„X-Men ’97“: Die Mutanten sind wieder los – Review

Disney+ setzt legendäre Marvel-Animationsserie in unbekümmerter Retroseligkeit fort

Gian-Philip Andreas
Rezension von Gian-Philip Andreas – 20.03.2024, 11:43 Uhr

Mit grimmiger Entschlossenheit: Cyclops und seine X-Men sind wieder im Dienst. – Bild: Disney+
Mit grimmiger Entschlossenheit: Cyclops und seine X-Men sind wieder im Dienst.

Sie war eine der populärsten Animationsserien der Neunzigerjahre und basierte auf einem der erfolgreichsten US-Comics überhaupt: Fünf Staffeln lang schilderte „X-Men“ die Abenteuer der gleichnamigen Mutantentruppe aus dem Hause Marvel. Sie war die Startrampe für zwölf Realverfilmungen, die ab der Jahrtausendwende in die Kinos drängten. Inzwischen steht Marvel kurz davor, die beliebten Superhelden in ihr nimmersattes Cinematic Universe (MCU) einzugliedern, doch bevor es so weit ist, wird erst noch einmal das ganz große Retrofass aufgemacht: „X-Men ’97“, jetzt bei Disney+ zu streamen, knüpft nahtlos an die alten Staffeln an – und dürfte besonders die in die Jahre gekommenen Fans von damals glücklich machen.

Man muss sich das immer bewusst machen: Jugendliche und junge Erwachsene von heute sind mit den „Universen“ von Marvel und DC aufgewachsen. Superhelden zählen zum kommerziellen Kernbestand der Popkultur. Und die Idole dieser Franchisewelten sind vor allem jene, die aus der Art schlagen, die anders sind als die anderen. In den frühen Neunzigern war das noch anders: Da waren Comicfiguren noch viel weniger mainstreamreif als heutzutage, und kaum jemand hätte sich erträumen können, dass es dereinst mal ein Werk wie „Avengers: Endgame“ zum zeitweise erfolgreichsten Kinofilm aller Zeiten bringen könnte.

Jetzt, da das Marvel Cinematic Universe seinen Zenit überschritten zu haben scheint (und die DC-Konkurrenz den Relaunch vorbereitet), ist der Blick in den Rückspiegel nicht die schlechteste Idee: Die Quasi-Fortsetzung von „X-Men“ unter dem bezeichnend datierten Titel „X-Men ’97“ ist seit fünf Jahren in der Planung und führt nun direkten Weges zurück in jene Zeit, in der das Comic-Superheldenverfilmungsbusiness noch nicht die Blockbuster-Spielpläne dominierte, in der eine Animationsserie über Mutanten, die von der Restmenschheit angefeindet werden, noch etwas sehr Besonderes war – so besonders übrigens, dass RTL die Erstausstrahlung der Serie damals nach den ersten zwei Staffeln einstellte: zu schlechte Quoten! In den USA waren die 1963 von Stan Lee und Jack Kirby ins Leben gerufenen X-Men-Comics deutlich populärer als hierzulande. Das änderte sich erst allmählich, als ab 2000 die Kinofilme herauskamen.

Werdende Eltern mit Ausstiegsgedanken: Verlassen Jean Grey und Cyclops das X-Mansion? Disney+

Zum Cast der animierten „X-Men“-Serien gehören (damals wie heute) ein paar der schillerndsten Mutanten der Marvel-Welt: Gründungsmitglied Cyclops (neuer Sprecher: Ray Chase), der optische Strahlen aus seinen Augen lasern kann; seine schwangere Frau Jean Grey (Jennifer Hale), die telepathisch und telekinetisch unterwegs ist; der coole Gambit (A.J. LoCascio), der jeden beliebigen Gegenstand mit kinetischer Energie aufladen und dann explodieren lassen kann; die junge Jubilee (Holly Chou), die Pyro-Energie aus ihren Händen schießen kann. Neu hinzu kommen zwei damalige Nebenfiguren: der zeitreisende Bishop (Isaac Robinson-Smith) und Morph (JP Karliak), eine Shapeshifter-Figur, die ehedem extra für „X-Men“ konzipiert wurde.

