zu Hause, unterstützt die Angehörigen und möchte den Sterbenden einen leidensfreien Übergang zum Tod ermöglichen. Einen solchen Übergang wünscht sich auch die ehemalige Intensivpflegerin Helma T. Sie ist 89 Jahre alt und hat bei sich zu Hause alle Vorkehrungen getroffen, um eine Wiederbelebung auszuschließen.
    Auf keinen Fall möchte sie, wenn sie bewusstlos ist, dass Rettungssanitäter sie ins Krankenhaus bringen, wo sie auf unbestimmte Zeit beatmet wird, ohne Aussicht, wieder zu genesen. „So möchte ich nicht sterben. Ich möchte nicht wiederbelebt werden!“ Tatsächlich treten nach Wiederbelebung oft unumkehrbare neurologische Schäden auf, besonders bei hochbetagten Menschen, die längere Zeit bewusstlos waren. Nicht alle machen sich so wie Helma T. Gedanken darüber, wie viel medizinische Versorgung sie am Lebensende wünschen und dass das medizinisch Machbare nicht immer das menschlich Sinnvolle ist. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 24.04.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 21.04.2023ARD Mediathek
  • Folge 414 (45 Min.)
    Annemarie wünscht sich von der Politik mehr mitgenommen zu werden.
    Vieles ist im Alltag ohne Smartphone, Tablet oder Computer nicht mehr möglich oder zumindest sehr umständlich. Zwar hinkt Deutschland in der digitalen Entwicklung noch immer hinterher, doch schon jetzt überfordert die Technik viele Menschen oder schließt sie schlichtweg von gewissen Dingen aus. Ist das fair? Sollten Menschen in Deutschland nicht ein Recht auf ein Leben ohne Smartphone & Co.haben und trotzdem an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilhaben können? Dieser Frage geht Simona Dürnberg nach. Die Hamburgerin Dagmar Hirche versucht ehrenamtlich aufzufangen, was die Politik ihrer Meinung nach versäumt: Sie bringt älteren Menschen den Umgang mit digitaler Technik bei.
    Eine der Teilnehmenden ist die 78-jährige Annemarie O. „Wir Alten haben keine Lobby. Wir werden bei der Digitalisierung vergessen“, sagt sie. Doch ihr ist es wichtig, digital „fit“ zu werden. Denn mit zunehmendem Alter falle ihr zum Beispiel das Einkaufen gehen immer schwerer. Auch ihre Bankgeschäfte würden zunehmend ins Netz verlagert. Sie befürchtet, in einigen Jahren noch viel mehr online erledigen zu müssen.
    Und sie hat Angst, das nicht bewältigen zu können. Wie Annemarie O. geht es vielen älteren Menschen in Deutschland. Der Anteil sogenannter „Offliner“, die weder Smartphone noch Computer besitzen, ist unter ihnen besonders groß. Aus dem aktuellen Altersbericht der Bundesregierung geht hervor, dass 66 Prozent der über 80-Jährigen keinen Zugang zum Internet haben, trotz eines hohen Bildungsgrads. Andere sind frustriert, weil sie mit Smartphone und Internet nicht gut umgehen können und gleichzeitig beobachten, dass immer mehr Alltagsdinge nur noch digital zu erledigen sind.
    Eine Entwicklung, die weltweit zu beobachten ist. In Spanien führte sie dazu, dass der 80-jährige Carlos San Juan aus Valencia mit einer Unterschriftenaktion dagegen mobil machte. Über 600.000 Unterschriften hat er mit seiner Petition „Soy mayor, no idiota“ („Ich bin zwar alt, aber kein Idiot.“) gesammelt. Mit dem Ziel, die Banken zu verpflichten, wieder analoge Angebote zu machen. Er hatte Erfolg und wurde für sein Engagement sogar vom EU-Parlament ausgezeichnet. San Juan fordert: Die EU-Länder sollten aufhören, den digitalen Möglichkeiten „blind“ zu folgen, sondern sie gut überlegt einsetzen und damit niemanden mehr ausschließen.