Wie ernst es „X-Men ’97“ mit der Kontinuität nimmt, sieht man schon daran, dass für die bekanntesten X-Men die Originalsprecher von damals zurückgewonnen werden konnten: Klingenkralle Wolverine wird wieder vom herrlich grimmig grollenden Cal Dodd gesprochen, Rogue erneut von Lenore Zann, Wetterdomina Storm mit ihren schicken Blitzohrringen von Alison Sealy-Smith und das ebenso superstarke wie superkluge Beast von George Buza. Zumindest das dem Englischen mächtige Publikum dürfte sich also sofort wieder wie zu Hause fühlen. Wer die 90er-Jahre-Serie damals als Schulkind verschlang, wird ruckzuck zurück in seine Kinderstube gebeamt, zumal auch die ikonische Titelmelodie von Ron Wasserman unangetastet blieb.

Inhaltlich setzt „X-Men ’97“ wenige Monate nach dem (im September 1997 bei Fox ausgestrahlten) Ende der fünften Staffel von „X-Men“ an und damit direkt nach dem damals ungeheuerlichen Schluss-Akkord: dem Tod Charles Francis Xaviers. Der im Rollstuhl sitzende Idealist, selbst Mutant mit telepathischen Fähigkeiten, gründete unter dem Namen Professor X einst das „X-Mansion“. In diesem Privatinternat konnten junge Mutanten, abgeschirmt von der ihnen feindlich gesonnenen Restwelt, heranwachsen und ihre Talente entwickeln. Zugleich war das X-Mansion das Hauptquartier der X-Men und damit zentraler Schauplatz der Serie: Von hier aus zogen die Protagonisten los, um gegen die Villains und Supervillains ihrer Timeline zu Felde zu ziehen.

Daran ändert sich jetzt nichts. Aus dem Trailer war schon bekannt, dass dem Schock aus dem Finale der damaligen Serie nun zu Beginn der neuen Serie ein ähnlich irrwitziger Schock gegenübergestellt wird: In seinem Testament hat Xavier (Ross Marquand) nämlich verfügt, dass sowohl das Mansion als auch die Teamleitung der X-Men an niemand anderen übergeben werden sollen als an Magneto (Matthew Waterson), den früheren Freund und späteren Erzfeind. Kann das klappen? Oder hat der Mann, der anders als Xavier nie an die friedliche Koexistenz von Menschen und Mutanten glaubte, düstere Absichten?

Lässt wieder Blitz und Donner wüten: Mit Storm legt man sich besser nicht an. Disney+

Tatsächlich verleiht diese Umkehrung des Bekannten der neuen Serie eine unerwartete Frische. Wie in einem Remix aus alten und neueren Storylines wirft Showrunner Beau DeMayo („The Witcher: Nightmare of the Wolf“) gleich in den ersten Folgen mit bekannten Gegnern um sich: der X-Ecutioner (Lawrence Bayne) taucht auf, Xaviers Mörder Henry Gyrich sitzt feixend im Knast, Bolivar Trask produziert wieder Sentinels, und Mr. Sinister ist mit einer Easter-Egg-gespickten Psycho-Attacke im Gepäck natürlich auch nicht weit. Nicht umsonst hat Disney+ kurz vor dem Start der neuen Serie ein kurzes Recap-Video lanciert, das die miesesten Machenschaften von Trask, Magneto und Sinister in Erinnerung ruft (hier). Vorab bekannt gegeben wurde außerdem, dass in den späteren der insgesamt zehn Episoden auch Nightcrawler, Cable sowie der Hellfire Club mitmischen werden. Weitere Gastauftritte anderer X-Men, ihrer Gegnern und Verbündeten, sollen dagegen nicht gespoilert werden – schon in den ersten drei Episoden treten einige von ihnen auf, was bei Fans für Entzücken sorgen dürfte.

Verraten dürfen wir aber, dass die undurchsichtige Valerie Cooper von der UN Commission for Superhuman Abilities ihre Aufwartung macht (gesprochen von Catherine Disher, der damaligen Jean Grey), während „New Mutant“ Sunspot (Gui Agustini) in die X-Men-Gruppe integriert und gleichsam als Stellvertreter fürs nachgewachsene Publikum in deren Gepflogenheiten eingeweiht wird. Ein weiteres Mal müssen sich die Helden der Anti-Mutanten-Miliz von den „Friends of Humanity“ entgegenstellen, Jean Greys Schwangerschaft spielt eine zentrale Rolle, ebenso das Verhältnis der X-Men untereinander: Wie früher weisen ihre Animositäten, Liebesdreiecke, Romanzen und tragischen Verwicklungen rund um Zeitreisen und Doppelgänger sowohl Seifenoper- als auch Sitcom-Elemente auf. Es sind willkommene Zwischenspiele inmitten des Getöses.