    Doch auch jüngere Menschen leiden unter der zunehmenden Digitalisierung. So würde laut einer repräsentativen Umfrage des Digitalverbands Bitkom jeder zweite Deutsche gern eine digitale Pause einlegen. Die 30-jährige Clara Hahn aus Berlin hat genau das getan: Ein Schlüsselmoment mit ihrer kleinen Tochter hat sie dazu bewegt, ein Jahr lang auf ihr Smartphone zu verzichten.
    Sie sagt: „Bis zu dem Zeitpunkt, als mich meine Tochter darauf aufmerksam gemacht hat, war mir nicht klar, dass ich süchtig bin.“ Ohne Smartphone habe sie zunächst starke Entzugserscheinungen gehabt, aber auch festgestellt, wie sehr das Gerät Handeln und Denken lenkt. Das bereite ihr große Sorgen, auch mit Blick auf die Generation ihrer Tochter. Schon jetzt machen aktuelle Studien klar: Die Mediensucht bei Kindern und Jugendlichen ist durch Corona noch einmal angestiegen. Hahn ist nicht gegen digitale Entwicklungen, aber sie pocht vehement auf das Recht, auch ein analoges Leben zu führen.
    Alles andere sei undemokratisch. Die These stützt auch der Journalist und Philosoph Alexander Grau. Er betitelt die Menschen als „Sklaven der digitalen Entwicklung“. Denn in vielen Bereichen des Lebens würde man verpflichtet, Smartphone & Co.zu nutzen, um den Alltag bestreiten zu können. Es fehle die Wahlfreiheit. Dem hält Christian Stöcker, Professor für digitale Kommunikation, entgegen, dass man um das Digitale nicht mehr herumkommen würde, wenn man an der modernen Gesellschaft teilnehmen wolle.
    Jochim Selzer vom Chaos Computer Club sieht gute Gründe dafür, manches auch weiterhin analog anzubieten. Datenschutz und gesellschaftliche Teilhabe zählten dazu, aber auch die Erfahrung, dass Deutschland zwar oft digital will, es aber nicht gut durchdacht umsetzt. Das zeige die aktuelle Debatte um das 49-Euro-Ticket. Wer dieses Angebot künftig nutzen möchte, soll das möglichst digital tun mit Smartphone oder einer digitalen Abo-Karte. Dass viele Busse oder Bahnen auf diese digitale Nutzung gar nicht vorbereitet sind oder viele Kundinnen und Kunden lieber analoge Tickets verwenden, wird außer Acht gelassen. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 08.05.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 05.05.2023ARD Mediathek
  • Folge 415 (45 Min.)
    Der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine war der Beginn einer Zeitenwende, in Bezug auf die Bundeswehr, die Rolle Deutschlands in Europa und in Bezug auf das Verhältnis zu Russland. Letzteres ist vor allem für die Menschen, die in der DDR aufgewachsen sind, ein besonderes Thema. Was für viele im Westen die USA, war für viele im Osten die Sowjetunion: „der große Bruder“. Doch der Überfall Russlands auf die Ukraine stellt alte Gewissheiten infrage und wirbelt Überzeugungen durcheinander. Er bricht politische Biografien, zieht sich wie ein Riss durch Lebensläufe, durch Familien und Freundeskreise.
    Gleichzeitig zeigen viele Menschen im Osten trotz Putins Angriffskriegs noch immer ein gewisses Verständnis für Russland, wie Umfragen immer wieder belegen. Wie prägt der Krieg die Haltung der Ostdeutschen gegenüber Russland? Woher kommen Unterschiede in der Wahrnehmung zwischen Ost und West? Und was sagt das über Gräben aus, die in der deutschen Bevölkerung auch über 30 Jahre nach dem Mauerfall immer noch existieren? Die ARD-Journalistin und Moderatorin Jessy Wellmer unternimmt in dieser Reportage eine sehr persönliche Reise durch den Osten Deutschlands.
    Auch in ihrer Familie hat der russische Angriffskrieg für viele Diskussionen gesorgt. Ihre Mutter war Russischlehrerin, die russische Literatur und Musik faszinieren sie bis heute. Jessy Wellmer besucht ihre Eltern in ihrer Heimatstadt Güstrow und trifft auf unterschiedliche Freunde der Familie, die alle ihren ganz eigenen Blick auf den Krieg und Russland haben. Sie fährt nach Lubmin, wo die Nord-Stream-2-Pipeline anlandet und viele Menschen, wie der örtliche SPD-Chef Frank Tornow, es am besten fänden, wenn die Pipeline doch noch in Betrieb genommen würde. Sie begegnet Politikern wie Linken-Urgestein Gregor Gysi, der mit sich und seiner Partei hadert, weil sie lange Russland positiv und gar als Friedensmacht gesehen haben und manche seiner Genossen dies bis heute tun.
    Sie trifft auf einen ehemaligen NVA-Offizier und besucht den Gitarristen der legendären DDR-Rockband Silly, Uwe Hassbecker, der bis zum Krieg Putin in Diskussionen mit Freunden und Bekannten verteidigte und nun angesichts des Krieges entsetzt und enttäuscht ist. Und sie geht mit der Journalistin Antonie Rietzschel, die als 1986 Geborene wiederum einen ganz anderen Blick auf Russland hat, auf eine der neuen Montagsdemos in Dresden.
    Schließlich spricht Jessy Wellmer mit Wissenschaftlerinnen wie der ehemaligen DDR-Leichtathletin Ines Geipel und der Historikerin Silke Satjukow darüber, warum der Osten in Sachen Russland so anders tickt als der Westen. Insgesamt liefert der Film von Jessy Wellmer und Falko Korth eine spannende Auseinandersetzung mit dem Russlandbild der Ostdeutschen, die medial bisher in dieser Weise zuvor noch nicht stattgefunden hat. Teil des Films ist auch eine eigens für die Dokumentation in Auftrag gegebene Infratest-dimap-Umfrage zum Russland-Bild in Ost- und Westdeutschland. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 15.05.2023NDR
  • Folge 416 (45 Min.)
    „Das hat so ein bisschen Freiheit gegeben und war auch eine kleine Rebellion“, so erinnert sich Moritz an die Anfänge seines Cannabis-Konsums. Mit 14 Jahren machte er die ersten Erfahrungen mit der Droge. Jetzt spielt sie eine lebensbestimmende Rolle für den 21-Jährigen, denn er ist süchtig. In einer Entwöhnungsklinik für junge Erwachsene in Castrop-Rauxel will er sich seiner Suchterkrankung stellen. Wir begleiten Moritz während seines fünfmonatigen Klinikaufenthalts. Was hat ihm das Kiffen gegeben und wie will er sich auf das Leben nach dem Entzug vorbereiten? Vincent Kühne hat schon als 13-Jähriger gekifft.
    Sein Cannabis bekommt er heute aufgrund seiner ADHS-Diagnose auf Rezept. Sein Wissen zur Pflanze und auch über den Schwarzmarkt hat er inzwischen zum Beruf gemacht. Auf unterschiedlichen sozialen Medien klärt Vincent als Content-Creator rund um das Thema Cannabis auf. Die Freiheit, Cannabis legal zu kaufen, wünscht er jedem. „Die Legalisierung spricht nicht davon, Kindern Cannabis zugänglich zu machen, sondern Erwachsenen, die es sowieso heute schon tun.“ Soll Cannabis legalisiert werden? Und was bedeutet das für die Jugendlichen? Im Frühjahr 2023 soll der Gesetzesentwurf zur „kontrollierten Abgabe von Cannabis an Erwachsene zu Genusszwecken“ vorliegen, ein zentrales Versprechen im Koalitionsvertrag.
    Ziel dieser gesetzlich festgelegten Regelung soll unter anderem sein, mit der Entkriminalisierung bzw. der Legalisierung ab 18 einen besseren Gesundheits- und Jugendschutz zu ermöglichen.
    Aber kann dieses Ziel wirklich erreicht werden? „In Dortmund gibt es über 80.000 junge Menschen, die im schulpflichtigen Alter sind“, sagt dazu die Sozialarbeiterin Annemarie Skubch, die am Gymnasium an der Schweizer Allee ein Präventionsprojekt durchführt. „Wir haben, glaube ich, zwei volle Stellen der Suchtprävention für diese Stadt.“ Der Film „Generation Cannabis – Legal, illegal, scheißegal?“ nimmt vor allem diejenigen in den Blick, die die Legalisierungsdebatte besonders betrifft, die jungen Menschen selbst. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 05.06.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 02.06.2023ARD Mediathek
    Deutsche TV-Premiere ursprünglich angekündigt für den 03.07.2023
  • Folge 417 (45 Min.)