Aufgebaut sind die Folgen in klassischer Manier: zwei größere Actionsequenzen pro Episode, die meist um den Villain of the Week herum gebaut ist. Obwohl die Marvel Animation Studios dem neonbunten Zeichen- und Animationsstil der damaligen Serie treu bleiben (unter Verwendung von 3D-Animationen, die zweidimensional aussehen), sind die Actionnummern natürlich aufwendiger und fließender gestaltet als früher, auch sind sie nicht mehr zuallererst an Kinder gerichtet, das heißt: in Teilen durchaus drastischer. Mehr als einen vorsichtigen Schritt weg von der angestammten Ästhetik traut sich die Produktion allerdings nie zu, was neue, jüngere Zuschauergruppen verschrecken könnte – vielleicht aber auch als Abwechselung zu den heutzutage üblichen hochgerüsteten Superheldenwelten begrüßt wird.

Shapeshifter, non-binär: Morph gehört ab jetzt zur Kerngruppe der X-Men. Disney+

Als erwartet überflüssig erweist sich derweil das Genörgel und Gemaule im Vorfeld, nachdem ruchbar geworden war, dass sich die Figur Morph in „X-Men ’97“ als non-binär identifiziert – für rechte Kulturkämpfer ein weiterer Beleg dafür, dass sich Disney der dunklen Seite der Macht verschrieben habe: dem „woken“ Zeitgeist. Das ist natürlich schon deshalb absurd, weil Morph als Gestaltwandlerfigur auch in der alten Serie fröhlich zwischen Männer- und Frauenkörpern hin- und hergeswitcht ist (Loki würde nur müde lachen); aber auch deshalb, weil X-Men als Comic-, Serien- und Filmphänomen schon immer jene ins Zentrum gestellt hat, die als „anders“, „fremd“ und „ausgestoßen“ gelabelt wurden. Vielfach wurde die Comicreihe als allegorischer Kommentar auf die Emanzipationsbemühungen von people of color, queeren Menschen und anderen Minderheiten interpretiert, was vor allem auch in der Filmreihe explizit thematisiert worden ist. Insofern beweist der Backlash, der Disney allein wegen der (in den ersten Episoden übrigens nicht thematisierten) Nichtbinarität einer schon immer als genderfluid angelegten Figur entgegenschwappt, höchstens eines sehr gut: wie lärmend der Kulturkampf inzwischen selbst um sinnloseste Dinge tobt.

Dabei ist DeMayo und seinem Animationsteam überhaupt nicht an Zeitgeistanbiederung gelegen, sondern im Gegenteil vor allem daran, stilistisch und strukturell Altbekanntes zu bedienen. Die Serie präsentiert sich als ausgemachte Retro-Veranstaltung, als nostalgisches Innehalten für die Fans von einst und ihre interessierten Nachfolger, man könnte sagen: als ein letzter Throwback-Gottesdienst, bevor im Juli mit „Deadpool & Wolverine“ die lang vorbereitete Eingliederung der X-Men ins Marvel Cinematic Universe erfolgen soll. Manche wird dieser Nostalgie-Overkill nerven, andere aber werden genau dieses Traditionsbewusstsein feiern.

Wie lange die „X-Men ’97“ nun weitermachen können, steht übrigens in den Sternen. DeMayo hat die zweite Staffel zwar schon fertiggeschrieben, wurde aber noch vor Serienstart seines Amtes enthoben. Die Gründe dafür sind noch unklar, an der Qualität dieser überwiegend gelungenen Revitalisierung eines Animationsserienklassikers kann es aber eigentlich nicht liegen.

Meine Wertung: 3,5/​5

Disney+ veröffentlicht die zehnteilige erste Staffel von „X-Men ’97“ ab dem 20. März – zum Auftakt gibt es eine Doppelfolge, danach geht es im wöchentlichen Rhythmus weiter.

Über den Autor

Gian-Philip Andreas hat Kommunikationswissenschaft studiert und viel Zeit auf diversen Theaterbühnen verbracht. Seit 1997 schreibt er für Print und online vor allem über Film, Theater und Musik. Daneben arbeitet er als Sprecher (fürs Fernsehen) und freier Lektor (für Verlage). Für fernsehserien.de rezensiert er seit 2012 Serien. Die seiner Meinung nach beste jemals gedrehte Episode ist Twin Peaks S02E07 („Lonely Souls“) ­- gefolgt von The Sopranos S03E11 („Pine Barrens“), The Simpsons S08E23 („Homer’s Enemy“), Mad Men S04E07 („The Suitcase“), My So-Called Life S01E11 („Life of Brian“) und selbstredend Lindenstraße 507 („Laufpass“).

Lieblingsserien: Twin Peaks, Six Feet Under, Parks and Recreation

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