    Niedriglohnland Deutschland. Fast jeder fünfte arbeitet hierzulande im Niedriglohnsektor. Mehr als in fast allen anderen europäischen Ländern. Es sind Verkäuferinnen und Verkäufer, Beschäftigte in der Erwachsenenbildung oder bei der Post. Es ist ein Leben am Existenzminimum, denn die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise fressen den gestiegenen Mindestlohn mehr als auf. Ein Jahr lang haben die Autorinnen Julia Friedrichs und Caroline Rollinger drei Frauen begleitet, die trotz Arbeits- und Fachkräftemangel so wenig verdienen, dass es kaum zum Leben reicht.
    Ilona ist beruflich aufgestiegen. Die Postbotin arbeitet jetzt als Depotleiterin eines privaten Postdienstleisters. Sie hat jetzt mehr Verantwortung, doch an ihrer prekären Lage hat sich nichts geändert. Sie bekommt nur den Mindestlohn, trotz der Erhöhung auf 12,00 Euro reicht das Geld kaum für das Nötigste. Auch Berna muss sparen. Die Verkäuferin ist alleinerziehend. Ihren Sohn hat sie gerade bei der Hausaufgabenbetreuung abgemeldet, weil das Geld dafür fehlt. Auch bei ihr fressen die hohen Preisen die Erhöhung des Mindestlohnes mehr als auf.
    Für viele ist die wirtschaftliche Lage in Deutschland so schlecht wie lange nicht mehr. Die Inflation lag im Jahr 2022 bei sieben Prozent. Der höchste Wert seit den 1970er Jahren. Besonders gestiegen sind die Kosten für Energie (+ 24 Prozent) und Lebensmittel (+21 %). Das dritte Jahr in Folge sanken die Reallöhne, im vergangenen Jahr um vier Prozent. Das heißt, im Schnitt können sich die Menschen von ihrem Gehalt weniger leisten. Das trifft die untere Mitte, die größte Einkommensschicht Deutschlands, besonders hart.
    Auch Menschen mit guter Ausbildung sind davon betroffen. Claudia hat einen Hochschulabschluss und arbeitet als Integrationslehrerin. Der Bedarf an Fachkräften in diesem Bereich ist nicht erst seit dem Zuzug vieler Ukrainerinnen und Ukrainer groß. Claudia jedoch kann kaum von ihrem Gehalt leben. Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen in diesem Bereich ist sie nicht festangestellt und muss hohe Abgaben für die Kranken- und Rentenversicherung zahlen. Ihr Arbeitgeber ist der Staat.
    Altkanzler Gerhard Schröder rühmte sich einst damit, den „besten Niedriglohnsektor aufgebaut zu haben, den es in Europa gibt“. In den 1990er Jahren war die Arbeitslosigkeit hoch, die Löhne sollten sinken. Tatsächlich verringerte sich die Arbeitslosenzahl. Doch eine andere Hoffnung erfüllte sich nicht: Der Niedriglohnsektor sollte für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein Sprungbrett sein, wurde jedoch für viele zur Sackgasse. Die Folge: In Deutschland arbeiten prozentual mehr Beschäftigte zu niedrigen Löhnen als in fast jedem anderen europäischen Land.
    Lediglich in den baltischen Staaten sowie in Polen und Bulgarien ist der Anteil des Niedriglohnsektors am Arbeitsmarkt noch größer. In den europäischen Nachbarländern wie Dänemark, Frankreich oder Schweden sind viel weniger Menschen prekär beschäftigt. Während Postbotin Ilona realisiert, dass sie sich im Alter noch nicht einmal ein Tiny House wird leisten können, gehört ihr dänischer Postbotenkollege Anders wie selbstverständlich zur Mittelschicht. Anders als Ilona fährt er regelmäßig in den Urlaub und muss sich auch im Alter keine Sorgen machen.
    Die Autorinnen und Julia Friedrichs und Caroline Rollinger haben die drei Protagonistinnen Ilona, Claudia und Berna bereits für den Film „Viel Arbeit, wenig Geld“ begleitet. Ein halbes Jahr später treffen sie die Frauen wieder: Wie sind sie durch den Winter gekommen? Wie geht es ihnen heute? Sie erleben mit, wie jede der drei Frauen auf ihre Weise versucht, aus der prekären Lage herauszufinden. Der Film lässt jene zu Wort kommen, die in politischen Sonntagsreden zwar oft vorkommen, sich aber von der Gesellschaft zunehmend vergessen fühlen: Menschen, die hart arbeiten und dennoch von dem Wohlstand in diesem Land kaum profitieren.
    Julia Friedrichs hat mehrere Bücher zu sozialen Themen veröffentlicht. Darunter zuletzt „Wir Erben. Was Geld mit Menschen macht“ und „Working Class“. Für ihre Arbeit erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den „Dr. Georg-Schreiber-Medienpreis“ sowie den „Grimme-Preis“. Caroline Rollinger ist Fernsehautorin für Dokumentationen und Reportagen u.a. für das Erste und den NDR. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 12.06.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 09.06.2023ARD Mediathek
  • Folge 418 (45 Min.)
    Die Zahl macht fassungslos: Pro Woche sterben aktuell durchschnittlich drei Kinder in Deutschland durch Gewalt. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch viel höher. Das höchste Gut der demokratischen Gesellschaft, die Schwächsten, die Kinder, zu schützen, es gelingt seit Jahren in vielen Bereichen kaum. Wie kann das sein? Und wer arbeitet in vorderster Linie für das Recht und den Schutz von Kindern? Nach monatelangen Recherchen ist es dem Filmteam gelungen, das Vertrauen von einigen zentralen Akteuren zu gewinnen, die stellvertretend maßgeblich für den Kinderschutz in Norddeutschland verantwortlich sind: das einer Mitarbeitenden des Jugendamts, einer Familienanwältin und eines Kinderarztes.
    In allen Bereichen gibt der Film intensive Einblicke in die Arbeit der Menschen im Umgang mit Kindern und ihren Eltern. Jessica Beyer ist Sozialarbeiterin beim Jugendamt Braunschweig und hat die Aufgabe, Kinder aus Notsituationen zu retten. Die Braunschweigerin gab ihren Beruf als Intensivkrankenschwester auf, um beim Jugendamt zu arbeiten. Jetzt kümmert sie sich um familiäre Notfälle. Auf einem anderen Gebiet versucht der Kinderarzt Uwe Kranz präventiv Kinder zu schützen.
    In Deutschland herrscht ein heftiger Kinderarztmangel. Kranz betreibt seit 19 Jahren eine Praxis in der Braunschweiger Weststadt, einem sozialen Brennpunktgebiet. Der Kinderarzt sieht jeden Tag zig kleine Patientinnen und Patienten und muss innerhalb von kurzer Zeit beurteilen, ob es den Kindern gut geht oder ob sie möglicherweise vernachlässigt oder sogar gefährdet sind. Rührt der blaue Fleck am Rücken wirklich vom Spielen oder doch von einer Misshandlung? Am Tag behandelt er 40 bis 50 Kinder.
    Säuglinge nimmt er noch auf, aber für Kinder, die zu ihm wechseln möchten, hat er keine Kapazitäten mehr. Der 57-Jährige weiß schon jetzt, dass es schwer werden wird, einen Nachfolger zu finden. Um Kinder zu schützen, haben die Familiengerichte im Jahr 2021 in über 14.600 Fällen Eltern das Sorgerecht entzogen. Magdalena Pichen, 44, ist Rechtsanwältin und betreut zahlreiche Problemfamilien. Sie bemerkt, dass das Jugendamt in letzter Zeit immer häufiger einschreitet und Kinder wegen sogenannter Kindeswohlgefährdungen von ihren Eltern trennt.
    Das Filmteam begleitet die Rechtsanwältin bei der Arbeit, bei Gesprächen mit den Eltern und bei Gerichtsterminen. Sie steht täglich vor der Herausforderung, das Wohl sowohl der Kinder als auch der Eltern im Blick zu haben. Nicht selten sind sich Vater und Mutter nicht einig, was das Beste für ihr Kind ist. Laut Kriminalstatistik starben 2022 in Deutschland 143 Kinder durch Gewalt. 3408 Kinder wurden körperlich misshandelt. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich noch höher. Nach Schätzungen der WHO werden etwa 90 Prozent der Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung nicht erkannt.
    Bislang durften Ärzte sich bei Verdacht auf Kindesmisshandlung nicht mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Dr. Ralf Kownatzki, Kinderarzt aus Duisburg, setzt sich dafür ein, dass sich das ändert. 2005 gründete er RISKID, eine Risiko-Kinder-Informationsdatei, über die Mediziner sich bei Verdachtsfällen über die Vorgeschichte ihrer Patienten informieren können. „45 Min“ auf einer Spurensuche, wie Kinderschutz in Deutschland wirklich funktioniert, wo die Schwachstellen liegen und was verbessert werden muss. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 19.06.2023NDRDeutsche Online-PremiereFr 16.06.2023ARD Mediathek
    Deutsche TV-Premiere ursprünglich angekündigt für den 05.06.2023
  • Folge 419 (45 Min.)
    Lutz W. aus Bremen fährt ab und an ohne Fahrschein mit dem Bus. Aus Not. Seit 30 Jahren ist er drogenabhängig. Mittlerweile ist er in Therapie. Dazu muss er jeden Tag zum Arzt, der kilometerweit entfernt ist. Dort bekommt er den Heroinersatz Methadon. Bei seinen Fahrten ohne Ticket wurde Lutz W. schon öfter erwischt. Weil er die Bußgelder nicht zahlen konnte, landete er im Gefängnis. So geht es Tausenden Menschen in Deutschland, die aufgrund von Bagatelldelikten und nicht bezahlten Geldstrafen eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen. Für die Häftlinge verstärkt sich mit der Haft die Armutsspirale.
    Für die deutschen Steuerzahlenden ist die teure Haft eine Millionenbelastung. Für die JVA Plötzensee in Berlin ist es eine Dauerbelastung, allein dort sitzen etwa 250 Menschen eine derartige Strafe ab. Auch Patrick H. sitzt dort in seiner Zelle und erzählt von dem Tag, den er wohl nie vergessen wird: Als die Polizei gegen seine Tür hämmert, ihn verhaftet und ins Gefängnis bringt. Patrick H. und die anderen Gefangenen von Plötzensee haben eines gemeinsam: Sie sind arm. Ist das Zufall? Oder haben es Menschen mit mehr Geld in Deutschlands Justizsystem leichter? Wer kein Geld für einen Anwalt hat, steht im Zweifel ohne Verteidigung vor Gericht.
    Denn Pflichtverteidiger werden schätzungsweise nur in zehn Prozent der Fälle eingesetzt, wenn eine Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr im Raum steht und in einigen Ausnahmefällen. Wer genug Geld für seine Verteidigung ausgeben kann, sucht sich Anwälte wie Nikolaos Gazeas. Seine Kanzlei in Köln zählt zu den Topadressen für Wirtschaftsstrafrecht in Deutschland. Kanzleien dieser Art verlangen Stundensätze um die 400 Euro. Gazeas hat Beschuldigte in Cum-Ex-Strafverfahren vertreten und die Verteidigung im Schmiergeldprozess um ehemalige Siemens-Manager koordiniert.
    Er schätzt: 80 Prozent seiner Fälle werden entweder eingestellt oder enden mit einem Freispruch. „Mehr Geld gleich bessere Verteidigung gleich bessere Chancen vor Gericht, das ist in vielen Fällen leider zutreffend.“ „45 Min“ hat sich umgesehen in deutschen Gerichtssälen und Gefängnissen, spricht mit Gefangenen, Verurteilten und Beschuldigten, mit Richterinnen, Staatsanwälten und dem Leiter eines Gefängnisses. Und die Autoren konfrontieren Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) und fragen, wie er die deutsche Strafjustiz gerechter machen will und ob seine Reformvorschläge dafür ausreichen. (Text: NDR)
    Deutsche TV-PremiereMo 26.06.2023NDR

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